Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Das normale Leben

SED-Herrschaft und Alltagswirklichkeit in der DDR,

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 31-39

Man konnte glücklich leben in der DDR, meinen die einen, und verweisen auf Vollbeschäftigung, Kinderkrippen, Kollegialität am Arbeitsplatz und das harmonische Miteinander der Menschen. Die anderen erinnern an Mauer und Stacheldraht, den Stasi-Knast, Unfreiheit, Verfolgung und Bevormundung. Im Kern geht es immer wieder darum, ob denn alles schlecht war, oder ob die DDR auch gute Seiten hatte.

Auch die wissenschaftliche Debatte steht auf keinem sehr viel höherem Niveau. Es hat sich in den letzten Jahren eine verfehlte Polarisierung zwischen einer politikgeschichtlich orientierten Herrschafts- und Repressionsgeschichte und einer sozialhistorisch orientierten Alltagshistorie entwickelt. Die Vertreter der beiden Richtungen werfen einander Verharmlosung bzw. Dämonisierung vor und oft genug spürt man dahinter parteipolitische Präferenzen und die Konkurrenz der Institutionen. Doch nirgendwo war der Zusammenhang stärker präsent als in der DDR selbst. Dieses dialektische Wechselverhältnis entsprach der marxistischen Theorie vom Primat der ökonomischen Basis. Der Zusammenhang wurde in den DDR-Medien ständig hergestellt – wenn auch ausschließlich im positiven Sinne. Und er wurde von den Menschen verinnerlicht – wenn auch oft im negativen Sinne. Mit anderen Worten: die Partei war an allem Schuld. Der Staat, seine Symbole und Repräsentanten, seine Ideologie und sein Machtanspruch waren allgegenwärtig. Sie durchdrangen alle Sphären des Lebens, auch das Privatleben der Menschen.

Wo ein Genosse ist, da ist die Partei

Diese Allgegenwart und Allzuständigkeit der Staatsmacht war das erste prägende Grundelement des Alltagslebens im SED-Staat. Die Einheit von Staat und Partei war nahezu vollkommen und auch durch den Artikel 1 der Verfassung abgesichert. Es blieb aber nicht bei der staatsrechtlichen Theorie. „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“ lautete ein viel zitiertes Schlagwort. Und die Genossen waren überall. Bereits die Kader der mittleren Verwaltungsebene waren in der Regel Mitglieder der SED. Über die Besetzung dieser Posten entschied die zuständige Abteilung im ZK der SED bzw. die regionalen Bezirks- und Kreisleitungen. Dafür in Frage kamen ausschließlich die Nomenklaturkader der SED. Gelegentlich wurde eine Ausnahme gemacht, zudem gab es hier und da ein Mitglied einer der Blockparteien, die nach einem Vereilungsschlüssel mit Posten versorgt wurden. Die Parteileitungen waren in allen Betrieben, Behörden und Bildungseinrichtungen die eigentlichen Machtzentren. In Gremien jeder Art, von den Gewerkschafts- und FDJ-Leitungen bis hin zu den Elternvertretungen an Schulen und Kindergärten wurde streng darauf geachtet, dass die SED mehrheitlich vertreten war. Die SED-Strukturen waren der Knochenbau der Gesellschaft. Ihre Macht ruhte auf drei einander bedingenden Säulen: auf Gewalt, Ideologie und der Privilegierung der Nutznießer. Gewalt war vor allem die Androhung von Gewalt. Dazu diente ein umfassendes System der Überwachung und Repression. Das Prinzip der Nutznießerschaft der Systemträger war komplementär ergänzt durch die Bestrafung der Widerwilligen. Ein ausgefeilter Mechanismus sorgte für die Förderung bzw. Einschränkung von Bildungschancen und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Hinzu kam die Ideologie, ohne die das System nicht funktioniert hätte. Dabei war es relativ nebensächlich, ob die Ideologie glaubwürdig war. Hier galt der Grundsatz, credo quia absurdum est. Je absurder das Glaubensbekenntnis war, desto größer war auch die erforderliche Glaubensstärke.

Die Marx und Engels ist unbesiegbar weil sie wahr ist

„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“, kann man in W. I. Lenins kleiner Schrift „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ lesen.[1] Die hermetische Logik dieses Zirkelschlusses war das zweite Grundelement der Alltagswirklichkeit in der DDR. Die Theorie legitimierte die politische Praxis und die diktatorische Praxis bewahrte die Theorie vor den absehbar verheerenden Folgen einer freien Diskussion. Es ging bei der marxistisch-leninistischen Lehre also keineswegs um Gedankenspiele sondern um die politische Macht. Das große Gefängnis der totalitären Macht war aus Worten und Begriffen gemauert. Die Indoktrination begann mit Kinderbüchern über das Leben und Wirken der Klassiker und Revolutionsführer und setzte sich im Fach Staatsbürgerkunde und in den FDJ-Studienjahren fort. Sie dienten nicht allein der Wissensvermittlung, sondern sollten die marxistisch-leninistische Weltanschauung zum unverlierbaren Bestandteil der sozialistischen Persönlichkeit machen. An den Hoch- und Fachschulen wiederholte jeder Student im Rahmen der obligatorischen Marxismus-Leninismus-Ausbildung die gesamte Materie noch einmal. Jedes Studienjahr begann Anfang September mit einer „Roten Woche“, die ausschließlich aus Polit-Seminaren, ML-Schulungen und FDJ-Versammlungen bestand. Im Verlauf des Semesters gab es mit einer Vorlesung und einem Seminar pro Woche regelmäßig „Rotlichtbestrahlung“. In allen Veranstaltungen kontrollierten die zuständigen Dozenten und FDJ-Funktionäre streng die Anwesenheit und werteten unentschuldigtes Fernbleiben nicht nur als Studienbummelei, sondern auch als mangelnde „politisch-ideologisch Reife“ oder gar als „antisozialistische Haltung“. Zum Abschluss des „gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums“ musste jeder Student eine schriftliche Arbeit einreichen und eine mündliche Prüfung ablegen, deren Bewertung für den weiteren beruflichen Werdegang nicht unwesentlich war. Hinzu kamen das monatliche „aktuell-politische Seminar“ sowie für SED-Mitglieder die Parteilehrjahre und für alle anderen die FDJ-Schulungen. Auch das „Abzeichen für gutes Wissen“, das die meisten schon als Oberschüler oder Soldaten der NVA erworben hatten, musste vor einer Prüfungskommission der FDJ bestätigt werden. Bis 1976 zeigte es einen von Eichenlaub umgebenen kleinen Kopf von Marx vor einer blauen Fahne mit dem FDJ-Emblem, danach ersetzten ihn die ineinander geschobenen bärtigen Profile aller drei Klassiker Marx, Engels und Lenin. Das jährlich mehrere hunderttausend Mal verliehene Abzeichen gab es in den Stufen Gold, Silber und Bronze, und besonders eifrigen FDJler hefteten es an die linke Brusttasche ihres Blauhemdes.

Seltsamerweise hat die ideologische Dauerberieselung nach dem Zusammenbruch des SED-Systems nur geringe Spuren bei der DDR-Bevölkerung hinterlassen. Andere ehemalige Symbolgestalten wie das Sandmännchen, der Kobold Pittiplatsch oder die Ente Schnatterinchen aus dem Kinderfernsehen haben das Bewusstsein weit nachhaltiger beeinflusst als die revolutionäre Theorie. Die Menschen schüttelten sich kurz wie Hunde, die ins Wasser gefallen sind, und hatten all die ihnen mühevoll eingehämmerten Theorien vergessen. Selbst verbissene Nostalgiker rekurrieren seit 1989 viel stärker auf angebliche oder tatsächliche soziale Errungenschaften der DDR als auf die zentralen Thesen von Marx, Engels und Lenin. Auch die verschwommene Kapitalismus-Kritik der Linken orientiert sich eher an „allgemein menschlichen“ Aspekten als an den mühsam zu lesenden Schriften der bärtigen Propheten des Kommunismus.

Der Gärtner­s­taat

Auf dem Vorsatzblatt des dickleibigen und reich illustrierten „Handbuch des Pionierleiters“ von 1952 stand als Motto ein Wort Stalins: „Die Menschen muss man sorgsam und achtsam großziehen, so wie der Gärtner den von ihm gehegten Obstbaum großzieht“.

Ein verräterischer Satz, denkt man die gärtnerische Metaphorik konsequent zu Ende. Ein guter Gärtner beschneidet die Zweige und stutzt die Hecken. Er jätet das Unkraut und vertilgt die Schädlinge. Allein der Gärtner weiß, was gut und schlecht ist für seine Schützlinge. Die Pflänzlein werden ungefragt gestutzt und beschnitten.

Der Soziologe Zygmunt Baumann hat für den umfassenden Herrschaftsanspruch absolutistischer Systeme den Begriff des Gärtnerstaates geprägt.[2] Schon die Potentaten der Barockzeit liebten es, ihre Gärten in geometrische Strukturen zu bringen, so dass in der Natur wie im Staat alle Wege auf den Herrscher zuliefen und alle Gnade wie Sonnenstrahlen von ihm ausging. Doch Stalin hat die Verwandlung der Untertanen in Pflänzchen zur Vollendung getrieben. Er sah sich gern in der Rolle des Großen Gärtners. Er ließ sich vor wogenden Getreidefeldern und blühenden Obstbäumen malen und filmen. Und wie jeder Gärtner liebte er am meisten die zarten Setzlinge, die einst reiche Früchte tragen sollten.

Die Kindheit spielt in der Metaphorik wie in der politischen Praxis der totalitären Systeme eine zentrale Rolle. Die Führer der Arbeiterklasse ließen sich mit bezopften Mädels und strammen blonden Jungs filmen und fotografieren. Auf den bunten Plakaten sah man die Kinder glücklich lachen und hoffnungsfroh in die Zukunft schauen. In den Wochenschauen zogen die fröhlichen Scharen singend durch die Wälder, packten beim Ernteeinsatz kräftig mit an und hörten abends am Lagerfeuer mit gläubigen Augen vom heldenhaften Kampf der Revolutionäre.

Der sozialistische Kinderkult wurde aus unterschiedlichen Quellen gespeist. Die kommunistische Utopie zielte nicht allein auf radikale Veränderung der ökonomischen und politischen Strukturen. Sie zielte auf den Neuen Menschen. Er sollte aufopferungsvoll, ehrlich, gesund und stark sein, die Heimat, die Partei und das Vaterland lieben. Dem Staat und seinem Erziehungssystem oblag es, diese Tugenden durchzusetzen. Die allumfassende pädagogische Anspruch war das dritte Grundelement des Alltagslebens in der DDR. Auch dies blieb nicht graue Theorie, sondern griff tief in den Schulalltag ein.

Am Montagmorgen begann die Woche mit dem Fahnenappell. Am Schultor standen Ordnungspioniere mit Armbinden und schrieben jeden auf, der zu spät kam. Er musste dann draußen warten, bis der Appell vorbei war. Die anderen traten in Dreierreihen an. Vorne stand der Direktor und kommandierte: „Hisst Flagge!“. Zwei uniformierte Pioniere zogen die Staatsflagge der DDR am Mast hoch. Dann hielt der Direktor eine Rede, nahm Auszeichnungen vor und sprach Tadel aus. Die Getadelten mussten vortreten und sich vor der gesamten Schule zurechtweisen lassen. Dann wurde gesungen. „Fröhlich sein und singen, stolz das rote Halstuch tragen“, obwohl gar nicht alle in der Pionierorganisation waren. Auch in die FDJ traten manche nicht ein. Dadurch sanken ihre Chancen auf einen der begehrten Plätze an der Erweiterten Oberschule beträchtlich.

Überhaupt war das der Punkt, an dem die Schulobrigkeit ihren Hebel ansetzte. Nur etwa zehn Prozent der Schüler wurden zur Abiturstufe zugelassen. Hier wurde rigoros sortiert. Bedingung für die Zulassungen waren Bestnoten in allen Fächern, gesellschaftliche Aktivität, bei Jungen zudem die Bereitschaftserklärung, später als Unteroffizier oder Berufssoldat dienen zu wollen.

Gerade der Unterricht an der EOS stand ganz im Zeichen der Erziehung zur allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit. In Geschichte und Deutsch war das kein Problem. Die Vorgaben für die Literaturinterpretationen lasen sich wie Dienstvorschriften zum Auseinandernehmen einer Handfeuerwaffe.

Sicherheit und Freiheits­be­rau­bung

Die Mauer war seit dem 13. August 1961 die vierte Grundtatsache des Lebens in der DDR. Sie war kein Bauwerk, sondern ein Lebenszustand. Die DDR-Bürger lebten im Bewusstsein, ihren Käfig niemals verlassen zu können, wenigstens nicht bis zum Erreichen der ironisch so genannten „Reisemündigkeit“ mit sechzig bzw. fünfundsechzig Jahren. Also richtete man sich ein. Der großen Mauer, die den Staat umgab, entsprachen viele kleine Mauern, die das Leben in der DDR reglementierten.

Erst durch die Mauer wurde die Bundesrepublik einschließlich West-Berlins zum Westen. Für die Staatspropaganda zum Reich der alten und neuen Nazis, der Revanchisten und Imperialisten, zum allgegenwärtigen Feind, der nichts anderes im Schilde führte, als die DDR zu unterwandern und aufzuweichen. Für die Masse der Bürger zum Sehnsuchtsland, zur Projektionsfolie aller unerfüllten Wünsche, zum Fluchtziel und schließlich zur neuen Autorität, an die man die Verantwortung abgab, kaum hatte man sie in einer siegreichen und friedlichen Volksbewegung errungen und schließlich zur paternalistischen Adresse aller Frustrationen, die aus dem Einigungsprozess resultierten.

Die DDR wollte so gerne eine Nation ein, ist es aber im Bewusstsein ihrer Bewohner niemals geworden. Als die Entspannungspolitik ihre ersten Erfolge zeitigte, wurde der Druck im Kessel nicht geringer, sondern größer. Die Menschen stellten zunehmend Ausreiseanträge. Immer mehr Bürger erschienen bei der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises bzw. in Berlin beim Rat des Stadtbezirks und erklärten, sie wollten ihre Heimat für immer verlassen. Oft beriefen sie sich auf internationale Verträge, die auch die DDR unterschrieben hatte, nicht aber einzuhalten gedachte. Ein Ausreiseantrag war die radikalste Form der Verweigerung. Es war aber auch eine Kapitulation. Deswegen schwankten die DDR-Behörden zwischen der harten und weichen Linie. Seit 1984 wurden viele Anträge nach einiger Zeit bewilligt. Dennoch nahm die Zahl der Antragsteller nicht ab. Sie organisierten sich und machten die Kirche zum Podium ihres Anliegens. Die Oppositionsgruppen sahen das mit gespaltenen Gefühlen. Den Sprechchören „Wir wollen raus!“ setzen sie nach den Leipziger Montagsgebeten den Ruf entgegen „Wir bleiben hier“. Das hieß, sie wollten in der DDR etwas verändern. Das war eine deutliche Kampfansage an das SED-Regime. Im Sommer 1989 spitzte sich die Lage dramatisch zu. Die dramatischen Bilder von Flüchtlingen, die in Ungarn die Sperranlagen überwanden und in der deutschen Botschaft in Prag die Zäune überkletterten, führten der ganzen Welt vor Augen, dass die DDR am Ende war. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war dies das Todesurteil für den Staat, der nur noch durch die Mauer zusammen gehalten worden war.

Liebe, Sex und Familie

Liebe ist die persönlichste Sache der Welt. Doch seltsamerweise waren gerade auf dem Gebiet von Ehe, Familie und Sexualverhalten die Unterschiede zwischen Ost und West sehr deutlich. Die Gesellschaft hat das Verhalten auf diesem Gebiet tief geprägt. Dies lässt sich als der fünfte Aspekt des Alltagslebens festhalten. Aus der Statistik und aus Umfragen ergibt sich: Jungen wie Mädchen machten ihre ersten Sexualerfahrungen früher. Es wurde früher geheiratet und die Kinder kamen früher. Der Schwangerschaftsabbruch war schon seit 1972 gesetzlich geregelt. Dafür waren uneheliche Kinder und ohne Trauschein zusammen lebende Paare viel länger schon eine Normalität. Es gab mehr Seitensprünge und eine weit höhere Scheidungsrate. Durch die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frauen waren Ansprüche auf dauernde Versorgung in der Regel gegenstandslos. Das Scheidungsverfahren war juristisch viel einfacher.

War die Diktatur das Reich der Sinnlichkeit? Tatsächlich war der Umgang mit Liebe und Sex in der DDR gelassener. Auch die verbreitete Neigung zur Freikörperkultur ist ein Hinweis dafür. Der Kern des Problems allerdings liegt im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. 1989 waren rund 86 Prozent aller Frauen berufstätig. Bei den jüngeren Frauen waren es sogar deutlich über 90 Prozent. Man mag dies als Gleichberechtigung oder als doppelte Ausbeutung sehen. Für viele Frauen begann nach Arbeitsschluss eine zweite Schicht: Kinder abholen, Schlange stehen, Behördengänge, Haushalt. All dies wohlgemerkt in der Mangelwirtschaft und bei einem niedrigeren Niveau der Haushaltstechnik. Beispielsweise gab es aus Gründen der Energieersparnis grundsätzlich keine Geschirrspülmaschinen. Die anderen Geräte waren oft alt und störanfällig. Handwerker waren schwer zu bekommen. „Handwerkertermin“ lautete deswegen oft die Begründung für Fehlzeiten und kein Chef konnte nein sagen. Auch wenn die Kinder krank waren – und Krippenkinder waren oft krank – blieb in der Regel die Frau zu Hause und verzichtete gänzlich oder teilweise auf das Gehalt. Laut Statistik lag das Durchschnittseinkommen der Frauen wesentlich unter dem der Männer.

Trotzdem waren die Frauen im Prinzip völlig ins Berufsleben integriert. Vom Staat wurde alles getan, um Frauen zu fördern. Die Wirtschaft brauchte ihre Arbeitskraft. Um die Zukunft des Sozialismus zu sichern, brauchte man aber auch Babys. Deswegen wurde in den siebziger Jahren ein umfangreiches Programm sozialpolitischer Maßnahmen entwickelt. Entscheidend waren das Babyjahr und die zinslosen Kredite für junge Ehen. Um die Frauen im Arbeitsprozess zu halten, traf die SED-Führung im Laufe der Zeit eine ganze Reihe sozialpolitischer Regelungen. Dazu gehörte die annähernd hundertprozentige Versorgung mit Krippen-, Hort- und Kindergartenplätzen.

Die gezielte Bevölkerungspolitik in der DDR blieb in der Tat nicht ohne Erfolge. Familien mit zwei bis drei Kindern waren die Regel. Wahrscheinlich hing es mit dem Rückzug ins „private Glück“ zusammen oder auch mit der Tatsache, dass wirtschaftliche Erwägungen – etwa die künftige Finanzierung der Ausbildung – bei der Entscheidung für mehrere Kinder kaum eine Rolle spielten. Manche materielle Verlockung, die heute dem Kinderwunsch entgegensteht, fehlte damals. So war der demographische Einbruch nach der Wende kein Ausdruck von Not und Elend, wohl aber eine Folge tiefer Verunsicherung.

Voll beschäftigt, halb versorgt

Ein Punkt spielte dabei eine besondere Rolle, der hier als der sechste Aspekt des DDR-Alltags zählen mag: Die Vollbeschäftigung bzw. die gänzliche Abwesenheit von Arbeitslosigkeit. Selbst notorische Verächter des SED-Systems kamen und kommen hierbei in Erklärungsnot. Dabei liegen die Ursachen vollkommen klar zu Tage.

Aufgrund des niedrigen technologischen Niveaus der DDR-Wirtschaft sowie der Republikflucht bis 1961 herrschte ein akuter Arbeitskräftemangel. Sie wurde durch die gewaltig aufgeblähten bewaffneten Organe, also Stasi, Volkspolizei, Nationale Volksarmee, und die überdimensionierten Apparate der Parteien und Massenorganisationen weiter verstärkt. An den Schreibtischen der Macht lungerten bei aller Gleichberechtigung vor allem Männer herum. Die bewaffneten Organe bestanden abgesehen vom Medizinischen Dienst sowie Küchen- und Reinigungskräften faktisch ausschließlich aus Männern. Und wenn die Arbeitskräfte überall knapp waren, im Sicherheitsbereich herrschte kein Mangel. So kam es, dass in der DDR der Ruf „keine Leute, keine Leute“ nahezu notorisch wurde. Es herrschte sogar eine gesetzmäßige Arbeitspflicht. Wer ohne ständige Beschäftigung war, musste mir Ärger rechnen.

Die Arbeit, insbesondere schwere körperliche Arbeit, war mit einer fast religiösen Aureole umgeben. Im Mutterland der Reformation gingen protestantischer Arbeitsethos, preußische Pflichterfüllung und kommunistischer Mythologie ein festes Amalgam ein. Die Menschen definierten sich über ihre Arbeit. Einen Job macht man für Geld und Erfolg, Arbeit war Sinnerfüllung. Natürlich war das oft Propagandafloskel. Es wurde viel darüber gespottet, doch wenn am 1. Mai die Aktivisten belobigt, wenn zum Frauentag die aufopferungsvollen Kolleginnen gerühmt, und wenn zum Jahresende die Bestarbeiter auf dem Betriebshof ausgehangen wurden – schlich sich in die allgemein obwaltende Spottlust gegenüber den Floskeln der Festreden ein bisschen echter Stolz ein. Es gab in der DDR eine Menge Leute, die wenig mit dem Staat und dessen Ideologie am Hut hatten, dennoch aber alles für die Planerfüllung taten, sogar den Schlendrian und die Bummelei kritisierten. Denn dies war die überall sichtbare Schattenseite des betrieblichen Lebens. Je niedriger die Qualifikation war, desto mehr wurden die Leute gebraucht. Ungelernte Hilfskräfte, Transportarbeiter oder weibliche Reinigungskräfte waren für jeden Kaderleiter Goldstaub. Kein Meister oder Abteilungsleiter durfte es wagen, den geschätzten Kollegen zu nahe zu treten, wenn es einige von ihnen mit dem Schichtbeginn nicht so genau genommen oder in sich während der Nachtschicht zu einem kleinen Schlummer zurück gezogen hatten. Auch die Nutzung betrieblicher Fahrzeuge für private Zwecke, eine Fuhre nebenbei, gewisse Abzweigungen vom Volkseigentum und anderen Unsitten musste die Leitung stillschweigend akzeptieren. So entwickelte sich oft ein stilles Übereinkommen. Die Leitung drückte ein Auge zu und verließ sich darauf, dass die Kollegen es nicht übertrieben.

Das Kollektiv

Sicherheit im Alltag bot vor allem das Kollektiv. Das ist der siebente Aspekt zur Erklärung des DDR-Alltags. Das Kollektiv war Schutzraum gegen die Obrigkeit, Notgemeinschaft und Gehäuse der Hörigkeit. Sich vom Kollektiv zu lösen, galt als gefährlicher Irrweg. Individualismus war fast schon Verbrechen. Das Kollektiv hatte immer Recht. Man sprach sogar von der Weisheit des Kollektivs.

Dabei hatten das Klassenkollektiv, das FDJ-Kollektiv an der Universität, das Arbeitskollektiv im Betrieb, selbst die Hausgemeinschaft eine seltsame Doppelfunktion. Das Kollektiv war auf der einen Seite der Transmissionsriemen zur Durchsetzung der politischen Vorgaben der Partei, Instrument der Sozialkontrolle, ideologische Kontrollinstanz – aber es war auch eine Gemeinschaft zur Bewältigung der Alltagsprobleme.

Doch der eigentliche Nährboden der viel gerühmten Kollektivität und Menschlichkeit im Alltag war der allgemeine Mangel an Dienstleistungen und Waren aller Art.

Aus Furcht vor einer politischen Destabilisierung hatte Erich Honecker der Wirtschaft feste Endverbraucherpreise verordnet. Das erwies sich als sicheres Mittel, die Wirtschaft zu ruinieren. Es entstand ein permanenter Geldüberhang, oder umgekehrt ausgedrückt, ein Mangel an angebotenen Leistungen und Waren.

In der DDR entstand eine Art Parallelgesellschaft, die von der herrschenden Partei notgedrungen geduldet wurde. Neben den Ware-Geld-Beziehungen entstand ein System von Leistungen und Gegenleistungen. Die Rolle des Geldes verschwand nicht gänzlich, wichtig aber waren Tauschbeziehungen sowie die DM als Zweitwährung. Die Gesetze des Marktes, die man feierlich die Haupttreppe hinunter geworfen hatte, krochen durch die Hintertürchen und Kellerfenster ins sozialistische Haus zurück. Es entstanden Grauzonen der Halblegalität, der Schwarzarbeit und Korruption. Die Obrigkeit sah dies mit gespaltenen Gefühlen. Kurzfristig wurden die Menschen durch die Alltagssorgen von der Politik abgelenkt, es entstand sogar eine seltsame soziale Zwischenschicht, die es sich jenseits von Staat und Ideologie wohl ergehen ließ. Die Partei sagte sich, besser die Menschen fliehen auf ihre Datschen als in den Westen.

Alles war knapp und alles war überreichlich vorhanden. Alle waren unzufrieden und alle – oder doch fast alle – passten sich an, kümmerten sich um das Nächstliegende, versuchten durchzukommen, das Beste aus der Situation zu machen. Man hatte sich eingerichtet, kannte die Spielregeln. Der Staat und die Partei mit ihren Ansprüchen, ihren Parolen und ihrer Ideologie waren an solchen Sonntagnachmittagen unendlich weit fort. Wenn es überhaupt Probleme gab, so waren es scheinbar allein Versorgungsprobleme.

Lauter Spießer, soweit das Auge reicht? Angepasste, geduckte Kleinbürger, ängstliche Untertanen, die es sich wohl ergehen ließen in dem Ländchen hinter dem Stacheldraht? Stieß das totalitäre System am Gartenzaun an seine Grenze oder war der Maschendrahtzaun die Grenze des unsichtbaren Gehäuses der Hörigkeit? War das kleine Spießerglück die Gegenwelt zur SED-Diktatur oder deren Teil? War die DDR eine Gesellschaft der willigen Untertanen, die mit ihrem Staat einen heimlichen Gesellschaftsvertrag geschlossen hatten oder war der Rückzug ins Private eine Form des Widerstehens? War die verhöhnte und geschmähte Kleinbürgerlichkeit die eigentliche Lebens- und Überlebensform der Menschen im Sozialismus, die schließlich über alle Utopien und Ideologien triumphierte? Jedenfalls paralysierte der allgemeine Schlendrian das Zwangssystem. Der hohe moralische Anspruch der sozialistischen Ideologie wurde unterminiert. Die Herrschenden hatten den Glauben an sich selbst verloren.

Der DDR-Sozialismus ist an sich selbst zugrunde gegangen. Er scheiterte nicht an seinen Unvollkommenheiten sondern an seiner Vollendung. Am Ende stand – physikalisch ausgedrückt – der Wärmetod des DDR-Sozialismus.

Die sieben Grundelemente des Lebens waren seine sieben Todsünden. Die Entmündigung der Menschen, auch der eigenen Anhängerschaft, durch die Allzuständigkeit der Partei führte zum Verlust von Verantwortung. Die Installierung eines machtgeschützten Wahrheitsmonopols zerstörte den Austausch von Informationen und Meinungen im öffentlichen Raum, den die Gesellschaft braucht, wie der Körper den Blutkreislauf. Der permanente Erziehungsanspruch des Staates hielt die Menschen im Status von Kleinkindern, denen alles vorgesetzt wird, so lange sie folgsam sind. Ein Übriges tat die Freiheitsberaubung durch die Mauer und die Stasi. Im Schutz der Mauer entwickelte sich eine Einheitsgesellschaft der Angestellten, die auch die Integration der Frauen in den Arbeitsprozess erwirkte. Dazu entwickelte sich eine Kollektivität, die teils Zwang, teils Notgemeinschaft, teils Fluchtburg war. Diese funktionierte durch die Mangelgesellschaft, die das System kurzfristig stabilisierte, langfristig aber paralysierte und seiner Abwehrkräfte beraubte.

Als die eiserne Klammer des Zwangssystems fiel, wurden die eingeübten Überlebensstrategien der Mangelgesellschaft gegenstandslos. Die Mauer beengte das Leben nicht mehr, bot aber auch keinen Schutz mehr vor dem kalten Wind des Kapitalismus, der gerade in die Phase einer schrankenlosen Globalisierung getreten war. Die relative Gleichheit der sozialistischen Einheitsgesellschaft wich schnell einer neuen Ungleichheit zwischen den Verlierern und Gewinnern der Wende. Es waren vor allem die Schattenseiten der Marktwirtschaft mit denen die Bewohner der Neuen Länder nun in Berührung kamen. Die politischen Parolen und Symbole der SED-Herrschaft wurden ersetzt durch eine aufdringliche Werbung. Die neue Gesellschaft sonderte einen beträchtlichen Prozentsatz der erwerbsfähigen Bevölkerung als nicht brauchbar aus. Menschen, deren Wert sich aus ihrer beruflichen Tätigkeit ergab, waren plötzlich nutzlos.

Das Ende der DDR wurde begleitet von einem doppelten Glaubensverlust. Die Kirche hat trotz ihrer wichtigen Rolle während der Wende – die manche eine protestantische Revolution genannte hatten – ihre Funktion als Hüterin sittlicher Werte allmählich verloren. Die DDR war wenigstens vom Anspruch her ein Staat der Sekundärtugenden. Das Leben des Einzelnen war eingebunden in eine Art kollektiver Sinnerfüllung. Fleißige Arbeit im Betrieb und gesellschaftliche Tätigkeit im Wohnbezirk waren geehrt und geachtet. Die Mühen des Alltags waren geadelt durch eine ideologisch geprägte Wertschätzung. Dieses Wertesystem brach 1989/90 zusammen, ohne dass die traditionellen Werte der Zivilgesellschaft automatisch wieder ihren Platz einnahmen. Dieser Autoritätsverlust führte zu einer diffusen Sehnsucht nach einer starken Hand, nach der Geborgenheit der Gruppe, nach einer ideologischen Sinnerfüllung jenseits jeglicher Kritik. Das macht Teile der Bevölkerung anfällig für die rückwärtsgewandte Utopie vom Arbeiter-und-Bauern-Paradies, das es niemals gegeben hat.

Die bürgerliche Gesellschaft betrat 1789 die Bühne der Geschichte mit dem schmetternden Dreiklang: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Freiheit hat zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution auch im Osten Deutschlands Einzug gehalten. Auch die Gleichheit ist wenigstens im rechtlichen Sinne verwirklicht. Was viele Menschen in der Gesellschaft vermissen ist die Brüderlichkeit. Ohne sie scheinen Freiheit und Gleichheit immer wieder gefährdet.

[1] W.I. Lenin: Werke, Bd. 19, S. 3 ff., Berlin (DDR) 1977.

[2] Zygmunt Baumann: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 128.

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