Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Vom Nutzen drama­ti­sie­render Bürger­rechts­po­litik

Antwort auf Christian Raths „Der Überwachungsstaat – eine bürgerrechtliche Projektion“,

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 106-113

„Die Bürgerrechtsbewegung hat in den letzten zwei Jahren massiv an Einfluss gewonnen. Ihr Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung und die Reform des BKA-Gesetzes wird breit getragen. Doch die Gefährlichkeit dieser Vorhaben wird übertrieben – was negative Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima haben kann. Eine Bewegung, die sich das Motto „Freiheit statt Angst“ gegeben hat, sollte nicht selbst unnötig Angst erzeugen. Ermittlungsmethoden und Organisation der Polizei sind nicht ausschlaggebend für die Liberalität einer Gesellschaft“ (Rath 2008: 79). Mit diesen Zeilen leitete der Journalist Christian Rath in der letzten Ausgabe der vorgänge die Kritik einer seiner Ansicht nach zu sehr dramatisierenden, unnötige Ängste vor u.a. der „überbewerteten“ Reform des Bundeskriminalamtes (BKA) schürenden Bürgerrechtsbewegung ein. Ordnet er die Folgen der Novelle für den Polizei-Föderalismus, für die Schwellen polizeilicher Vorfeldermittlungen, für die Abgrenzung der Gefahrenabwehr vom Ermittlungsverfahren sowie daneben die öffentliche Funktion und den Wert der Bürgerrechtsbewegung zutreffend ein?

I. Die Folgen der BKA-Reform für die Abgrenzung des Straf­pro­zess­rechts von der Gefah­re­n­ab­wehr sowie für den Födera­lismus werden nicht überbe­wer­tet.

Rath behauptet, die derzeit vom Bundesverfassungsgericht überprüfte Reform des BKA, welche dem Amt Befugnisse über heimliche präventive Ermittlungen einräumt, erfahre vom Bürgerrechtslager eine Überbewertung, da keine neuen Strukturen im Amt entstünden (Rath: 2008, 82). Trifft das zu? Mit Roggan, Baum/Schantz sowie dem Ausschuss für Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwalt Vereins (DAV) teilt der Verfasser die Ansicht Rachors, die jener schon vor Jahren für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten allgemein formuliert hat. Danach ist der ungeschriebene Hauptzweck der Novelle (die Ausrichtung der Ermittlungspraxis bestimmter Präventivreferate der Staatsschutzabteilung des BKA auf) bloße Vorsorge für künftige Strafverfolgung (Rachor: 2007, 461; Baum/Schantz: 2008, 137; DAV: 2008, 9; Roggan: 2009, 258). Sie führt einen kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einsetzenden kriminalpolizeilichen Strategiewandel fort. Seine Folge: Eine zu Ungunsten der informationellen Selbstbestimmung getroffene Gewichtung, bei gleichzeitiger Loslösung von den engen Bedingungen individueller Verdachtsmomente, die das Polizeirecht für Datenerhebungen bei Störern fordert (Meyer: 2006, 78).

Der Schwerpunkt kriminalpolizeilicher Vorfeldtätigkeit verschiebt sich von der Abwehr konkreter Gefahren zur bloßen Kriminalitätsrisikovorsorge hin (statt vieler: Middelhoff: 2007, 330). Bereits zu Beginn der 90er Jahre warnte Neumann vor „(…) Preisgabe der Kategorien Gefahr und Störer“, womit die Aufhebung der aus dem Menschenrechtsgrundsatz entwickelten Unschuldsvermutung durch informationelle Vorsorge in Form präventiver Ermittlungen drohe (Neumann: 1993, 50). Diese Gefahr realisiert nun die BKA-Reform: Sie strebt nur auf dem Papier die Verhütung oder Erforschung konkreter Straftaten an.

Woher der Verfasser dieses bewerten mag? Aus teilnehmender Beobachtung als Staatsschützer in den Jahren 2001 bis 2004. Ein Exkurs verdeutlicht den im Jahr nach den Anschlägen in den USA von ihm miterlebten Wandel dieser Fachrichtung der Kriminalpolizei: Schon im Frühjahr 2002 praktizieren die Staatsschutzabeilungen der Länder auf Polizeirecht gestützte sog. „Gefahrenermittlungen“. Diese institutionalisieren sie im Jahresverlauf, steuern dazu Ressourcen und Personal in ihre Staatsschutzabteilungen, um dort präventiv tätige Dienststellen zu errichten (v. Denkowski: 2008, 167). Zwei Jahre später verkündet der damalige Bundesinnenminister Schily das Konzept der „Neuen Intelligence-Arbeit“: Er fordert für erfolgreiche Terrorismusbekämpfung des BKA analog zu den landespolizeigesetzlichen Standardnormen zusätzliche präventive Befugnisse (Schily: 2004, 9). Zu diesem Zeitpunkt nehmen die Länder schon seit zwei Jahren im Rahmen informationeller Vorfeldeingriffe auf der Suche nach konspirativen Zellen bewusst Nicht-Störer in Anspruch: Gehen Hinweise ein, die auch nur im Kontext der Suche nach noch unbekannten terrorbereiten Islamisten oder Unterstützern Erkenntnisse liefern könnten, erfolgen Datenabgleiche. Handelt es sich noch um eine polizeiliche Arbeitsweise? „Gefahrenermittlungen“ sollen zum Erkennen sog. „Gefährder“ führen. Sie setzen unabhängig von einer auch nur teilkonkreten Gefahr das Abklären jedes nicht unseriösen Hinweises voraus. Mit Hilfe spezieller IT-Anwendungen führt diese kriminalistische Puzzlearbeit zumeist ins Blaue, kaum aber in eine noch unbekannte Struktur von Zielpersonen hinein. Auf jeden Fall aber führen „Gefahrenermittlungen“ auf der Suche nach terroristischen Vereinigungen i.S.d. § 129a StGB zwangsläufig zu heimlichen Eingriffen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, wobei auf den Primäreingriff ggf. den Eingriff vertiefende (befristete) Speicherungen von Hinweisen sowie Übermittlungen an andere Stellen erfolgen.

Ihr auf noch unbekannte Strukturverfahren bezogener Vorsorgecharakter löst tagtäglich für strafrechtlich unschuldige und polizeirechtlich als Nicht-Störer zu wertende Grundrechtsträger, die den Gefahrenermittlern des Staatsschutzes lediglich durch Hinweise oder eigene Ermittlungen „auffallen“, erhebliche, da ihnen unbekannte Eingriffe aus. Terroristische Schwerkriminalität soll auf diese Weise schon im Stadium ihrer Vorbereitungshandlungen, noch vor dem strafrechtlich relevanten Versuchsstadium, erkannt und begleitet werden. Sogar Praktiker der Dienste belegen diesen Konturverlust des traditionellen Unterschiedes zwischen Nachrichtendiensten und der Polizei (Adam: 2005, 19).

In der Tat: Die Länder entwickeln seit acht Jahren eigene Mechanismen des nachrichtendienstlichen Analysefeldes „Indication and Warning“. Das BKA zieht nun nach. Und doch deuten Befürworter seiner Reform diese extensive Vorfeldorientierung als in Literatur und Rechtssprechung unter Gefahrenabwehr zu subsumierende und daher zulässige Erforschungsmaßnahmen (so ein Mitarbeiter der Rechtsabteilung des BKA, Thiede: 2008, 541). Natürlich mag das BKA in einigen wenigen Fällen auch wirklich eine unzureichend verdichtete Gefahrenlage auf ihre Relevanz hin erhellen. Doch es kann mit den ihm zugedachten Ermittlungsbefugnissen nun wie die Länder „Gefahrenermittlungen“ betreiben. Und es tut dieses, sobald es Hinweise hat, so unkonkret diese sein mögen: Das ist der Kerngedanke von Schily´s „neuer Intelligence-Arbeit“ der Polizei. Vorfeldarbeit zielt nun final auf die Zerstörung islamistischer Strukturen durch Verurteilungen ihrer Akteure als Mitglieder terroristischer Vereinigungen ab. Das ist die wirkliche Dimension der „Gefahrenermittlungen“, wie sie das BKA-GE zumindest gestattet: Der für politisch motivierte Kriminalität zuständige Bereich der Polizei praktiziert Früherkennung nach Art der Dienste. Acht Jahre nach den Anschlägen in den USA hat sich bei der Suche nach sog. „Gefährdern“ die längerfristige heimliche Bewertung des Verhaltens bestimmter Personengruppen mit dem kriminalpolizeilichen Ziel valider personenorientierter Gefahrenprognosen zum wichtigsten Instrument einer intelligence basierten Risikosteuerung entwickelt: Gefahrenabwehrrecht findet sich zum Risikoverwaltungsrecht überdehnt. Der DAV vertritt des Verfassers Ansicht, wonach nicht anlassbezogene, sondern als kriminalpolizeiliche „Intelligence-Arbeit“ praktizierte Vorfeldermittlungen mit wenigen Ausnahmen, in denen es zu konkreten „Abwehrermittlungen“ bei unmittelbar bevorstehenden Terrorschlägen kommen mag, wegen ihrer engen Sachnähe einen strafprozessualen, auf die Einleitung von Verfahren nach § 129a StGB ausgerichteten Vorsorgecharakter haben (DAV: 2008, 9). Evident ist ein enger Sachzusammenhang zwischen präventiven Ermittlungen und angestrebten Strafverfahren: „Gefahrenermittlungen“ verkörpern u.a. eine Verfolgungsvorsorge, die gemäß Art. 74 Abs. I Nr. 1 GG in die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes fällt (Kutscha: 2006, 83).

Fazit: Das BKA soll in eigener Regie präventive Ermittlungskomplexe behandeln, auf diese Weise Daten und Erkenntnisse erheben, um sie in seine wachsende Wissensbasis aufzunehmen und mit Erkenntnissen anderer Stellen zur Terrorismusfrüherkennung zu verknüpfen. Mit der Zielsetzung, das unter Schily implementierte Konzepte der „Netzwerke gegen den Terror“ fortzuentwickeln, verschleiert die BKA-Reform ihre wahren Auswirkungen auf die Ermittlungspraxis seiner Staatsschutzabteilung.

Zudem mindert sie die Macht zerteilende Wirkung des Polizei-Föderalismus. Kann man das sowie ihre Folgen für das Verhältnis von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung überbewerten? Rath wirft genau das der Bürgerrechtsbewegung vor (2008, 83)? Aber sagen nicht Recht und Organisation der Polizei viel über den Grad freiheitlicher Verfasstheit eines Staates aus? Warnt uns die deutsche Polizeigeschichte nicht vor extensiver politisch-polizeilicher Vorfeldarbeit in Verbindung mit einem institutionellen Zentralismus?

II. Die Liberalität einer Gesell­schaft lässt sich auch an den Eingriffs­be­fug­nissen ihrer Polizei erkennen…

Die Rechtsnormen, welche die Befugnisse der Polizei und der Sicherheitsbehörden regeln, haben eine Doppelfunktion: Zum einen gestatten sie einen an Recht und Gesetz ausgerichteten Vollzug. Zum anderen sind sie Messlatte exekutiver Spielräume: Sie definieren die materiellen Schwellen, z.B. die Anforderungen an den Grad von Verdichtetheit einer Gefahrenlage, für mehr oder minder intensive Eingriffe in die Schutzbereiche der Freiheitsrechte. Die Gestaltung von Eingriffsbefugnissen misst Liberalität, denn sicherheitsbehördliche Instrumente sind keinesfalls nur „neutrale Werkzeuge“ (so aber Rath: 2008, 89). Unerheblich ist dabei, ob sie gegen Minderheiten oder die Majorität wirken: Richten sie sich doch gegen den Schutzbereich, den die Verfassung den Grundrechtsträgern zuspricht. Eingriffe bedeuten – unabhängig von möglichen legitimen Anlässen, Zwecken sowie ihrer Verhältnismäßigkeit betrachtet – eine Störung der Schutzzonenfunktion von Grundrechten. Die Ausgestaltung der Eingriffsrechte ist daher Seismograf für die Intensität formeller sozialer Kontrolle, für die Liberalität einer Gesellschaft.

III. …weswegen Diskurse mit dem Bundes­in­nen­mi­nister dringend geführt werden müssen!

Dass einige Innenpolitiker der Regierungskoalition die reelle Gefahr von Anschlägen, Bürgerrechtler hingegen Furcht vor einen angeblichen Überwachungsstaat dramatisieren, darin ist Rath zuzustimmen. Als Gegenstrategie empfiehlt er allerdings, auf diese Stimmen der Innenpolitik nicht einzugehen: Um Sicherheitsgesetze nicht aufzuwerten, ihnen keine „symbolisch starke Wirkung“ zu verleihen (Rath: 2008, 86). Darin geht er fehl: Wer einem massiven Abbau von Macht zerteilendem Verfassungsrecht, wer der Absenkung von Grenzen polizeilicher Vorfeldbefugnisse oder dem Wunsch von Nachrichtendienstlern, heimlich Wohnungen durchsuchen zu dürfen, nicht eine öffentlich wirksame Absage erteilt, noch bevor Gesetzentwürfe erste Vorlage finden, der macht es dem Antiliberalismus leicht: Frühe Gegenöffentlichkeit wertet symbolische Kriminalpolitik nicht auf. Sie entlarvt. Und wenn es einen dramatisierenden Diskurs des Bundesinnenministers anzunehmen bedeutet: Es zeigt ihm, der fortwährend testet, wie weit er sich mit neuen Freiheit mindernden Forderungen vorwagen kann, dass jene auf Kritik stoßen. Früh reagierende, zuweilen Dramatisierendes aus dem Hause Schäuble reflektierende Gegenöffentlichkeit zeigt einem Verfassungsminister, der sich beim Luftsicherungsgesetz für die Abwägung zwischen Menschenleben ausgesprochen hat, die Grenzen politischer Gestaltung auf. In der Kommunikation mit ihm, der als Verfassungsminister das antiliberale Staatsrechtsdenken des Rechts-Schmittianers Depenheuer zur Rezeption empfiehlt, kann nur gelten: Wehret zugunsten unserer Zivilgesellschaft und des Liberalismus diesen Anfängen. Wenn es sein muss, um Gehör für bzw. in späteren Sachdebatten zu erlangen, auch zunächst über den Weg dramatisierender Diskurse.

IV. Bürger­rechts­be­we­gungen müssen ggf. durch Zuspitzung von Argumenten mit Drama­ti­sie­rungen mobili­sieren, um Sachthemen Gehör zu verschaffen

Die Organisationen der Bürgerrechtsbewegung versuchen, Öffentlichkeit gegen innen- oder rechtspolitische Gesetzesvorhaben zu mobilisieren. Ziel ist die Einflussaufnahme auf Gesetzgebung, auf staatliche Regelung von Lebenssachverhalten, die im Politikfeld sog. Innerer Sicherheit zumeist von Innenministerien ausgehen. Die Bürgerrechtsbewegung ist Akteur dieses Politikfeldes. In unserer Demokratie hat sie die Rolle eines Gegenspielers regierender Innenpolitik, in jener Rolle manifestiert sich Zivilgesellschaft. Das fordert ihr zuweilen einen nicht immer sachlichen Einstieg in Sachdebatten ab. Rath aber kritisiert dramatisierende Warnungen „vor dem Überwachungsstaat“ per se, erklärt sie im Bezug auf Verfassungsbeschwerden als „vermutlich“ dysfunktional (Rath: 2008, 87). Natürlich, man wünscht sich zur Information über innenpolitische Vorhaben Analysen, wie Rath sie in der tageszeitung höchst sachkundig verfasst, eben keine Verzerrungen. Doch haben es Bürgerrechtsakteure so leicht wie ein rechtspolitischer Korrespondent, sich Gehör zu verschaffen? Treibt sie nicht der legitime Zwang, in einer medial völlig überlagerten Welt, in welcher der Mensch privaten wie erwerbsrelevanten Informationen buchstäblich hinterher rennt, mit dem Thema „Grundrechte“ auch nur kurz durch unseren täglichen Informationsschleier zu dringen? Verhilft nicht erst ein wenig Dramatisierung der hinter ihr stehenden Sachbotschaft zum Durchbruch in unsere Aufmerksamkeit? Erscheint diese Strategie „lauter“ Bürgerrechtsstimmen in Zeiten des Krieges gegen den Terror, der so hässliche Brüche des Rechts wie die US-amerikanischen Militärtribunale mit sich bringt, nicht ebenso in der Bundesrepublik geboten? Auch ohne ein deutsches Camp Delta? Je nach Intensität eines innensicherheitspolitischen Vorhabens ab und an: Ja! So fanden sich noch vor vier Jahren Politiker, die ohne Zögern sein deutsches Äquivalent errichtet hätten: Im Zuge der Wahlkampfdebatten zur Inneren Sicherheit fordern die Politiker Stoiber und Schäuble mehrmonatigen Sicherheitsgewahrsam für sog. islamistische „Gefährder“[1] (v. Denkowski: 2007, 225). Zu dieser Gruppe ohne ihr Wissen als potentielle Terroristen eingestufter, doch strafprozessual unverdächtiger, zählt der Präsident des BKA Ende Februar diesen Jahres 85 (Associated Press: 2009). Die der letzten Bundestagswahl geschuldete Forderung richtete sich auf eine Änderung der Gewahrsamsbefugnisse des Polizeirechts: Grundsätzlich ist es den Ländern nur unter sehr engen Voraussetzungen gestattet, eine Person bis zu vierzehn Tagen präventiv zu sistieren. Die beiden Konservativen forderten eine Erweiterung auf sechs Monate. Man stelle sich vor: Sechs Monate aufgrund einer polizeilichen Gefahrenprognose! Wäre das auf keinen massiven öffentlichen Widerstand getroffen, der sich auch in der dramatisierenden Befürchtung manifestiert hatte, nun entstünde das deutsche Guantanamo, dann wäre die Republik seit vier Jahren auf ihrem Weg in den Überwachungsstaat.

Doch Gegenöffentlichkeit, hervorgerufen durch emotionale, aufrüttelnde Entgegnungen, erstickte erste Überlegungen für diese Idee einer „Staatsschutzhaft“ im Keim. Wer kann dieses Scheitern antiliberaler Innenpolitiker für sich verbuchen? Neben der Bundestagsopposition und Medien -Bürgerrechtsakteure! Ihre z.T. auch emotionalen Reaktionen stellen dabei per se keine einseitigen Projektionen dar: Emotionale Kritik an gesetzgeberischen Vorhaben verkörpert Reflektionen, sie gibt ungefragt Feedbacks.

Zweites Beispiel: Im Dezember letzten Jahres sieht Innenminister Schäuble angesichts der Ängste der Länder vor Kompetenzverlust in Sachen polizeilicher Anti-Terror-Gefahrenabwehr seine BKA-Reform zum Scheitern verurteilt. Der Bundesrat hatte zunächst gegen sie votiert. Flugs äußert der Minister, auch ohne die Reform bliebe Deutschland ein sicheres Land (Spiegel-Online: 2008). Wochen zuvor klingt er noch anders: Das Land stehe im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus, weshalb das BKA zur Früherkennung von Anschlägen dringend neue Befugnisse erhalten müsse (SZ: 2008). Schäuble schürt zunächst Ängste, nimmt diese aber zurück: Wohl um die Dramatisierung seines Vorhabens wissend, kommuniziert er die Gefahrenlage herunter. Von wem gehen hier Emotionen in Sachbotschaften aus? Ein innenpolitisches Vorhaben wird von seinem Urheber emotional transportiert. Bürgerrechtsakteure reagieren mit (auch emotionaler) Kritik, bevor sie mehr oder minder sachlich Gegenargumente äußern. Kein Fall von Projektion also, sondern von Reflektion. Dieses Muster wiederholt sich, sobald es um spektakuläre Themen geht: Innensicherheitspolitische Vorhaben werden bekannt. Politische Opposition und nicht-staatliche Akteure reflektieren dessen Gehalt – der Sache nach mehr oder minder emotional. Darauf folgt ggf. der Gesetzgebungsprozess, in dessen Verlauf und über dessen Resultat verschiedenste Akteure einen überparlamentarischen Dialog führen. Doch die erste Kommunikationswelle, regierende Innenpolitik eröffnet sie. Antworten auf sie reflektieren deren Vorhaben, mögliche Gefahren für Freiheitsrechte: Daraus erwachsende Angst vor Überwachung ist eine Wirkung öffentlicher Diskurse, nicht Folge von einseitiger Projektion. Bürgerrechtsakteure müssen diese öffentlich wahrnehmbar prägen. In ihrer Funktion als wachsame Mahner errichten sie nicht-staatliche Sicherungen gegen den Missbrauch politischer Macht. Erst ihre Existenz beweist die Funktionsfähigkeit einer Zivilgesellschaft. Kann man sich für eine deutsche Demokratie etwas anderes wünschen, als eine ab und an Themen auch emotional transportierende Bürgerrechtsbewegung, welche uns aufzurütteln bestrebt ist?

V. Befund: Bürger­rechts­gruppen müssen ggf. drama­ti­sie­rend vor zuviel Prävention warnen, indem sie Angst vor Kontroll­ver­lust umlenken.

Ein tief greifender struktureller und kultureller Wandel prägt die markliberal geprägte deutsche Gesellschaft (Sack: 2005, 27). Deren Kriminalpolitik verliert angesichts schwindender Partizipation einkommensschwacher und bildungsferner Milieus zugunsten einer wachsenden Punitivität an Rationalität. Doch: Noch ist ein Überwachungsstaat keine Realität. Noch nicht. Denn Gefahrenabwehrrecht wandelt sich seit Beginn der neunziger Jahre zu einem Recht der Risikosteuerung. In seiner Gestalt zeichnen sich erste Konturen eines Präventionsstaates zumindest ab. Rath geht nicht auf den systemischen Charakter der BKA-Reform ein. Zudem lässt sich angesichts einer medial überfrachteten Informationsgesellschaft seine Kritik am für Bürgerrechtsakteure zum Transport ihrer Reaktion auf bestimmte Vorhaben wichtigen „Marketing über Emotionen“ als Ängste auslösend nicht nachvollziehen. Vermeintliche bürgerrechtliche Angstprojektionen sind Reflexionen der Furcht der regierenden Bundesinnenpolitik vor einer zivilgesellschaftlich bedingten Schwächung ihrer Sozialkontrolle. Bürgerrechtsakteure nehmen diese Fremdemotionen lediglich auf, spiegeln sie öffentlich wahrnehmbar. Sie deuten sie um und lenken die durch die sicherheitspolitischen Forderungen bedienten bzw. durch Gesetzgebungsvorhaben geschürten Emotionen gegen ihre Urheber. Dieses Procedere charakterisiert ihre für unsere Zivilgesellschaft kostbare Wächterfunktion:

1. Die Reform des BKA schwächt den Polizei-Föderalismus, eine alliierte Grundvorgabe für unsere föderale Sicherheitsarchitektur, empfindlich ab. Sie deutet die Vorfeldarbeit der Staatsschutzabteilung des BKA in ein von der Justiz weitgehend emanzipiertes „prä-strafprozessuales Bundesermittlungsrecht in Staatsschutzsachen“ um. Dessen Systematik weit vor konkreten Verdachtsmomenten einsetzender Präventivermittlungen gibt Anlass zur Sorge um die zunehmend verwischende Grenze zwischen Strafprozessrecht und Gefahrenabwehr. „Gefahrenermittlungen“ stellen eine neuartige präventiv-repressive Mischaufgabe der Polizei dar.

2. Bürgerrechtsgruppen lenken Emotionen eines kalkulierten „Government throughfear“ in „Angst vor dem Überwachungsstaat“ um. Das schützt ethnische und politische Minoritäten vor ihrer Exklusion.

3. Bürgerrechtsgruppen nehmen Einfluss auf die Gestaltung der Inneren Sicherheit: Sie sind nicht-staatliche Akteure auf den Politikfeldern der Innensicherheits- sowie der Kriminalpolitik.

4. Polizeiwissenschaftlich betrachtet, kommt ihnen die Rolle nicht-staatlicher Akteure des Polizierens zu: Sie garantieren die Bi-Polarität von Exekutive und öffentlichen Kontrollinstanzen, prägen Polizieren durch ihre informelle außerparlamentarische Legislativkontrolle.

5. Bürgerrechtsakteure müssen in unserer medial vernetzten, vom Informationskollaps bedrohten Gesellschaft, in der Zeit und Nachhaltigkeit immer knappere Güter werden, juristischen Laien komplizierte rechtliche Sachverhalte als relevant präsentieren: Wie die PR- bzw. Werbebranche kommen sie ohne das kalkuliert in Kommunikation eingewobene „Instrument Emotion“ nicht aus, um gegenüber ihren medialen Konkurrenten Aufmerksamkeit zu erzielen.[2] Eine wachsame und wenn nötig auch über begrenzt emotionale Zuspitzungen um das Gehör einer zumeist an dieser Art von Sachthemenuninteressierten Öffentlichkeit werbende Bürgerrechtsbewegung ist für den Bestand unser Zivilgesellschaft auch nach neunzehn Jahren deutscher Einheit noch existentiell.

[1] Im November 2006 „behandelt“ die deutsche Polizei 100 als „Gefährder“ eingestufte Personen mit Polizeirecht (Hamburger Abendblatt: 2006, 12), während die britische Polizei 1600 Islamisten sowie 200 mutmaßliche Terrorzellen ähnlich beobachtet (SZ: 2006; FAS: 2006, 2). Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages untersuchte im Auftrag einer Fraktion vor einigen Jahren den Begriff gutachterlich.

[2] Der Verfasser, förderndes Mitglied einer Bürgerrechtsorganisation, doch nicht in ihr aktiv, nimmt für sich in Anspruch, das zum Transport von Sachthemen durch Bürgerrechtsakteure zuweilen benutzte und in diesem Manuskript beschriebene Kommunikationsmuster gegenüber Rath lediglich zu verteidigen. Seine eigene Arbeitsweise beider Bewertung von Innensicherheitspolitik folgt nicht diesem auf Emotionalität setzenden Muster.

Literatur

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v. Denkowski, Charles A., 2007: „Zur Einstufung islamistischer Gefährder“, Kriminalistik 5/2007, 325-332.

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Meyer, Hendrik, 2006: Terror und Innere Sicherheit, 2006, Münster, Schüling.

Middel, Stefan, 2007: Innere Sicherheit und präventive Terrorismusbekämpfung, Spiros Simitis (Hg.), 1. Aufl. Baden-Baden, Nomos.

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