Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Editorial

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 1-3

Auch im zwanzigsten Jahr der Deutschen Einheit mangelt es nicht an Vorschlägen, wie diese sich noch intensiver gestalten ließe. Sei es eine neue Verfassung, wie sie der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering jüngst ins Spiel brachte, sei es eine Kombination der Nationalhymnen der beiden früheren Teile Deutschlands, wie sie der Journalist Heribert Prantl anregte. „Auferstanden aus Ruinen, blühe Deutsches Vaterland“. Auch der Vorschlag des Leipziger Pfarrers Führer, den Terminus „Bundesrepublik“ für Deutschland nicht mehr zu verwenden, und das angestrebte Denkmal zur deutschen Einheit dürften in diese Galerie von wohlmeinenden Initiativen passen, denen eines gemein ist: Sie antworten auf ein Bedürfnis, das aktuell nicht mehr artikuliert wird, und sind gesättigt vom schlechten Gewissen, das wenigstens symbolisch festschreiben will, was materiell nicht erreicht wurde.

Zugleich fangen Politiker wie der Mecklenburg-Vorpommersche Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) an, am Unrechtscharakter der Diktatur in der DDR zu zweifeln, ein Zweifel, den man bislang lediglich unter Altkadern der Partei „Die Linke“ beheimatet wusste. Auch diese Äußerungen – immerhin von einem gestandenen Verwaltungsjuristen, der es besser wissen müsste, formuliert – zeugen von einer fortbestehenden Verunsicherung darüber, welchen Wein man der Bevölkerung der ehemaligen DDR über ihr Land einschenken darf, ohne dass er ihr wieder hochkommt. Glaubt man den Umfragen, so hat sich bei ihr ein leicht verklärender Rückblick auf die früheren Verhältnisse breit gemacht, der sich aus dem Verdruss an den bestehenden speist. Er ist schon deshalb ärgerlich, weil er das Grandioseste, was dieses Volk hervorgebracht hat, die friedliche Revolution von 1989, in einem schalen Licht erscheinen lässt. In den posthumen Weichzeichnungen schmilzt sie zur Wende oder, schlimmer noch, zur westdeutschen Landnahme mit basisdemokratischer Ouvertüre. Und die Bürger im Westen scheinen die ganzen Feiern zum Jahrestag eher für eine innere Angelegenheit der früheren Bewohner der DDR zu halten.

Nun ist es nicht unerheblich, welches (Selbst-)Verständnis ein Volk von seinen Epochebrüchen entwickelt. Denn in der Ansicht über die Vergangenheit spiegelt sich die Anerkennung der Gegenwart. In der von Führer gemiedenen BRD hat es vierzig Jahre gedauert, bis aus der „Stunde Null“ der Besatzung der Tag der Befreiung wurde. Wenn man also nicht mit der Chuzpe eines Hans-Ulrich Wehler die DDR zu einer Fußnote der Geschichte erklären und deren Ende folgerichtig zu einer Marginalie degradieren und sich auf diese Weise dem Problem der gesellschaftlichen Selbstdeutung entziehen will, ist es durchaus sinnvoll, den zwanzigsten Jahrestag von 1989 zu einer Auseinandersetzung darüber zu nutzen, welchen Charakter die damaligen Ereignisse hatten und welchen Wirkung sie entfalteten. Dem will sich die vorliegende Ausgabe der vorgänge widmen.

Ilko-Sascha Kowalczuk verteidigt den Begriff der friedlichen Revolution als die einzig angemessene Klassifizierung der Ereignisse des Herbstes 1989.

Erhart Neubert untersucht, welche Erkenntnisgewinne sich aus totalitarismustheoretischer Perspektive über die DDR gewinnen lassen, ohne dass man gleich zur Gleichsetzung mit dem NS-Regime gelangen muss.

Bernd Faulenbach ordnet die friedliche Revolution in die Freiheitsbewegung Deutschlands ein und räumt diesen Elementen einer positiven Erinnerungskultur einen eigenen Platz neben dem dominierenden „negativen Gedächtnis“ der Deutschen ein.

Stefan Wolle weist nach, dass die Gegenüberstellung des Unrechts-Charakters des DDR-Regimes und einer positiv konnotierten Alltagserfahrung sich angesichts der diktatorischen Durchsetzung dieses Alltags nicht aufrechterhalten lässt.

Lothar Probst ist den Spuren nachgegangen, welche die Bürgerbewegung in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hat – mit einem ernüchternden Ergebnis: Das hohe Lied der Zivilgesellschaft ist verstummt.

Marcus Hawel unterzieht Jürgen Habermas` Betrachtungen über die nachholende Revolution einer kritischen Nachbetrachtung und erkennt in der aktuellen Finanzkrise eine Herausforderung, in der die damals entwickelten bürgerrechtlichen Tugenden wieder, und diesmal gesamtdeutsch, gefragt sein könnten.

Hans Misselwitz setzt 1989 in Beziehung zu 1945 und vor allem zu 1968 und weitet den Blick auf die globale Bedeutung des Datums und die Veränderungen des politischen Denkens, die mit ihm einhergingen.

Wolfgang Templin unterwirft die verschiedenen Sichtweisen auf die DDR und die friedliche Revolution einer kritischen Würdigung. Der Umgang mit dieser Geschichte gibt Aufschluss über die normative Glaubwürdigkeit der verschiedenen Autoren.

Dieter Segert würdigt den Beitrag der innerparteilichen Opposition in der SED zum Umbruch im Herbst 1989. Es ist die Geschichte eines verspäteten Aufbegehrens, das die Gelegenheit zur offensiven Kooperation mit der Bürgerbewegung verpasste.

Gabriele Camphausen macht beim Umgang von Jugendlichen mit der DDR Wissensdefizite der Schüler, Lücken in der Lehrerausbildung und unzureichende Schulbücher aus. Zugleich mehren sich aber die Anstrengungen, die Mängel zu beseitigen.

In seinem Essay entwirft Holger Rogall die Elemente einer neuen, nachhaltigen Ökonomie, die sich von ihrer Marktzentrierung löst und den Markt in die gesellschaftliche Kooperation einbettet.

Charles A. von Denkowski antwortet auf Christian Raths Kritik der Bürgerrechtsbewegung aus dem letzten Heft der vorgänge. Dessen Vorwurf des Alarmismus hält er entgegen, dass das harsche Urteil über Sicherheitsmaßnahmen des Staates in der Sache berechtigt ist und ein schriller Ton für die notwendige Aufmerksamkeit sorgt.

Franz Eder sieht im Einsatz von Bundestrojanern einen ermittlungstechnischen Vorteil gegenüber den herkömmlichen Methoden, der jedoch von den Observierten leicht ausgehebelt werden kann.

Eike Hennig ist den Wählerwanderungen bei den Wahlen in Hessen nachgegangen. Vor allem in den großen Städten scheint sich die Zeit der Volksparteien dem Ende zu nähern.

Eine vom Redakteur verfasste Rezension der Biografie des Grundgesetzes von Christian Bommarius schließt diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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