Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Die Revolution von 1989.

Warum es vielen so schwer fällt, von ihr zu sprechen*,

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 4-13

In der DDR herrschte jahrelang gesellschaftlicher Stillstand und ab Herbst 1989 brachen sich die Ereignisse nur noch auf der Überholspur ihre Bahn – so haben es viele Menschen damals wahrgenommen. Dabei hatten sich seit Jahren die Probleme angehäuft und fast jedem war klar, so kann es nicht weitergehen. Der Vereinigungsprozess türmte dann neue Probleme auf, die niemand vorhersah und vorhersehen konnte. Aber: Die oft als „Kosten der Einheit“ apostrophierten Milliarden und sozialen Entwicklungen sind keine „Kosten der Einheit“, sondern Folge der kommunistischen Diktatur. Rückwärts gewandte Propheten gibt es viele, zuverlässige Zukunftsprognosen dagegen wenige. Deutschland, Europa und die Welt haben sich seither kräftig verändert, nicht zuletzt wegen der europäischen Revolution von 1989/90.[1] Diese Veränderungen führten dazu, dass die Ereignisse umstritten blieben. Seit 1989 wird mit „1989“ Geschichtspolitik betrieben.[2] Das war unausweichlich. Aber das ist auch nicht neu. Ganz im Gegenteil, historische Selbstvergewisserung gehörte schon immer zur Politik dazu. Allein die kunstvolle Erfindung „objektiver“ Geschichtserkenntnisse, „objektiver“ Geschichtsdarstellungen erklärt die verbreitete Abneigung, hinzunehmen, dass historische Betrachtungen nicht nur gegenwarts- und standortgebunden, sondern auch gegenwarts- und zukunftsorientiert sind. Der Umgang mit „1989“ ist dafür zwar nur ein Beispiel, aber ein besonders einprägsames. Stellten die Ereignisse wirklich eine Revolution dar? Und warum existiert ein so großer Widerwillen gegen diese Einschätzung in Deutschland?

Der ersten Frage kann man sich auf zwei Wegen nähern. Einerseits befragt man zeitgenössische Dokumente von 1989/90. Dann wird man feststellen, dass die Bezeichnung „Revolution“ für die Vorgänge fast selbstverständlich war. Sie konkurrierte zwar stets mit „Umbruch“, „Wende“, „Zusammenbruch“, „Erosion“, „Scheitern“, „Implosion“ oder „Untergang“, aber 1989/90 schlossen sich diese Begriffe noch nicht gegenseitig aus. Das erscheint logisch, weil Revolutionen die anderen Prozesse, die diese Begriffe umschreiben, mit einschließen. Von einer Revolution sprachen die Menschen aus unterschiedlichen Gründen und mit sehr unterschiedlichen Erwartungen, aber dass es sich um eine solche handelte, war 1989/90 weithin unumstritten. Selbst jene Kommunisten, die damals von „Konterrevolution“ sprachen, bestätigten damit den Revolutionscharakter der Ereignisse. Die Selbsteinschätzung von Akteuren und Zeitzeugen ist bei einer Charakterisierung historischer Ereignisse allerdings nur von sehr untergeordneter Bedeutung.

Deshalb muss man andererseits versuchen, einen systematischen Weg einzuschlagen. Das Problematische des Revolutionsbegriffs beginnt bereits bei dem Umstand, dass er keine hinreichend akzeptierte Definition kennt. Ralf Dahrendorfs Feststellung von 1961, dass es „an einer historisch einigermaßen bewährten, soziologisch durchdachten Theorie“[3] von Revolutionen und an einem stichhaltigen Begriff ermangele, ist immer noch gültig. Unabhängig von diesem Umstand lassen sich Bedingungen und Erscheinungsformen feststellen, die eine Revolution charakterisieren. So bedeutet eine politische Revolution „eine grundlegende Umgestaltung der politischen Institutionen mit einem Austausch der Eliten (…) Die statt eines allmählichen Übergangs vergleichsweise abrupte Veränderung kann friedlich oder gewaltsam erfolgen. Zum Erfolg ist ab einem bestimmten Stadium eine breite Bevölkerungskoalition nötig.“[4] Zu den Voraussetzungen von Revolutionen zählen: „(1) soziale: relativ hohe soziale Dynamik bei gleichzeitiger sozialer Ungleichheit hinsichtlich der Chancen, aufgrund von Leistungen in die privilegierten Schichten aufsteigen zu können (…); (2) politische: Nichtvorhandensein ausreichender Möglichkeiten und Instrumentarien zur Steuerung der aufkommenden Krisenerscheinungen; (3) ökonomische: starre Monopolstellung einer dünnen Oberschicht hinsichtlich der Verfügungsmöglichkeit über Grundeigentum und Produktionsmittel; Ausschluss der produktiven Klassen vom gerechten Anteil am Sozialprodukt (…)“[5] Diese Voraussetzungen konstituieren eine revolutionäre Situation, die vom Legitimitätsverlust der Herrschenden ebenso gekennzeichnet ist wie vom Vorhandensein potentieller Trägerschichten, einem sich entwickelndem Unrechtsbewusstsein in der Gesellschaft von der Situation, einer drastischen Verschlechterung der allgemeinen Lage und einer sichtbaren Unsicherheit der Herrschenden.

Die konkreten Abläufe von Revolutionen unterscheiden sich erheblich voneinander.[6] Unruhen, Proteste, Demonstrationen und Streiks stoßen auf die Unfähigkeit der Herrschenden, der Krise zu begegnen. Diese weigern sich zudem, ihre Privilegien einzuschränken und die Partizipationsmöglichkeiten für die Gesellschaft zu erweitern, was zur Eroberung und Zerstörung von Regierungs- und Herrschaftsinstitutionen durch die Revolutionäre führt. Wenn man sich die historische Entwicklung 1989/90 vergegenwärtigt, dann ähneln deren Voraussetzungen, Bedingungen und Abläufe diesen allgemeinsten Aussagen über Revolutionen frappierend.

Kurt Lenk fasste Revolutionsziele auf der Grundlage der vielschichtigen Revolutionsforschungen in vier Punkten zusammen: „(1) Auflösung der Klassen und politischen Kräfte, die die Führung bisher innehatten sowie gründlicher Wechsel in der Zusammensetzung der herrschenden Schichten durch systematischen Abbau der Privilegien der alten Oberschichten; (2) Aufhebung der überkommenen Herrschafts- und Autoritätsverhältnisse zu Gunsten der Unterprivilegierten; (3) totaler Umbau der politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Struktur; (4) Herstellung einer neuen Verfassungsordnung und eines neuen Rechtssystems zur Stabilisierung der erreichten revolutionären Ziele.“[7]

Werden diese Revolutionsziele mit den Forderungen und Ergebnissen von 1989/90 verglichen, dann ergibt sich nicht nur eine deutliche Kongruenz, zugleich wird auch verständlich, warum „1989“ in der DDR weder einer besonderen geistesgeschichtlichen Vorarbeit noch einer speziellen intellektuellen Führungsschicht bedurfte. Denn die „neuen Revolutionen“, wie sie 1989/90 im kommunistischen Machtbereich stattfanden, benötigten weder einen „universalistischen Fortschrittsanspruch“ noch eine „philosophische Fundierung“.[8] Sie erstrebten nicht etwas prinzipiell Neues – wie etwa Revolutionen im 19. Jahrhundert -, sondern wollten Offene Gesellschaften, wie sie in westlichen Demokratien zu existieren schienen. Hannah Arendt beobachtete 1956, die ungarische (gescheiterte) Revolution sei weder vorbereitet worden noch wäre jemand auf sie vorbereitet gewesen. Entscheidend bei Revolutionen sei der Wille zur Freiheit.[9] Deshalb benötigte „1989“ zwar Mobilisierungseliten in Form von Bürgerbewegungen, aber keine charismatischen Führungseliten. Einige Ziele der Revolution waren unumstritten, aber nicht die Wege und die staatliche Form. Denn selbst die Einheitsgegner bis in die SED/PDS hinein orientierten sich in ihrer Suche nach „dritten Wegen“ an den verfassungsrechtlichen, juristischen, kulturellen und politischen Strukturen der Bundesrepublik. Die größten Differenzen gab es bei eigentumsrechtlichen Überlegungen, nicht bei der sozialen Marktwirtschaft.

1989/90 war in dieser Perspektive eine utopiefreie Revolution. Entscheidend war, dass trotz Seilschaften, MfS-Verstrickungen und vieler anderer Verwerfungen, die nach 1989 sichtbar wurden und den ostdeutschen Demokratisierungs- und gesamtdeutschen Einigungsprozess belasteten, das SED-System beseitigt wurde. Es brach nicht von allein zusammen. Dass es vieler Bedingungen für den Revolutionsausbruch bedurfte, ist in einer historischen Perspektive selbstverständlich. Und dass sich die Revolution in einem Entwicklungsprozess selbst aufbaute, ist es ebenso.[10]

Crane Brinton hat in seiner klassischen Studie über den Verlauf von vier großen Revolutionen eine Regelmäßigkeit als „kristallklar“ herausgestellt: „Alle vier Revolutionen begannen bei Menschen, die gegen gewisse Steuern waren, sich zum Protest gegen diese organisierten und schließlich einen Punkt erreichten, wo sie für die Beseitigung der bestehenden Regierung agierten. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Steuergegner eine radikale Revolution wünschten oder voraussahen. Es bedeutet, dass der Übergang vom Reden über notwendige Veränderungen (…) zu konkreten Aktionen unter dem Anreiz unpopulärer Steuern erfolgte.“[11] „1989“ als Massenbewegung begann genau nach diesem Schema. Die Revolution besaß ihre Ausgangspunkte in vielen solcher Ungerechtigkeiten. „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“[12] Der Griff nach der Notbremse glückte 1989/90. Dass dabei die Ereignisse typische Ungleichzeitigkeiten aufwiesen, steht als empirischer Befund einer Charakterisierung als Revolution nicht entgegen.

Wenn sich nun zusammenfassen lässt: die alte Ordnung war handlungsunfähig, delegitimiert und moralisch kompromittiert; die von ihr vertretenen Werte und Überzeugungen zerschlissen; Bürger- und Massenbewegungen stellten sich ihr entgegen und forderten neue politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Strukturen; eine neue Ordnung wurde errichtet; innerhalb weniger Monate beseitigte die Bewegung alte Strukturen, Werte, Ideen, Kulturen und Herrschaftseliten, fast nichts war im öffentlichen Raum mehr wie zuvor, was spricht dann gegen die Bezeichnung als Revolution? Eigentlich nichts. Außer Otto Schilys Banane.

Am Wahlabend des 18. März 1990 drängelte sich auch Otto Schily, Gründungsmitglied der Grünen und gerade SPD-Mitglied geworden, vor die Kameras. In unnachahmlicher Pose kommentierte das politische Chamäleon den Ausgang der demokratischen Wahlen. Befragt, wie er die Volkskammerwahlen einschätze, zauberte er aus seinem „Zwirn“, für den ein DDR-Durchschnittsverdiener schätzungsweise ein Jahresgehalt hätte hinblättern müssen, eine Banane hervor und hielt sie grinsend vor die Kameras. Auf der DDR-Seite existierten ähnliche antidemokratische Verleumdungen des Wahlergebnisses. Stefan Heym war nur die Speerspitze all jener ostdeutschen Intellektuellen, die sich seit Jahr und Tag in den Läden des Westens bedienen konnten und nun all jene verunglimpften, die das auch endlich wollten.

Die Einwände und Vorbehalte gegen die Verwendung des Revolutionsbegriffs umfassen mehrere Ebenen, wobei gerade die Vielschichtigkeit zeigt, dass die Ablehnung des Begriffs weder auf eine bestimmte politische Haltung noch eine spezielle wissenschaftliche Methode, weder auf die regionale Herkunft noch ein spezifisches Sozialisationsmuster hindeutet, sondern sich durch die gesamte Gesellschaft hindurch zieht.

Schilys Banane symbolisiert, die Menschen hätten nichts weiter gewollt, als an den Segnungen der westlichen Konsumwelt teilhaben zu wollen. Das ist richtig, aber nur wenn man zugleich betont, was sie nicht mehr haben wollten, nämlich das politische, ökonomische und gesellschaftliche System, das ihnen die „Banane“ nicht bieten konnte. Schilys „Banane“ unterdrückt symbolisch, dass und wie die Menschen erzwangen, an „Bananen“ ungehindert heranzukommen.

Oft wird eingewandt, die Revolution sei nicht zu Ende geführt worden. Das alte System zerschellte zwar, das leugnet kaum jemand, aber die Revolutionäre selbst wollten andere Ergebnisse als sie erreichten. Das ist ein sehr beliebtes Argument in Ost wie West. Dahinter steht eine Utopiesehnsucht, die allerdings verkennt, dass die absolute Mehrheit der Menschen nach der Überwindung des Systems, das von seinen Betreibern selbst als utopische Gesellschaft gepriesen wurde, keinen Sinn für neue Utopien hatte.[13] Das überließen sie nachwachsenden Generationen, sie sehnten sich nach einer historischen Erholungspause, um in ihrem Leben auch mal ohne Gesellschaftsexperimente mit grausamen Folgen entspannen zu können. Die Rede von der „abgebrochenen Revolution“ beinhaltet im Kern die Bereitschaft für eine neue Diktatur und die Enttäuschung darüber, dass die eigenen Ideen nicht zur Mehrheitsidee gerieten. Zugleich steckt in dieser Enttäuschung eine unverhohlene Arroganz. Das eigene politische Handeln wird aus den historischen Kontexten gerissen. Manch mutiger Akteur der neuen Bewegung, manch einfallsreicher Redner auf einer Demonstration, manch beherzter Besetzer einer Machtzentrale glaubt heute nicht nur, Erbverwalter der Revolution zu sein, sondern auch, dass er die Bedingungen für sein persönliches Engagement allein geschaffen habe. Die SED-Führung war nicht am Ende, weil sich das oder jenes zutrug, weil dieses oder jenes gesagt wurde, die oder die Vereinigung gebildet wurde, sondern weil dies alles – wie im klassischen Revolutionsverlauf – zusammentraf mit einer breiten gesellschaftlichen Resonanz, einer großen gesellschaftlichen Handlungsbereitschaft – und sei es das Wagnis einer Flucht auf sich zu nehmen – und neuen Handlungsspielräumen, die sich für die SED im gleichen Maße verringerten. Mit anderen Worten, zur Revolution gehört meist auch dazu, dass sie die Männer und Frauen der ersten Handlungsphase wieder entlässt.

In Deutschland bestand eine besondere Situation, weil sich von Anfang an die Frage stellte, „Einheit durch Freiheit“ oder „Freiheit durch Einheit“. Historisch scheint das erste geschehen zu sein, symbolisiert mit den ersten freien Wahlen vom 18. März 1990. Man könnte aber ebenso behaupten, der Mauerfall am 9. November 1989 habe die zweite Alternative zum historischen Fakt erhoben. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Der Mauerfall war keine eigenständige Entscheidung der SED-Führung, sondern eine gesellschaftlich erzwungene. Wer die lange Vorgeschichte des Mauerfalls ausblendet oder gering achtet, kommt schnell zu dem Schluss, „1989/90“ sei das Ergebnis von Regierungshandeln in Ost wie West. Hinzu kommt ein Umstand, der grotesk ist: den Bürgerbewegungen wird oft angelastet, was ihnen in dieser Einseitigkeit gar nicht angelastet werden kann, dass sie nämlich gegen die deutsche Einheit gewesen seien. Es ging um das „wie“, nicht um das „ob“. Eines muss dabei betont werden: die größten Widerstände gegen die Einheit kamen vor dem 3. Oktober 1990 aus der Bundesrepublik, nicht aus der DDR! In dieser Phase war es ein historisches Glück, einen Mann wie Helmut Kohl zum Kanzler zu haben. Die Idee von der Einheit war in der alten bundesdeutschen Gesellschaft und bei vielen ihrer Meinungsführer vor 1989 mehrheitlich längst verabschiedet worden.

Auch „Revolutionsromantiker“ stören sich oft an der Verwendung des Revolutionsbegriffes für „1989“. Revolutionen werden ganz oft Bedeutungen, Inhalte und Zuschreibungen zugeordnet, die viele für selbstverständlich halten, es historisch aber nicht sind. Die berühmteste lautet, ohne Blut, Rache und Opfer könne sich keine Revolution verwirklichen, weil dies bedeuten würde, dass die Machthaber zur Machtaufgabe bereit gewesen wären oder diese von sich aus abgegeben hätten. Das Argument übersieht jedoch die konkreten historischen Kontexte. Die Revolutionen gegen den Kommunismus sind dafür ein gutes Beispiel. Wegen des extremen Zentralismus und des Kadavergehorsams in den kommunistischen Herrschaftsapparaten sowie der Eingebundenheit der nationalen Systeme in das Moskauer Imperium konnten diese ohne eine neue oder klare Befehlslage nur so weitermachen wie gewohnt und nicht offensiv reagieren. In der DDR ahnte das 1989 kaum jemand, weshalb das Credo „Keine Gewalt“ – das eine Reaktion auf staatliche Gewalt darstellte – vor allem dem Selbstschutz der Demonstranten galt. Zur „Revolutionsromantik“ gehört auch der Glaube, die erste Phase der Revolution bestimme darüber, was aus ihr werden solle und wer künftig die Geschicke des Landes zu bestimmen habe. Dahinter verbergen sich die Abwesenheit von Rechtsprinzipien und die Sehnsucht nach Anarchie und basisdemokratischen Strukturmodellen. Solche Erscheinungen hat es ja 1990 konkret gegeben, auch noch nach den Wahlen, umso bitterer war die Enttäuschung bei „Revolutionsromantikern“, als später nach der Rechtmäßigkeit gefragt und auf dieser beharrt wurde. Zur „Revolutionsromantik“ gehört ferner eine tiefe Skepsis gegenüber dem Staat, nicht allein gegenüber dem überwundenen, sondern gegenüber jeglichem Staat (sofern man diesen nicht selbst in der Hand hat). Auch demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, die keinen basisdemokratischen Rätemodellen entsprechen, lehnen „Revolutionsromantiker“ meistens ab. Schließlich gehört zur „Revolutionsromantik“ der Glaube, eine Revolution löse alle Probleme und schaffe keine neuen. „Revolutionsromantiker“ verwechseln meist soziale Gerechtigkeit mit sozialer Gleichheit. Sie können nicht akzeptieren, dass es soziale Gleichheit in einer Offenen Gesellschaft nicht geben kann. Völlig verständnislos stehen sie Theorien gegenüber, die soziale Ungleichheiten als gesellschaftliche Entwicklungsmotoren auffassen. Das hat zwar im Kern auch Marx so gesehen, nur leiten sie daraus mit ihm ab, das könnte in ihren Gesellschaftsmodellen aufgehoben werden und in soziale Gleichheit überführt werden. Wenn sich dagegen soziale Ungleichheiten durch einen Umbruch sogar verschärfen, so wie nach 1989, kann es sich in dieser Sicht nicht um eine Revolution gehandelt haben.

Die Sehnsucht nach Arkadien beinhaltet allerdings nicht nur die soziale Komponente. Denn dahinter stehen auch gegen die individuelle und gesellschaftliche Freiheit gerichtete Annahmen. Der Revolutionsbegriff stößt daher bei all jenen auf Vorbehalte oder Ablehnung, die den Willen zur Freiheit für eine Revolution nicht als konstitutiv anerkennen, die das SED-Regime nicht als ein extrem unfreiheitliches ansehen und die nicht akzeptieren können, dass der Freiheitswille 1989 der entscheidende Schlüssel für die Herausbildung der Bürgerbewegungen, für die Massenflucht und für die Massendemonstrationen war. Zugleich wird der Revolutionsbegriff von jenen entwertet oder abgelehnt, die behaupten, die SED habe einen Beitrag geleistet, der über reaktives Verhalten hinausging.

In der öffentlichen Wahrnehmung und Darstellung der Ereignisse werden diese ganzüberwiegend als staatliches Handeln, zumal der Bundesregierung, gezeichnet. Überlagert werden die Ereignisse zudem von der Wiedervereinigung, über deren Ausgestaltung, nicht jedoch über das Tempo, in der Tat in Bonn entschieden wurde. Aber nicht nur das: seit Anfang der neunziger Jahre dominieren in der Öffentlichkeit Betrachtungsmuster, die nach Gutsherrenmanier befinden, dass die Bürgerrechtler zwar wirklich mutig waren, zum politischen Handeln sich aber leider unfähig zeigten. In unzähligen Publikationen und öffentlichen Veranstaltungen werden die Männer und Frauen der Bürgerbewegung als „mutig“, „moralisch sauber“, „menschlich angenehm“ geschildert und gezeichnet, zugleich aber schwingt dabei immer eine Abwertung mit. Das hängt damit zusammen, dass nach 1990 in die Ost-Bundesländer nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Strukturen und Rechtssysteme überführt wurden, was gewollt war, sondern auch kulturelle Praktiken, die einen Anpassungsdruck in Ostdeutschland erzeugten, der bald Widerwillen und Ablehnung produzierte. So hat die bundesdeutsche etablierte Historiographie bis zum heutigen Tag die erste erfolgreiche deutsche Revolution nicht als ihr Thema entdeckt.[14] Auch sie trug so dazu bei, dass über die DDR und die Revolution ein erschreckendes Unwissen grassiert. Denn wenn künftige Geschichtslehrer an den Universitäten kaum Möglichkeiten haben, sich mit der DDR-Geschichte auseinander zu setzen, so schlägt sich dies später auch in ihrem Beruf nieder.[15] Alle entsprechenden aktuellen Erhebungen liefern bestürzende Resultate davon, was Jugendliche in Ost wie West heute über die DDR und speziell über „1989“ wissen, besser: nicht wissen.[16] Die DDR-Revolution als Teil der deutschen und europäischen Erinnerungskultur gibt es bislang nur in Sonntagsreden.

Es dominiert nämlich bei der Betrachtung von „1989“ noch immer die Annahme, mit Gorbatschow habe alles begonnen und ihm sei alles zu verdanken. Tatsächlich war Gorbatschows Machtübernahme bereits das Ergebnis einer tiefen Krise einerseits und einer gesellschaftlichen Widerstandsbewegung andererseits, die ihren Beginn in Polen nahm. Die DDR kam erst spät dazu, weshalb das Entwicklungstempo ungleich höher ausfiel als in Polen oder Ungarn. Deshalb fand dort, wie Timothy Garton Ash formulierte, auch eher eine Revolution statt, also eine Mischung aus Reform und Revolution.[17] In der DDR und CSSR hingegen brachen Revolutionen gerade deswegen aus, weil die Machthabenden erst zu verhandeln begannen, als es für sie zu spät war. Die DDR Revolution ist ohne den internationalen Zusammenhang nicht zu erklären,[18] aber er schränkt auch wiederum, wie oft behauptet wird, die Möglichkeit, die Vorgänge als Revolution zu bezeichnen, nicht ein. Gorbatschow gehört zu diesen internationalen Zusammenhängen, auch die besondere Rolle Moskaus als Garantiemacht und Vormund für die DDR. Wer die 1848er Revolutionen, die russische Februarrevolution und den bolschewistischen Putsch 1917 oder die deutsche Novemberrevolution von 1918 ohne die offenkundigen internationalen Zusammenhänge erklären wollte, würde auch nicht weit kommen.

Nicht unausgesprochen darf bleiben, dass viele, die sich wortgewaltig und meinungsführerstark gegen die Verwendung des Revolutionsbegriffs aussprechen, von den historischen Vorgängen oft keine empirisch abgesicherten Kenntnisse haben. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass im Feld der Zeitgeschichte fast jeder zu wissen glaubt, was er (meist im Fernsehen) gesehen haben will. Das fängt schon bei der beliebten Behauptung an, die Charta 77 habe in der CSSR eine weitaus größere, gesellschaftlich sichtbarere Rolle gespielt als die Opposition in der DDR. Die Charta 77 hatte viele Prominente, das stimmt, aber ihre gesellschaftliche Wirkung war vor 1989 nicht größer oder kleiner als etwa die der IFM in der DDR. Die Einschätzung der Vorgänge in der DDR leidet zudem daran, dass sie für 1989/90 meist auf Ost-Berlin und Leipzig, auf das „Neue Forum“ sowie wenige prominent gewordene Köpfe orientiert blieb. Zugleich wird zu wenig berücksichtigt, dass auch die oppositionellen Bewegungen politisch taktierten. Deutlich wird dies etwa am Umgang mit dem Sozialismusbegriff. Das aber lässt sich nicht aus Medienberichten oder veröffentlichten Erklärungen rekonstruieren. Deshalb fällt es auch so leicht, den Mauerfall am 9. November nicht als ein Ziel der Revolution anzusehen, sondern zu behaupten, die „eigentlichen Revolutionäre“ wären zu Gunsten nationaler Zielstellungen verdrängt worden. Und deshalb ist es auch historisch nicht zutreffend, nur die Programme der bekannten Bürgerbewegungen zu den Revolutionszielen zu erklären. Das Verwirrende an dieser Revolution war – die Vorgänge in Plauen etwa stehen exemplarisch dafür -, dass Freiheits- und Einheitsforderungen von Anfang an artikuliert wurden und sich sehr schnell regionale Unterschiede zeigten. Das war damals weder den handelnden Akteuren bewusst, noch fand es in der Medienberichterstattung seinen Niederschlag. Und selbst die Massenforderung nach Reisefreiheit lässt sich interpretieren und fragen, ob es eine DDR mit offenen Grenzen hätte geben können und ob den Menschen das nicht klar war. Historiker sind nicht an die Selbstdeutungen handelnder Akteure und schon gar nicht an die Berichte beobachtender Journalisten gebunden. Hinzu kommt schließlich, dass über den Charakter der Ereignisse ja nicht die Haltung zur deutschen Frage entscheidet, sondern die Frage nach dem weiteren Umgang mit dem SED-System. Und hier waren sich Flüchtlinge, Demonstranten und Bürgerbewegungen einig.

Es gibt auch einen unausgesprochenen „Revolutionsneid“. Man muss schon fragen, wie diejenigen in der Bundesrepublik, die jahrelang von einer Revolution träumten, reagierten als plötzlich vor ihrer Haustür eine stattfand. Sie ignorier(t)en sie einfach oder verhöhn(t)en sie. Joseph Fischer drückte seine Gefühlslage einmal in einer Runde mit Mitgliedern des Bündnis 90 auf bezeichnende Weise aus. Er sagte sinngemäß, wenn „wir“ das gemacht hätten, hätten „wir“ es aber richtig gemacht. „Revolutionsneid“ speist sich auch aus der Angst, die eigene politische Biographie im Westen, die geprägt gewesen sei von Mut, Widerstand und politischer Weitsicht, würde durch 1989/90 entwertet, weil Mut und Widerstand nun ganz andere Zuschreibungen erfuhren. Den Untergang der DDR als Revolution zu bezeichnen, müsste zudem das Eingeständnis enthalten, die kommunistischen Diktaturen schon längst nicht mehr als solche wahrgenommen zu haben. Denn nur wenn es sich um undemokratische, unfreie, diktatorische Staaten handelte, machte eine Revolution historischen Sinn. Deshalb ist es von der Ablehnung des Revolutionsbegriffs oft nur ein kurzer Schritt zur Verharmlosung des politischen Systems der DDR.

Die eingangs beschriebene Selbstverständlichkeit im Osten, die Ereignisse als Revolution zu bezeichnen, ging schließlich schnell und nachhaltig verloren. Vor allem politisch handelnde Akteure aus den Bürgerbewegungen beharren auf dem Begriff, was man freilich auch als Versuch ansehen könnte, die eigene Leistung zu würdigen und der Entwertung durch andere entgegenzutreten. Revolutionen genießen an sich in unserem Land einen guten Ruf, gerade weil es davon so wenige gab. Weil dies wiederum so ist, bezeichnen viele, die sich als Verlierer der Einheit ansehen, die Ereignisse nicht mehr so, weil sich ihre Hoffnungen und Wünsche, unabhängig davon, wie realistisch sie waren, nicht erfüllten. Nach einer „richtigen“ Revolution hätte es ihnen anders ergehen müssen, meinen nicht wenige. Das trifft sich dann wiederum mit anderen Befindlichkeiten. Denn auch viele Intellektuelle und Meinungsführer der alten Bundesrepublik stehen Revolutionen nicht ablehnend gegenüber, ganz im Gegenteil. Sie könnten es sich nicht verzeihen, eine Revolution vor der eigenen Haustür verschlafen zu haben. Deshalb ignorieren sie diese einfach weiter.

Diese verschiedenen Vorbehalte gegen den Revolutionsbegriff greifen oft ineinander über, manche schließen sich auch gegenseitig aus, was keinen Widerspruch darstellt. Denn die Abwehrhaltung hat viele Ursachen und wurzelt nicht nur in einer gesellschaftlichen Gruppe. In den Geschichtsbüchern stehen Revolutionen als markante Fixpunkte historischer Entwicklungen, die zugleich einen langsamen Neuanfang markieren. In der Kultur- und Alltagsgeschichte spiegeln sich historische Zäsuren, wozu erfolgreiche Revolutionen gehören, dagegen meist erst mittel- oder langfristig. Das Leben der Menschen geht irgendwie weiter, persönlich bewahren sie mehr als sie aufgeben. Von Karl Marx stammt ein Bonmot, das im übertragenden Sinne dieses Problem auf den Punkt bringt. Am 24. Januar 1852 schrieb er an seinen Freund Friedrich Engels: „Die Hämorrhoiden haben mich diesmal mehr angegriffen als die französische Revolution.“[19]

Hoffentlich werden sich Forscher und Deuter nachfolgender Generationen wundern, wie schwer es sich die deutsche Gesellschaft und die Historiographie mit der Charakterisierung der Ereignisse 1989/90 als Revolution machte. Revolutionen haben ihren Sinn in der Negation und im Wiederbeginn und in der Suche nach Neuem. Erfolgreiche Revolutionen setzen definitiv ein Ende. Dies aber heißt auch, dass wir unsere schmale Gegenwart nur über unsere zu Geschichte gedeutete Vergangenheit begreifen können, ohne gleichzeitig Wissen über die Zukunft zu besitzen. Fest steht nur, dass die Geschichte immer weitergehen wird, so wie sie auch nie aufgehört hatte, weiterzugehen. Die vielen Endzeitstimmungen in der Geschichte erweisen sich in der Rückschau sogar als Motoren der Geschichtsentwicklung – ein Motor freilich, der den Betroffenen oft nicht nur nicht bewusst war, sondern der ihnen oftmals auch den Kopf abriss. Nicht nur unser Heute ist morgen vergangen. Auch unser Haus verändert sich stetig, nicht immer merken wir das. Deshalb hilft der Außenblick auf das Haus, um den Fortgang der Geschichte nachvollziehen zu können.

* Der Text basiert auf: Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, 602 S., insbes. dem Schlusskapitel.

[1] Zur Bedeutung dieser Chiffre „1989“ siehe: Ralf Dahrendorf: Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak. München 2004; in Auseinandersetzung damit: Ilko-Sascha Kowalczuk: 1989 in Perspektive: Ralf Dahrendorfs Antiutopismus, in: Merkur 59(2005) 1, Nr. 669, S. 65-69.

[2] Ilko-Sascha Kowalczuk: Qualmende Vergangenheit. Zur Debatte um die SED-Diktatur, in: Vorgänge 45(2006) 4, Heft 176, S. 108-125.

[3] Ralf Dahrendorf: Über einige Probleme der soziologischen Theorie der Revolution, in: Urs Jaeggi, Sven Papcke (Hrsg.): Revolution und Theorie I. Materialien zum bürgerlichen Revolutionsverständnis. Frankfurt/M. 1974, S. 169.

[4] Ulrich Weiß: Revolutionen/Revolutionstheorien, in: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze, Suzanne S. Schüttemeyer (Hrsg.): Lexikon der Politik. Band7: Politische Begriffe. München1998, S.563.

[5] Kurt Lenk: Revolution, in: Wolfgang W. Mickel (Hrsg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft. Bonn 1986, S. 446.

[6] Charles Tilly: Die europäischen Revolutionen. München 1993.

[7] Lenk: Revolution, S. 447.

[8] Weiß: Revolutionen/Revolutionstheorien, S. 564.

[9] Hannah Arendt: Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus. München 1958, S. 11-12; Dies.: Über die Revolution. München 1974, S. 184.

[10] Ausführlich dazu: Kowalczuk: Endspiel.

[11] Crane Brinton: Die Revolution und ihre Gesetze. Frankfurt/M. 1959, S. 118-119.

[12] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920 – 1940. Leipzig 1984, S. 168.

[13] Sehr lesenswert: Joachim Fest: Schweigende Wortführer. Überlegungen am Ende des Jahres 1989 (FAZ vom 30.12.1989), in: Ders.: Fremdheit und Nähe. Von der Gegenwart des Gewesenen. Stuttgart 1996, S. 211-219.

[14] Prononciert: Alexander Cammann: 1989 – die ignorierte Revolution, in: Ästhetik & Kommunikation, 34(2003) 122/123, S. 123-129.

[15] In mehreren Erhebungen ist das immer wieder nachgewiesen worden. Als Beispiel siehe etwa: Jens Hüttmann, Ulrich Mählert, Peer Pasternack (Hrsg.): DDR-Geschichte vermitteln. Ansätze und Erfahrungen in Unterricht, Hochschullehre und politischer Bildung. Berlin 2004.

[16] Auch dazu gibt es zahlreiche Erhebungen, siehe etwa: Ulrich Arnswald, Ulrich Bongertmann, Ulrich Mählert (Hrsg.): DDR-Geschichte im Unterricht. Schulbuchanalyse-Schülerbefragung-Modellcurriculum. Berlin 2006; Monika Deutz-Schroeder, Klaus Schroeder: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern ein Ost-West-Vergleich. Stamsried 2008.

[17] Timothy Garton Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas. 1980 1990. München, Wien 1990.

[18] Vgl. György Dalos: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. München 2009.

[19] Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 28, Berlin 1970, S. 12.

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