Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Der verspätete Widerstand

Der Beitrag der Dienstklasse zum friedlichen Ende der Diktatur in der DDR,

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 77-86

Das Jahr 1989 wird bei verschiedenen Gruppen von Menschen sehr unterschiedlich erinnert. Das ist bei einschneidenden historischen Ereignissen nicht ungewöhnlich. Dahinter stehen gegensätzliche Erlebnisse, Gefühle und Biografien, aber auch das Resultat von Geschichtspolitik. Ein Riss geht durch die deutsche Erinnerungslandschaft, nicht nur zwischen West und Ost. Auch innerhalb der beiden Teilgesellschaften existieren kontroverse Geschichtsbilder. Im Folgenden geht es um einen in Vergessenheit geratenen Akteur des Herbstes 1989 in der DDR, der hier als „Dienstklasse“ bezeichnet wird. Warum wurde er vergessen?

Im Beitrag wird zunächst die Offenheit einer geschichtlichen Situation betont, die heute stets als linear und alternativlos erinnert wird. Danach wird erklärt, was hinter jener „Dienstklasse“ steckt und welchen Platz im System der SED-Herrschaft und ihres Wandels sie einnahm. Die Endkrise der DDR wird abschließend dahingehend analysiert, welchen Einfluss eine zum Handeln gekommene „Dienstklasse“ in ihr hatte, wie wichtige Teile dieser sozialen Gruppe sich von der herrschenden Schicht abwandten und eine eigene politische Vision ihres Staates entwickelten. Diese unterlag dann allerdings im Jahr 1990 der Politik konservativer Teile der damaligen westdeutschen Elite. Es handelt sich also um die Geschichte einer Niederlage. Warum sollte man sich daran erinnern?

Der Herbst 1989 als historisch offene Situation

Die Nacht vom 9. zum 10. November 1989 gehört zu den wenigen politischen Ereignissen, zu denen vielen Menschen gleichermaßen bewegende Geschichten einfallen. Der „Mauerfall“ in Berlin ist eines der großen Bilder des 20.Jahrhunderts. Wer ist verantwortlich für dieses unerhörte Ereignis? Inzwischen gibt es viele Antworten, viele Analysen.[1] Jedenfalls war der Mauerfall auch der Beginn vom Ende des zweiten deutschen Staates, das endgültig besiegelt wurde, als die Sowjetunion in den Verhandlungen mit der Bundesrepublik und deren NATO-Verbündeten im Sommer 1990 ihr im letzten Krieg gewonnenes Faustpfand aufgab.

Individuelle Erinnerungen und das Gedächtnis der Gesellschaft sind aber nicht identisch. Der 9. November steht nur dann im Zentrum der Ereignisse, wenn der 3. Oktober 1990 als das eigentliche Ergebnis der friedlichen Revolution gesehen wird.[2] Geschichtsbilder sind immer Produkt von Geschichtspolitik, nie eine bloße natürliche Ablagerung aus vielen individuellen Erinnerungen.

Wenn man nicht vom 3.10.1990 als zentralem Ergebnis des Herbstes 1989 ausgeht, erscheinen andere Daten des Herbstes 1989 als wichtiger, so der 4. November 1989, also der Tag der größten politischen Demonstration der späten DDR in Berlin. Oder aber das Wunder der friedlichen Demonstration am 9. Oktober in Leipzig. Oder aber der 10. September, der Tag der Gründung des „Neuen Forum“. Ausgehend davon, was für ein Ziel der Volksbewegung des Herbstes 1989 unterstellt wird, so ergibt sich mit dem anderen Kontext auch eine jeweils andere Hierarchie von Ereignissen.

Beim Streit um die Interpretation wichtiger Einzeldaten geht es v. a. um Erkenntnis der Alternativstruktur des Herbstes 1989. Die deutsche Einheit war nur eine, anfangs nicht einmal die dominierende Tendenz der Entwicklung der Ereignisse. Aber die Alternative der erneuerten und radikal demokratisierten DDR hätte der Zusammenarbeit der zwei wichtigsten politischen Akteursgruppen der späten DDR bedurft, zwischen Oppositionellen und Reformintelligenz. Diese Zusammenarbeit ist erst zustande gekommen, als sich das Zeitfenster für eine solche Entwicklung schon fast wieder geschlossen hatte.

In der Legitimationskrise der DDR traten vier Akteursgruppen in den Vordergrund: Die Ausreiser, die Angehörigen der Oppositionsgruppen, die Demonstranten in den Städten, schließlich die reformorientierte Intelligenz. Wenn man allerdings den Herbst 1989 nur als Vorhof der deutschen Einheit fasst, so wie im vorherrschenden deutschen Geschichtsbild, dann gerade verschwimmt die Rolle der vierten Akteursgruppe, mehr noch, sie verschwindet aus dem Blick. Stattdessen schieben sich die Ausreiser ganz nach vorne. Danach kommen die Demonstranten, aber deren Parolen verändert sich: anstatt „Wir sind das Volk!“ ertönt der Ruf „Wir sind ein Volk!“ Die Oppositionsgruppen werden in der offiziellen Geschichtserzählung als Helden gewürdigt, allerdings wird verschwiegen, dass sie mehrheitlich gar kein Ende der DDR sondern die Demokratisierung und grundsätzliche Erneuerung dieses Staates wollten.

Die Legiti­ma­ti­ons­krise der SED-Herr­schaft als Voraus­set­zung des Herbstes 1989

Eine Krise der Legitimation setzt das Vorhandensein einer solchen Beziehung zwischen Macht und Bevölkerung voraus. Am Tag des Mauerfalls schien nur noch Dilettantismus oder zumindest Chaos innerhalb der politischen und militärischen Elite der DDR zu herrschen. Aber immerhin blieb diese Diktatur hochgerüstet. Selbst wenn man von mächtigen regionalen Herrschaftsstrukturen absieht, den sowjetischen Soldaten, den Vertretern des sowjetischen KGB und den in der DDR stationierten sowjetischen Atomraketen, war die Bilanz eindrucksvoll. Der Politologe Müller-Enbergs hat akribisch alle Gruppen des umfangreichen Sicherheitspersonals der DDR aufgezählt.[3] Die Frage drängt sich auf, warum unter diesen Bedingungen der Übergang überhaupt friedlich verlief. Diese Gewaltlosigkeit war keine Selbstverständlichkeit sondern erwuchs aus der Abwendung von Teilen der SED-Mitgliedschaft von der Politik der SED-Führung. Wann begann das, was beim Fall der Mauer im Monat November sichtbar wurde? Wann begann das Ende der DDR? Die hier vertretene These lautet: Die Erosion des Machtverhältnisses war daran gebunden, dass eine Mehrheit der „Dienstklasse“ der DDR der SED-Führung ihre Loyalität aufkündigte.

Der Parteistaat in der DDR war (nach dem Begriff von Max Weber) eine „moderne“ Form von Herrschaft, die einer Duldung oder sogar Unterstützung durch die der Herrschaft Unterworfenen (oder durch Teile davon) bedurfte, eine Herrschaftslegitimation.[4] Relevante Teile der Bevölkerung unterstützten über mehrere Jahrzehnte die staatssozialistische Herrschaftsordnung. Die spezifische Legitimation der Herrschaftsordnung des Staatssozialismus in der DDR speiste sich aus mehreren Quellen, vor allem teilten Herrschende und Beherrschte bestimmte Wertorientierungen bezüglich der Herrschaftszwecke.[5] Im vorherrschenden Verständnis gab es in dieser Diktatur Opfer und Täter, Herrscher und Beherrschte. Besser entspricht ihrer Realität der Begriff eines dreigliedrigen Herrschaftsverhältnisses: Die vermittelnde dritte Gruppe wird durch M. Brie als „Dienstklasse“ definiert, als eine Schicht, die Herrschaft sowohl von oben nach unten übersetzt als auch auch Reaktionen und Impulse aus der Bevölkerung an die Elite weiterleitet.[6]

Der Begriff der „Dienstklasse“ ist jedoch weiter zu differenzieren: Es gibt innerhalb jener Dienstklasse die Gruppe, deren Mitglieder unmittelbar in Macht- und Verwaltungsfunktionen eingebunden sind, sowie eine Gruppe, die eher sinnstiftende Funktionen erfüllt. Zu dieser Gruppe gehörten die Ideologieproduzenten und -vermittler, also v.a. Gesellschaftswissenschaftler, Künstler, Journalisten und Lehrerschaft. Im Folgenden soll sich auf jenen sinnproduzierenden und -vermittelnden Teil der „Dienstklasse“ konzentriert werden. Der innere Lernprozess der „Dienstklasse“ ist ein wesentlicher Teil der Geschichte der DDR, der bisher wenig erforscht worden ist. Es wurde nach 1990 sehr viel Arbeit geleistet, um die Geschichte des nichtkommunistischen und antikommunistischen Widerstandes zu untersuchen. Die Herrschaftsgeschichte, vor allem die des Ministeriums für Staatssicherheit wurde aufwändig geschrieben. Aber es blieben wesentliche blinde Flecken. Das gegenüber der Macht loyale Milieu, das hier als „Dienstklasse“ bezeichnet wird, wurde weitgehend ignoriert. Hier steht diese Gruppe im Mittelpunkt der Erzählung.

Die unabge­schlos­sene Formierung der DDR-In­tel­li­genz zur Elite einer Erneuerung der DDR

Zwischen Ende 1988 und Ende 1989 lassen sich folgende vier Hauptphasen der Legitimationskrise unterscheiden: Bis Anfang Mai 1989 kam es zu einer konservativen Offensive der SED-Führung, aber im Ergebnis vertiefte das die Krise. Die zweite Phase reicht bis Mitte September 1989. In ihr wird die Krise der alten DDR einer größeren Zahl von Menschen im Land bewusst. An seinem Ende bildet sich das „Neue Forum“ heraus. Die Flucht Tausender DDR-BürgerInnen über Ungarn und die Prager Botschaft der BRD ist der wesentliche Katalysator dieser Phase. Drittens, der Zeitraum bis Mitte Oktober 1989 wird durch eine neue Aktionsform der Bevölkerung der DDR geprägt, die regelmäßigen ungenehmigten Demonstrationen, vor allem als Montagsdemonstrationen in Leipzig. Abgeschlossen wird diese Phase mit dem Sturz Honeckers am 18. Oktober. Danach entwickelt sich, viertens, eine Phase der politischen Instabilität. Die chaotische Öffnung der Grenze ist das zentrale Ereignis dieser Phase. Am Ende steht der Sonderparteitag der SED, der durch die Parteibasis gegen den Willen der Führung erzwungen wird.

Ich will diesen Prozess in drei Schritten darstellen: Zuerst soll kurz die Wirkung der sowjetischen Perestroika auf die Dienstklasse geschildert werden. Danach werde ich, zweitens, den Beitrag der reformorientierten Intelligenz (der sinnstiftenden Dienstklasse) zur Ausbildung einer kritischen DDR-Öffentlichkeit herausarbeiten. Schließlich, drittens, soll die Eroberung der SED durch eine Mitgliederbewegung beschrieben werden.

Erstens bildete sich im Jahr 1988 zwischen SED-Führung und der intellektuellen Dienstklasse ein Riss heraus, der nicht mehr gekittet werden konnte. Er entwickelte sich angesichts diametral entgegen gesetzter Einschätzungen der sowjetischen Perestroika. Wie sich heute aus damals nicht öffentlichen Meinungsumfragen ablesen lässt, sank die Zustimmung der Bevölkerung zu den Zielen der SED deutlich ab.[7] Während Teile der Mitgliedschaft ihre eigenen kritisch-solidarische Sicht auf den realen Sozialismus in der sowjetischen Politik der Perestroika wieder erkannten, behauptete die Führung der SED, jene Politik sei allein Ausdruck der besonderen sowjetischen Probleme.

In dieser Situation startete die SED-Führung im Herbst 1988 eine konservative Offensive: Am 19. November wurde die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR verboten.[8] Die Proteste, die sich gegen dieses Verbot aus den Reihen der SED erhoben, wurden ignoriert oder sogar per Disziplinarverfahren niedergedrückt. Die Offensive der konservativen Kräfte reduzierte sich allerdings nicht auf Drohungen und Repressionen. Auf der Tagung des Zentralkomitees der SED im Dezember 1988 wurde eine neue zentrale Losung verkündet, die vom „Sozialismus in den Farben der DDR“. Das war ein zweideutiger Begriff: Einerseits war es ein Angebot an national orientierte Bürger mitzumachen. Andererseits wollte die SED-Führung die These untermauern, man benötige keine Perestroika, weil die SED selbst schon immer reformorientiert sei. Insofern setzte man auch kleinere Reformen in Gang, u. a. sollten die für 1989 vorgesehenen Kommunalwahlen demokratisiert werden, zwar nicht durch echte Wahlmöglichkeiten, aber der Bevölkerung sollte mehr Einfluss auf den Prozess der Aufstellung von Kandidaten bekommen.

Besonders die letzte Maßnahme kehrte sich gegen die SED-Führung. Bei der öffentlichen Kandidatenaufstellung wurde durch die Gruppen, die „unter dem Dach der Kirche“ in den 1980er Jahren entstanden waren, versucht, eigene Kandidatenvorschläge einzubringen. Am Wahltag, dem 7. Mai 1989, wurde dann in Großstädten wie Berlin und Leipzig die Auszählung der Stimmabgabe beobachtet und danach gegen den sichtbar werdenden Wahlbetrug protestiert.[9]

Die sinnstiftende Intelligenz betrachtete die konservative Gegenoffensive als Verrat der SED-Führung am sozialistischen Ideal. Damit begann die Abwendung von Teilen der (sinnstiftenden) Dienstklasse von der SED-Führung. Zweitens bildete sich getragen v.a. von bestimmten Gruppen der DDR-Künstler eine eigene kritische Öffentlichkeit heraus, in der sich der Lernprozess innerhalb der „Dienstklasse“ beschleunigen konnte. Immer wieder hatten prominente Künstler und Schriftsteller gegen einzelne politische Schritte der SED-Führung protestiert, so etwa gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976. An der Humboldt-Universität bildete sich ab Ende 1987 ein Netzwerk von Wissenschaftlern heraus, das sich als „Projekt für einen modernen Sozialismus“ konstituierte.

Die Kluft zwischen Dienstklasse und Elite vertiefte sich dann angesichts der Fluchtbewegung des Sommers 1989 und der absurden Reaktionen der SED-Führung darauf, wurde aber noch nicht öffentlich. Schneller als die Dienstklasse war die DDR-Opposition und gründete neue politische Verbände, so das „Neue Forum“. Danach aber solidarisierten sich einige der mit der SED verbundenen Schriftsteller und Musiker damit. Am 14. September erklärte der Berliner Schriftstellerverband seine Sorge angesichts der Fluchtbewegung, unterstützte das neue Forum und kritisierte offen die Position der SED-Führung. Wichtige Rockmusiker („Unterhaltungskünstler“) der DDR stellten sich am 18. September ebenfalls hinter den Aufruf des „Neuen Forums“. Auf Konzerten und während Theateraufführungen wurden die Aufrufe des „Neuen Forum“ und der Unterhaltungskünstler verlesen. Eine interne Information der Staatssicherheit sprach von 30 Tsd. Personen, die bis Anfang Oktober an öffentlichen (d. h. in diesem Falle: nichtkirchlichen) Veranstaltungen teilgenommen hatten, auf denen diese Resolutionen vorgetragen wurden.[10]

Auch zur Demonstrationskultur der späten DDR leistete die intellektuelle Dienstklasse ihren Beitrag. Vor allem kann man das an der zahlenmäßig größten Demonstration der späten DDR vom 4. November 1989 in Berlin ablesen. Sie wurde unmittelbar durch Schauspieler, v.a. der Berliner Theater, organisiert.[11] An dem Tag selbst sprachen auf einem Anhänger eines LKWs vor mindestens 500 Tsd. Berlinern[12] zuerst einige Schauspieler. Dann äußerten sich auch bekannte Schriftsteller, die sich bereits in den Jahren vorher für eine bessere DDR engagiert hatten: Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Christoph Hein. Schließlich kamen drei Vertreter der zu diesem Zeitpunkt noch illegalen oppositionellen Gruppen zu Wort. Marianne Birthler, Jens Reich und Friedrich Schorlemmer.[13] Die Reaktionen der Demonstranten auf die Reden waren je nach politischem Standpunkt natürlich deutlich unterschiedlich. Es gab Beifall oder Pfiffe oder beides gleichzeitig aus verschiedenen Ecken des Platzes. Aber an diesem Tag sah alles noch so aus, als ob wir es in der DDR selbst schaffen würden, Gesellschaft und politische Ordnung eigenverantwortlich umzugestalten.

Schließlich, drittens, einige Fakten zur Basisbewegung innerhalb der SED im Herbst 1989. Ausgangspunkt war auch hier die Sympathie für die Politik Gorbatschows und die Ablehnung der Haltung der SED-Führung dazu. Zunächst gab es in den parteiinternen Versammlungen eine größere Bereitschaft einzelner, Kritik an der Politik unverblümt zu äußern. Die Mehrheit schwieg, aber sie duldete diese Vorstöße.[14] Einzelne Parteimitglieder kündigten ihre Loyalität auf, traten aus der SED aus.

Erst ab Mitte Oktober entstand aus diesen zaghaften Gehversuchen einzelner und einer kleinen Zahl informeller Gruppierungen eine Basisbewegung in der SED. Einerseits wurde die entstandene kritische Öffentlichkeit für die eigenen Initiativen genutzt, andererseits wurden in der SED horizontale Verbindungen aufgebaut. Die SED selbst war eine riesige Organisation mit über 2 Mio. Mitgliedern. Bis dahin war sie hoch zentralisiert und von oben beherrscht worden, von jetzt ab gab es Absprachen zwischen den Basisorganisationen, zunächst innerhalb der eigenen Institution. In der Humboldt-Universität (HUB) setzte das im Oktober ein. Erste Grundorganisationen setzten sich für einen Sonderparteitag ein und auf einer Tagung der SED-Organisation der Universität Ende Oktober wurde eine politische Reform gefordert.[15] Anfang November ergaben sich dann eigene Kontakte zu benachbarten Institutionen, zunächst zur Akademie der Wissenschaften (AdW). Zusammen wurde am 8.11. eine unangemeldete Demonstration von Parteimitgliedern von HUB und AdW vor dem Gebäude der Parteiführung organisiert. Im November kam diese Bewegung noch mehr in Schwung. Unter aktiver Beteiligung des „Sozialismusprojektes“ wurde die „Plattform WF“[16] gegründet, die forderte, die Parteiführung zur Rechenschaft zu ziehen.[17] An diesem Wochenende fanden an vielen Orten mit den Kreisdelegiertenkonferenzen der SED die entscheidenden Wahlen von Delegierten zum Sonderparteitag statt. Der Aufruf der „Plattform WF“, der über den Rundfunk verbreite werden konnte, fand in einer Atmosphäre der Suche nach radikalen Lösungen einen großen Widerhall in der SED-Mitgliedschaft und hat zur Radikalisierung der Vorbereitung des Sonderparteitages beigetragen.

Wenn man sich die Bewegung in der Dienstklasse der DDR in diesen Wochen ansieht, so muss man feststellen, dass es überall – keineswegs nur in Berlin, worauf ich mich ausgehend von meinen eigenen Erinnerungen als damals Agierender konzentriere – zu Abwendung und Kritik kam. Vorher funktionierende Herrschaftsmechanismen der SED-Führung gerieten außer Kontrolle. Die Zusammensetzung der SED-Bezirkssekretariate (der Leitungsgremien der Organisationen der SED auf Grundlage der 15 territorialen Bezirke des Staates) wurde nunmehr auch ohne Konsultation mit dem Politbüro verändert. Kreisleitungen der SED wählten sich neue Führungen.[18] Natürlich war in diesem Prozess der spontane Zerfall von Autorität und bewusster Politik von Reformern unauflöslich miteinander verwoben. Zersetzungserscheinungen gab es auch innerhalb der „bewaffneten Organe“, sowohl in der Armee als auch im Ministerium für Staatssicherheit und seinen Dienststellen.[19]

Ich hatte von einer auf Werten begründeten Beziehung zwischen politischer Elite und DDR-Intelligenz gesprochen, die der Herrschaft der SED eine gewisse Stabilität verlieh, aber auch zu ihrem Wandel beitrug. Sie kam u.a. in dem Projekt eines „besseren Deutschland“ zum Ausdruck. Ganz sicher gehört zu diesem gemeinsamen Wertekanon neben dem Antifaschismus auch die Existenz eines zweiten deutschen Staates als Ergebnis der deutschen Kriegspolitik. Die Aktualität dieser Überzeugung war noch im Herbst 1989 spürbar, als sich Wissenschaftler und Künstler unterschiedlicher politischer Orientierung in dem bekannten Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989 für eine eigenständige DDR aussprachen.[20]

Alle 30 Erstunterzeichner gehören der bezeichneten DDR- „Intelligenz“ an, darunter sind solche prominenten Künstler wie Frank Beyer, Volker Braun, Stefan Heym und Christa Wolf. Unterschrieben haben auch prominente Vertreter der neuen Gruppen wie Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe und Friedrich Schorlemmer. Das Problem war nur, dass zu diesem Zeitpunkt, nach der Öffnung der Grenze, dem Fall der „Mauer“, in der breiteren Bevölkerung bereits eine Umorientierung auf die deutsche Einheit begonnen hatte. Die alten Mythen verloren für die breitere Bevölkerung schneller als für jene Gruppe der „Dienstklasse“ aber auch schneller als für die oppositionellen Intellektuellen ihre Bindewirkung. Die Politik für eine Erneuerung der SED wurde aber erst politisch wirksam, als bereits mit der offenen Grenze, der Verunsicherung der Mehrheit der Bevölkerung der DDR und der Nutzung dieser neuen Situation durch die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland die Chancen auf eine Erneuerung einer eigenständigen DDR deutlich geschwunden waren.

In der Erinnerung an den Herbst 1989 muss es auch um die verpassten Gelegenheiten politischer Gestaltung gehen: Warum kam es so spät zur Zusammenarbeit der beiden auf eine Erneuerung der DDR als eigenständigem Staat gerichteten politischen Gruppierungen? Aus der Sicht des Autors liegt die Verantwortung dafür größtenteils bei den Reformern in der SED- nahen Intelligenz. Sie haben sich zu spät aus ihrer Deckung begeben und dadurch die Öffentlichkeit zu lange über ihre Kritik an der konservativen SED-Führung im Unklaren gelassen (siehe genauer Segert 2008). Im Herbst 1989 kam das „Sozialismusprojekt“ mit dem Vorschlag einer „Regierung der Rettung“ unter Einbeziehung der neuen Gruppen gegenüber der erneuerten SED-Führung nicht durch. (Ebenda, S. 97 ff.) Unsere Verbindung zu den neuen Gruppen war bis zum Herbst kaum über zufällige private Beziehungen hinausgekommen. Erst am „Runden Tisch“ (ab Dezember) ergab sich in einigen zentralen Fragen – etwa bei der Erarbeitung eines Entwurfs für eine neue DDR-Verfassung – eine Zusammenarbeit. Aber damals war das Zeitfenster der Veränderung schon wieder geschlossen. Man könnte auch die zweite Regierung Modrow (ab 5. Februar 1990) als eine Art Zusammenarbeit der beiden politischen Akteursgruppen des Herbstes 1989 verstehen – es gab dort acht Minister ohne Geschäftsbereich aus neuen politischen Gruppen (u.a. Matthias Platzeck, Wolfgang Eppelmann, Sebastian Pflugbeil, Walter Romberg, Wolfgang Ullmann). Aber zu diesem Zeitpunkt waren beide Gruppen gleichermaßen schon sehr weit von der aktuellen Stimmung in der DDR-Bevölkerung entfernt.

Warum sich für diese lange zurück­lie­gende Geschichte inter­es­sie­ren?

Die frühen Wahlen zur Volkskammer am 18. März, das rasante Schwinden der Macht der Reformer in Moskau und der energische Eingriff des konservativen Teils der politischen Klasse der Bundesrepublik für die deutsche Einheit seit Ende des Jahres 1989 entschied die Angelegenheit endgültig. Die wichtigsten beiden Wahllosungen der CDU (der DDR) vom 18. März sind charakteristisch für jene grandiose Vereinfachung, die damals den Wettbewerb um die verunsicherte DDR-Bevölkerung entschieden hat: „Ja, besser leben!“ und „Wir sind ein Volk!“ Von der Bewegung der intellektuellen Dienstklasse wie auch vom Aufbruch der politischen Opposition der DDR blieb im neuen Deutschland des 3. Oktober 1990 zunächst nicht viel.

Warum sich heute mit dieser politischen Niederlage beschäftigen? Vor allem deshalb, weil die jeweils vertretene Sicht auf relevante historische Ereignisse direkte Auswirkungen auf den Gestaltungsraum von heutiger Politik hat. Wer im Herbst 1989 nichts als den Vorhof der deutschen Wiedervereinigung sieht, der kann kaum eine adäquate Kritik an der nachfolgenden Politik der Transformation nicht nur Ostdeutschlands, sondern auch Osteuropas entwickeln. Wenn man die Krise des sowjetischen Staatssozialismus (eingeschlossen die DDR) nicht als historisch offene Situation sieht, dann kann man kaum der These widerstehen, dass es nach 1989 zu einem Ausbruch aus der Sackgasse des Staatssozialismus und der „Rückkehr auf die Magistrale des Fortschritts“[21], die kapitalistische Marktwirtschaft, kam.

Die Erklärung der deutschen Einheit 1990 als einer natürlichen Folge des Weiterbestehens der deutschen Nation über fast 41 Jahre Trennung in Gestalt zweier Staaten macht es schwierig, zu verstehen, warum sich in Deutschland heute, wie Heitmeyer in seiner jüngsten Studie[22] feststellt, zwei Gesellschaften in einem Staat herausgebildet haben.

Noch wichtiger ist aber, dass eine Interpretation der „Wende“ 1989 einzig als Vorhof zur deutschen „Wiedervereinigung“ das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, die sich in der späten DDR zu demokratischer Partizipation und politischer Selbstbestimmung entschieden haben, beschädigt. Wer für eine stabilere Demokratie in Deutschland eintritt, der sollte daran interessiert sein, die öffentliche Erinnerungsblockade gegenüber der Selbstbefreiung der reformorientierten Intelligenz der DDR zu bekämpfen.

[1] Sehr informativ sind die verschiedenen Bücher von Hans-Hermann Hertle zum Thema. Es gibt aber auch schon literarische Satiren, die bekannteste ist die von Thomas Brussig: „Helden wie wir“, Berlin: Volk und Welt 1995.

[2] So geschieht das etwa bei Ehrhard Neubert in seinem jüngsten Buch (2008). Mittlerweile gibt es auch einen Roman, der in jener hegemonialen Deutung wurzelt: es handelt sich um Uwe Tellkamp: „Der Turm“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

[3] Siehe: Müller-Enbergs (1997) -die Zahlen sind auf den Seiten S. 435, 439, 440, 441.

[4] Weber unterscheidet verschiedene Idealtypen von Legitimitätsglauben, siehe: „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland“, hrsg. durch Otto Brunner/Werner Conze/ Werner Koselleck, Band 3, Stuttgart 1982, S. 679.

[5] Vgl. dazu meinen Text „Intelligenz und Macht. Zum Beitrag der intellektuellen Dienstklasse zu Stabilität und Wandel in der DDR“ (Segert 2009).

[6] Der Begriff „Dienstklasse“ wird bei Brie (1996: 42) wie folgt definiert: „die politische und die Funktionselite bzw. Nomenklatura im weiteren Sinne“, die die „Partei in der Partei“ bildete und sich „letztlich freiwillig an die Weisungen der Parteiführung band und deren Umsetzung durch das unmittelbare Kommando über die wesentlichen gesellschaftlichen Ressourcen garantierte.“

[7] Vgl. Förster/Roski 1990, S. 39, 41.

[8] Es ging der SED-Führung v. a. darum, die sowjetische revisionistische Debatte zur Geschichte der KPdSU von der Bevölkerung, nicht zuletzt von der SED-Mitgliedschaft, fernzuhalten.

[9] Es handelte sich um 10 bis 20 Prozent an Gegenstimmen in beobachteten einzelnen großstädtischen Wahllokalen. Auch die Zahl der Nichtwähler war höher als offiziell zugegeben. Die Staatssicherheit wies nicht nur auf die oppositionellen Gruppen hin, sondern auch auf eine gewachsene Zahl von Nichtwählern und Gegenstimmen unter den Studierenden der Kunsthochschule Weißensee wie an der Humboldt-Universität. Siehe Mitter / Wolle 1990, S. 101 f.

[10] Siehe Mitter / Wolle 1990, S. 215.

[11] Der Beschluss dazu wurde auf einer Gewerkschaftsversammlung am 14.10. im „Deutschen Theater“ gefasst (Segert 2008: 105 f.).

[12] Hermann Weber (1993: 106) spricht sogar von „etwa 1 Million Menschen“.

[13] Die damals aufgetretenen Redner lassen sich auf einer Website des Deutschen Historischen Museums finden, zusammen mit anderen Informationen. Siehe: http://dhme.dhm.de/ausstellungen/ 4november1989/htmrede.html [gelesen am 17.02.2009].

[14] In den Materialien eines DFG-Projektes „Der SED-Reformdiskurs der achtziger Jahre“ (Bearbeiter: Erhard Crome, Lutz Kirschner, Rainer Land) gibt es die Abschriften von Berichten aus dem Lehrkörper der Sektion Philosophie an der HUB, in denen man das nachlesen kann. (siehe Bestand Land, Band 4) Die Dokumentation steht im Archiv der RLS in Berlin.

[15] Vgl. dazu Segert 2008, S. 87 ff. Der Antrag auf eine radikale politische Reform wurde durch R. Will und mich eingebracht.

[16] WF ist die Abkürzung für „Werk für Fernsehelektronik“, eines damals existierenden Großbetriebes in Berlin-Oberschöneweide.

[17] Beschrieben ist diese Gruppenbildung ausführlich durch einen der aktivsten Vertreter jener Gruppe, den damals gerade neugewählten Parteisekretär des Rundfunks der DDR, Thomas Falkner, in seinem gemeinsamen Buch mit Gregor Gysi. Vgl. Gysi/ Falkner 1990, S. 60 ff.

[18] Die meisten Ersten Sekretäre der Bezirksleitung (das war die Spitzenposition im SED-Apparat auf der Ebene der DDR-Bezirke) wurden in einem Konflikt mit den eigenen Genossen abgelöst, einige der Positionen (in Dresden, Berlin, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg) wechselten, weil die bisherigen Amtsinhaber in neue Positionen berufen wurden. Es kam in diesen Wochen zu einem Generationswechsel auf dieser SED-Leitungsebene. Genauer ist dieser Prozess beschrieben bei Niemann (2007).

[19] Siehe dazu die sehr genaue und materialreiche Studie von Walter Süß zur DDR-Staatssicherheit im Jahr 1989 (1999: 515 ff., 588 ff. u.a.).

[20] Siehe den Text des Aufrufes: http://www.glasnost.de/hist/ddr/89appell.html [gelesen am 17.02.09]

[21] Siehe dazu die Bilanz, die János Kornai 2006 gezogen hat.

[22] In einem Beitrag in „Die Zeit“ 50/2008 schildert Heitmeyer die in seiner Studie „Deutsche Zustände“, Folge 7, (Heitmeyer 2008) ausführlich veröffentlichen Einschätzungen der Spaltung der deutschen Gesellschaft in zwei verschiedene, sich fremd gegenüberstehende Gesellschaften: „Fast 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer präsentiert sich Deutschland zwar der Welt als staatliche Einheit, aber wir leben nach wie vor in zwei Gesellschaften.“ (http://www.zeit.de/2008/50/Wiedervereinigung?page=all) [gelesen am 17.02.2009]

Literatur

Michael Brie (1996); Staatssozialistische Länder Europas im Vergleich, in Helmut Wiesenthal (Hrsg.): Einheit als Privileg, Frankfurt a. M., S. 39-104.

Thomas Falkner/Gregor Gysi (1990); Sturm aufs Große Haus, Berlin.

Peter Förster/Günter Roski (1990); „DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch 1990“, Berlin.

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) (2008); Deutsche Zustände VII, Frankfurt a. M.

Konrad H. Jarausch (1995); Die unverhoffte Einheit. 1989-1990, Frankfurt a. M.

János Kornai (2006); The great transformation of Central and Eastern Europe. Success and disappointment, in: Economics of Transition 14 (2006) N.2, 207-244.

Armin Mitter/Stefan Wolle (Hrsg.) (1990); „Ich liebe euch doch alle!“ Befehle und Lageberichte des MfS, Januar bis November 1989, Berlin.

Helmut Müller-Enbergs; Garanten äußerer und innerer Sicherheit, in Matthias Judt (Hrsg.); DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien, Alltagszeugnisse, Berlin, S. 431-492.

Mario Niemann (2007);Die Sekretäreder SED-Bezirksleitungen1952 -1989,Paderborn.

Dieter Segert (2008); Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Wien.

Dieter Segert (2009); Intelligenz und Macht – Der Beitrag der intellektuellen Dienstklasse zu Stabilität und Wandel in der DDR, Beitrag für den Band Astrid Lorenz/Werner Reutter (Hrsg.): Ordnung und Wandel als Herausforderungen für Staat und Gesellschaft, Opladen Leverkusen/Ridgebrook 2009, i.E.

Walter Süß (1999); Staatssicherheit am Ende: Warum es den Mächtigen 1989 nicht gelang, eine Revolution zu verhindern, Berlin.

Hermann Weber (1993); Die DDR 1945-1990, München.

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