Das verblichene Erbe der Bürgerbewegung
aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 40-47
Das Bundesinnenministerium, von Regierungsseite aus verantwortlich für die Feierlichkeiten zum Gedenken an den 20. Jahrestag des Herbst 1989, hatte eine Agentur beauftragt, eine Reihe von Veranstaltungen rund um die Reichstag zu planen und zu organisieren. Zu den besonders „originellen“ Vorschlägen der Agentur gehörte die Idee, dass deutsche Markenfirmen, darunter die Autoindustrie, anlässlich dieses Ereignisses auf dem Boulevard „Unter den Linden“ ihre „Produkte“ präsentieren.
Auch wenn diese peinliche Idee inzwischen aus dem Verkehr gezogen wurde, wirft sie ein bezeichnendes Licht auf die Erinnerung an die politischen Ereignisse in der DDR vor 20 Jahren: Sie droht zum Gegenstand eines hochprofessionellen, aber zugleich vollkommen sinnentleerten und kontextlosen Eventmanagements zu werden. Offensichtlich drängte sich in der Erinnerung der Mitarbeiter der Agentur als Nächstliegendes der Gedanke auf, dass es den demonstrierenden Bürgern der DDR 1989 in erster Linie um die von Otto Schily im Bundestag hochgehaltene Banane bzw. um den möglichst schnellen Zugang zu den westdeutschen Automarken gegangen sei. Aber auch viele andere geplante Veranstaltungen vermitteln den Eindruck, dass uns die im Herbst 1989 gemachten Erfahrungen heute – außer Erinnerungsromantik – nicht mehr viel zu sagen haben.
Die Bedeutung der Herbstrevolution und ihrer Akteure ist im wahrsten Sinne des Wortes historisch geworden: längst eingeordnet in den unaufhaltsamen Gang der Geschichte und weit entrückt von den aktuellen Problemen der Gegenwart im wiedervereinigten Deutschland. „Das 20. Jubiläum des Mauerfalls erscheint so interessant wie die Sonntagspredigt im Radio“, schreibt der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze in einem Essay für die Süddeutsche Zeitung (vgl. Ingo Schulze 2009). Pointiert und ironisch nimmt er die ritualisierte Art und Weise der Erinnerung an den Herbst 1989 aufs Korn. Er werde zurzeit zu zahlreichen Kongressen und Veranstaltungen eingeladen. Das sei erfreulich. Allerdings ärgere ihn, das ihm vorab immer die gleichen Fragen zugeschickt würden: Wie haben Sie den 9. November erlebt? Wie sehen Sie die deutsche Einheit, ist sie vollendet? Was muss getan werden, um die Einheit zu vollenden? Die Fragen, so Schulze, zeugen nicht nur von Unverständnis für die historische Dimension der friedlichen Revolution in der DDR, sondern auch von einer Banalisierung dieses Ereignisses. Es wird posthum nur noch aus der Perspektive ihres Endes diskutiert, ohne den originären Beitrag der ostdeutschen Bürgerbewegungen für die Überwindung einer Diktatur und die Herstellung von Freiheit zu würdigen. Zugleich zeigen die Fragen an Ingo Schulze, wie sehr sich im öffentlichen Bewusstsein der Fall der Mauer – im Sinne einer symbolischen Verdichtung – als einzig bleibendes Bild der Erinnerung an jene Zeit in den Köpfen festgesetzt hat. Dagegen verblassen die Erinnerungen an Bürgerbewegungen, Montagsdemonstrationen, Runde Tische und die Besetzung der Stasi-Zentrale und werden zu einer Fußnote der damaligen Ereignisse.
Wie wenig bleibende Spuren die Bürgerbewegungen und ihr politisches Erbe im öffentlichen Gedenken der Bundesrepublik hinterlassen haben, macht auch ein Vergleich des zwanzigsten Jahrestages der Herbstrevolution mit dem zweiten großen historischen Ereignis deutlich, das sich in diesem Jahr zum sechzigsten Male jährt – die Verabschiedung des Grundgesetzes 1949. Beide Daten symbolisieren politische Ereignisse, deren langfristige Folgen zum Zeitpunkt ihres Geschehens noch von niemandem überblickt wurden. Das Grundgesetz hat nicht nur der jungen und unfertigen Nachkriegsdemokratie ein festes Fundament gegeben, sondern sich auch später als normativer Verfassungsrahmen in politischen Konfliktsituationen bewährt. Es ist gewissermaßen die von allen anerkannte materielle und zugleich symbolische Verkörperung der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik. Vergleicht man die Bedeutung des Grundgesetzes für die politische Fundierung der Demokratie in Deutschland mit der friedlichen Revolution von 1989 in der DDR, so sucht man für die letztere sowohl auf der politisch-institutionellen als auch auf der politisch-symbolischen Ebene vergeblich nach einem annährend gleichwertigen Äquivalent. Dies ist umso erstaunlicher, als das Grundgesetz – mit Hilfe der Westalliierten – aus einer moralischen und politischen Katastrophe, die von den Deutschen selbst herbeigeführt worden war, hervorging, während 1989 einer der wenigen geglückten Momente in der deutschen Geschichte war, in denen „Einigkeit und Recht und Freiheit“ eine erfolgreiche Symbiose bildeten und ein Teil der Deutschen aus eigener Kraft eine Diktatur zum Einstürzen brachte. Wie ist diese Asymmetrie der institutionellen und symbolischen Bedeutung beider Ereignisse, die sich auch im öffentlichen Gedenken in diesem Jahr widerspiegelt, zu erklären?
Das Versagen des nachrevolutionären Denkens
Grundsätzlich gilt für die Erinnerung an den Herbst 1989 das, was für alle historischen Ereignisse von dieser Tragweite gilt: Sie ist nur im Modus der Differenz denkbar, denn Differenz ist ein konstitutives Merkmal von Erinnerung. Die Erinnerung an das gleiche Ereignis differiert nach Epochen, geografischen Standorten, politischen und sozialen Gruppen sowie Generationen (vgl. Möller 2001). Intuitiv würde man annehmen, dass die Differenz in der Erinnerung an dieses Ereignis zwischen Ost- und Westdeutschen am größten ist, vor allem wenn man unterstellt, dass die Differenz der Erinnerung mit der geografischen Distanz zum Ort des Ereignisses wächst. Während die West-Berliner und die Bewohner der westdeutschen grenznahen Städte und Gemeinden die Wucht dieses Ereignisses immerhin noch unmittelbar erlebt haben, lief das Leben in Stuttgart, München und Bremen im Großen und Ganzen in den gewohnten Bahnen weiter.
Dennoch ist diese Sichtweise zu vereinfachend. Der Unterschied in der Erinnerung zwischen einem Mitglied des Neuen Forums und einem Mitglied aus der Führungsebene der SED kann mindestens so groß sein, wie der Unterschied zwischen beiden von ihnen und einem westdeutschen Politiker, der an den Verhandlungen zur Deutschen Einheit beteiligt war. Nicht anders verhält es sich mit einem heute 70jährigen Rentner, der 30 Jahre in Halle in einem volkseigenen Betrieb der DDR gearbeitet hat und dann in der Folge des Einigungsprozesses seine Arbeit verlor, und einem 19jährigen Abiturenten, der 1990 im selben Ort geboren wurde und seine Zukunft noch vor sich hat. Die Frage, ob es trotz dieser konstitutiven Differenz von Erinnerung gelingt, ein einigendes Band des Gedenkens zwischen verschiedenen sozialen und politischen Gruppen sowie Generationen herzustellen und es als Teil des gemeinsamen politischen Selbstverständnisses im kollektiven Gedächtnis einer politischen Gemeinschaft zu verankern, hängt nicht zuletzt davon ab, ob man in der kontroversen Auseinandersetzung um dieses Ereignis zu einer Deutung findet, die von allen geteilt und akzeptiert werden kann. Bisher spricht alles dafür, dass es zu einer solchen gemeinsamen Deutung nicht gekommen ist. Im Gegenteil: Es konkurrieren verschiedene Deutungen, die sich in ihrer Wirkung wechselseitig neutralisieren.
Symptomatisch für das Fehlen einer gemeinsam geteilten Interpretation der Ereignisse von 1989 ist die Tatsache, dass es schon um die nachträgliche politische und historische Einordnung dieser Ereignisse geradezu eine Begriffsverwirrung gibt. Man spricht einerseits von Zusammenbruch, Implosion und Kollaps, andererseits von Umbruch, Aufbruch, Wende oder auch von Revolution – dies allerdings mit sehr verschiedenen Intonationen und Konnotationen. Es konkurrieren nebeneinander die Begriffe friedliche Revolution, protestantische Revolution, nachholende Revolution, Aufhol-Revolution, abgebrochene Revolution, abgetriebene bzw. gestohlene Revolution, missglückte Revolution oder Konterrevolution (vgl. Baule 1996 und Grünbaum 1999). Für den Versuch, zu einer gemeinsamen Einordnung und Deutung der Ereignisse zu kommen und diese im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu verankern, ist diese Kakophonie nicht ohne Konsequenzen geblieben, weil die mit den unterschiedlichen Begriffen assoziierten Charakterisierungen der politischen Vorgänge sich größtenteils wechselseitig ausschließen. Dies wird nicht nur am Antagonismus der beiden Begriffe „friedliche Revolution“ und „Konterrevolution“ deutlich, sondern auch an der fundamentalen Differenz zwischen Revolution und Wende. Der Begriff Wende verleiht den Ereignissen allenfalls das Prädikat eines simplen Politikwechsels, der nichts über die historische Tragweite und die grundlegende Veränderung aller politischen, ökonomischen und sozialen Koordinaten aussagt; der Begriff Konterrevolution, den Vertreter der Kommunistischen Plattform aus der ehemaligen PDS bis heute zur Charakterisierung der Ereignisse gebrauchen, ist zwar im öffentlichen Diskurs immer eine marginale Position geblieben, zeigt aber nichtsdestotrotz, dass in Teilen der alten Staatspartei SED die Bewegung von 1989 als zutiefst reaktionär eingeschätzt wurde. Die reformerische Hauptströmung in der PDS erklärte die postkommunistische Partei dagegen in einem Anflug von geschichtsklitternder Anmaßung zum Teil der demokratischen Massenbewegung, als sie 2003 in die Präambel des neuen PDS-Grundsatzprogramms den Satz aufnahm: „Die Ursprünge unserer Partei liegen im Aufbruch des Herbstes 1989 in der DDR, als wir aus der SED heraus dazu beitragen wollten, die Gesellschaft in der DDR umfassend zu reformieren.“
Angesichts ihrer diffusen und widersprüchlichen begrifflichen und historischen Einordnung lässt sich auch für die Ereignisse von 1989 konstatieren, was Hannah Arendt mit Blick auf den Ausgang der Amerikanischen Revolution einst als Manko ausgemacht hatte, nämlich „das Versagen des nachrevolutionären Denkens, die Unfähigkeit, den Geist der Revolution nachträglich begrifflich zu erfassen und zu artikulieren“ (Hannah Arendt 1986:26). Bereits in den 1990er Jahren wurde in einer Reihe von Beiträgen diskutiert, wie es dazu gekommen ist, dass ein großer Teil der intellektuellen Eliten Ost- und Westdeutschlands der Bewegung für Freiheit in der DDR die Anerkennung als Revolution versagt hat. In ihrem atypischen Verlauf, ohne Blutvergießen und revolutionäre Machtübernahme, entsprachen die Ereignisse nicht den schablonenhaften Vorstellungen postmarxistischer Revolutionsauffassungen. Bernward Baule hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass gerade die Gewaltlosigkeit der Herbstrevolution und das Fehlen eines bereits vorher feststehenden politischen Telos ein Zeichen für den revolutionären Charakter der Ereignisse war. Im Zentrum stand die Erfahrung, im gemeinsamen politischen Handeln mit anderen „eine ungewohnte Mächtigkeit zu bekommen“ und einen neuen „Freiheitsraum des Politischen“ zu schaffen (Baule 1996: 86), ähnlich wie es Hannah Arendt für die Amerikanische Revolution herausgearbeitet hatte (Arendt 1994).
Die Weigerung, der Bewegung in der DDR das Prädikat „Revolution“ zuzugestehen, dürfte aber noch einen anderen Grund haben: die Verbindung des freiheitlichen mit dem nationalen Moment im Laufe des Herbst 1989. Zunächst wurde die Bürgerbewegung hier wie dort mit Hoffnung und Sympathie begleitet. Die ostdeutschen Intellektuellen sahen in ihr den Keim für einen demokratischen Sozialismus in der DDR, während ein Teil der westdeutschen Linken sich einen Impuls aus dem Osten für eine grundlegende Erneuerung der Demokratie auch im Westen erhoffte. Beide Projektionen wurden jedoch durch den raschen Übergang von dem revolutionär gestimmten „Wir sind das Volk“ zum vermeintlich reaktionären „Wir sind ein Volk“ zerstört. Die Tatsache, dass sich für die Charakterisierung dieses Übergangs die Bezeichnung „Wende in der Wende“ sprachlich durchgesetzt hat, zeigt die doppelte Entwertung der friedlichen Revolution. Am deutlichsten tritt dieser Entwertung in der Legende von der „abgetriebenen Revolution“ hervor, die schon relativ früh unter west- und ostdeutschen Intellektuellen zirkulierte. Sie unterstellt bis heute, dass der Bazillus der Wiedervereinigung gewissermaßen vom Westen in die Bürgerbewegungen getragen wurde, um diese zu zersetzen und der DDR einen eigenen „sozialistisch-demokratischen“ Entwicklungsweg zu nehmen. Tatsächlich hatte ein großer Teil der ost- und westdeutschen Intellektuellen das Paradigma der Zweistaatlichkeit als gerechte historische Strafe für die Verbrechen des Nationalsozialismus so stark verinnerlicht, dass ihr eine Bewegung, die „Freiheit und Einheit“ statt „Freiheit und Sozialismus“ verwirklichen wollte, suspekt wurde.
Dass der Ruf nach nationaler Einheit insbesondere unter westdeutschen linken Intellektuellen Aversionen auslöste, ist kaum verwunderlich. In der 68er-Generation hatte sich, als historische Lehre aus der deutschen Geschichte, eine Art „negativer Nationalismus“ herausgebildet, der „Nation“ und „Demokratie“ als natürliche Gegensätze betrachtete (vgl. Huyssen 1994). Den 68ern erschien der Ruf nach Einheit auf den Straßen von Leipzig deshalb wie ein Rückfall in die Vergangenheit, die man in der „postnationalen Konstellation“ längst für überwunden gehalten hatte. Viele linke Intellektuelle waren vor diesem Hintergrund unfähig, in der Verknüpfung von Freiheit und Einheit in der Herbstrevolution von 1989 die republikanische Perspektive eines historisch unvollendeten Projekts zu erkennen, wie sie etwa von Dieter Henrich auf den Begriff gebracht wurde, als er 1991 schrieb: „Die staatliche Einheit der Deutschen in der einen Republik ist nunmehr der Einforderung der Freiheit zu verdanken. So können die Deutschen, die nicht zu den Nationen gehören, die als solche auch eine republikanische Geschichte haben, zum ersten Mal ihre staatliche Einheit auf ein historisches Ereignis gründen, das mit den Gründungsgeschichten der Schweiz, der Niederlande und der Vereinigten Staaten wenigstens in etwa zu vergleichen ist“ (Henrich 1991: 31). Aus einer solchen Perspektive wäre es durchaus möglich gewesen, sowohl das freiheitliche als auch das nationale Moment der Herbstrevolution als eine historische Leistung, die in erster Linie von den Ostdeutschen erbracht worden war, auf eine Stufe mit der Erfolgsgeschichte der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu stellen.
Die Bürgerbewegung und die „leere Stelle der Macht“
Es wäre jedoch zu einfach, die Unfähigkeit, die Ereignisse von 1989 als erfolgreiche politische Freiheitsrevolution in die Gründungsgeschichte des vereinten Deutschland zu integrieren, allein auf das „Versagen des nachrevolutionären Denkens“ zurückzuführen. Dass es – vom Fakt der Einheit und der Errichtung der Behörde für die Stasi-Unterlagen abgesehen – zu keiner anderen relevanten politischen Materialisation und Manifestation des revolutionären Impulses der demokratischen Massenbewegung im Verfassungs- und Institutionengefüge der Bundesrepublik gekommen ist, hängt vor allem mit der Unfähigkeit der damaligen Revolutionäre zusammen, die ihnen von selbst zugewachsene Macht in politischen Einfluss umzumünzen und auf den weiteren Gang der Geschichte substantiellen Einfluss zu nehmen. Selbst in den letzten Wochen des Jahres 1989, als die Bürgerbewegung nochmals hunderttausende Menschen mobilisieren konnte und die Macht im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße lag, waren die Bürgerrechtler überhaupt nicht darauf vorbereitet, die Macht zu übernehmen. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass „selbst dann, wenn die Macht schon auf der Straße liegt, es immer noch einer Gruppe von Menschen [bedarf], die auf diese Eventualität vorbereitet und daher bereit ist, die Macht zu ergreifen und die Verantwortung zu übernehmen“ (Arendt 1987: 50). Die Bürgerbewegung hatte jedoch, so Joachim Gauck, „ein gespanntes Verhältnis zur Macht, denn sie bestand aus Menschen, die Macht immer nur als antidemokratische Macht erlebt hatten. Es war quasi ein Tugend, Macht zu hinterfragen und nicht zu übernehmen“ (Gauck 1993: 108).
Mit ihrer Einstellung folgten die Bürgerrechtler unfreiwillig einem Verständnis von Macht, das Macht auf Herrschaftsausübung und die Inanspruchnahme des staatlichen Gewaltmonopols reduziert. Hannah Arendt hat durch ihre Unterscheidung von Macht und Gewalt eine grundsätzliche andere Antwort auf die Frage gegeben, was Macht ist. „Macht“, so schreibt sie, „entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (Arendt 1987: 45). Besonders hebt Arendt die Bedeutung des Machtursprungs hervor: „Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus der Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt“ (Arendt 1970: 53).
Die Legitimität und Autorität, die aus diesem Gründungsakt erwächst, kann aber nur überdauern, wenn Institutionen geschaffen werden, in denen diese Autorität symbolisiert und gesichert wird. Bruce Ackermann hat darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit einer nicht nur politisch-institutionellen, sondern auch symbolischen Verankerung „revolutionärer“ Erfahrungen nach erfolgreichen Revolutionen nur innerhalb eines kurzen Zeitfensters existiert (Ackermann 1992: 46). Ob eine derartige Verankerung mit prägender Kraft für die Zukunft, z. B. im Rahmen von Verfassungsgebungen, gelingt, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der Revolutionäre ab, die von einer Bewegung verfolgten allgemeinen Leitprinzipien „in eine feste Form zu gießen“ (Ackermann 1992: 48), bevor sie auf dem Altar neuer, partikularer Interessen geopfert werden.
Folgt man Arendts und Ackermanns Überlegungen, dann stand den führenden Vertretern der Bürgerbewegungen in einem begrenzten historischen Zeitfenster die Möglichkeit offen, die aus ihrem Machtursprung erwachsene Autorität in politische Macht umzusetzen und zu institutionalisieren. Der von Bürgerrechtlern erzwungene Runde Tisch konnte zwar als Moderations- und Übergangsorgan unter Beteiligung der alten Eliten einen friedlichen Machtwechsel garantieren, aber er war kein Ersatz für eine Übernahme der Macht. Insofern hat der führende Kern der Bürgerbewegungen es versäumt, sich zu einem Zeitpunkt, als die politischen Chancenstrukturen ihnen maximalen Einfluss garantierten, die real und symbolisch „leere Stelle der Macht“[1] anzueignen. Nur auf dieser Basis hätten sie sich später als legitime Vertreter der Freiheitsrevolution erfolgreich in den Prozess der Gestaltung der deutschen Einheit, einschließlich der Verfassungsgebung, einbringen können. Bärbel Bohley hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zum zwanzigsten Jahrestag der Herbst 1989 dieses Versäumnis noch einmal treffend charakterisiert: „Wir haben unsere Chance verpasst. Wir Bürgerrechtler haben auf unsere Weise auch zu eng gedacht. Wir scheiterten daran, diese Veränderungen selbst zu steuern, die wir losgetreten haben. […] Heute denke ich, wir hätten damals unsere Macht wahrnehmen und in Bonn vertreten müssen: Wer war, bitte schön, der Herr Krause? Und wer war Herr Diestel? Diese Herren, die plötzlich mit Kohl verhandelten, kannte niemand. Wir vom Neuen Forum hätten den Einigungsvertrag mitbasteln sollen“ (Bohley 2009). Stattdessen haben sich die Bürgerrechtler als „Minister ohne Geschäftsbereich“ mit einer Rolle am Katzentisch begnügt, als die Modrow-Regierung im Februar 1990 nach Bonn reiste, um mit Helmut Kohl über die Vorbereitung einer Währungs- und Wirtschaftsgemeinschaft zwischen den beiden deutschen Staaten zu verhandeln. Spätestens nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer, als die „Allianz für Deutschland“ einen überwältigenden Sieg verzeichnen konnte, waren die Bürgerbewegungen dann nur noch Statisten im weiteren Prozess der Deutschen Einheit.
Das verblichene und heimatlose Erbe der Bürgerbewegung
Dass die Bürgerbewegungen im kollektiven Gedächtnis der Deutschen heute nur noch als Fußnote eine Rolle spielen, hat also mit ihrer eigenen Machtverweigerung mindestens ebenso viel zu tun wie mit der Weigerung der intellektuellen Eliten, die Ereignisse von 1989 als Freiheitsrevolution anzuerkennen. Die Tendenz zur Historisierung, Ritualisierung und Musealisierung dieser Ereignisse ist vor diesem Hintergrund in gewisser Weise sogar konsequent. Viele Westdeutsche werden allenfalls durch den Solidaritätszuschlag daran erinnert, dass sich vor 20 Jahren auch für sie etwas Grundlegendes verändert hat, während ein Teil der Ostdeutschen immer noch mit den Folgen ihres eigenen Tuns hadert. Der zivilgesellschaftliche Impuls, der von der Bürgerbewegung im Herbst 1989 ausging, wird dieses Jahr in vielen Reden erneut beschworen werden, aber bisher hat sich niemand angeschickt, das Erbe der Bürgerbewegungen anzutreten. Dies ist umso erstaunlicher, als die Parteiendemokratie in einer veritablen Krise steckt und das Misstrauen in die Fähigkeit der Parteien heute in ganz Deutschland größer ist denn je. Alle Versuche einer Neubelebung der Bürgerbewegung sind bisher jedoch im Sande verlaufen. Selbst die Partei, die sich als kongenialer Partner der Bürgerbewegungen verstanden hat und den Namen „Bündnis 90“ heute noch in ihrem Namen trägt, weiß mit dem politischen Erbe der Freiheitsrevolution – außer einem Lippenbekenntnis – nicht so richtig etwas anzufangen. Im Entwurf für das Programm zur Bundestagswahl 2009 heißt es zwar: „Das Erbe der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR und den osteuropäischen Staaten ist heute – 20 Jahre nach Mauerfall und friedlicher Revolution – aktueller denn je: Im Mittelpunkt grüner Politik, so heißt es im ersten Satz unseres Grundsatzprogramms, steht der Mensch mit seiner Würde und seiner Freiheit“, aber was mit Freiheit gemeint ist, bleibt im Vagen, wenn es im Programmentwurf weiter heißt: „Freiheit heißt Emanzipation, heißt gleiche Rechte – und Freiheit gilt für alle“ (Entwurf für das Bundestagswahlprogramm 2009). Da klingt in den Formulierungen doch eher das Erbe der 68er durch als das republikanisch-freiheitliche Erbe der Revolutionäre von 1989, denen es weniger um Emanzipation als vielmehr um Freiheit in einem substantiellen Sinne ging. Dazu passt, dass sich die Spuren der Bürgerbewegung in den Grünen längst verloren haben und allenfalls noch symbolischer Natur sind. Für Werner Schulz hat es gerade noch zu einem sicheren Platz auf der Liste der Grünen zur Europawahl gereicht. Es bleibt der Eindruck, dass die Freiheitsrevolution von 1989 uns heute nicht mehr viel zusagen hat, erst recht nicht in einer Situation, in der Deutschland im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise gegenwärtig einen der einschneidendsten Momente seiner Nachkriegsgeschichte erlebt. Auch wenn die Auswirkungen der Krise im alltäglichen Leben bisher kaum zu spüren sind, ist dennoch absehbar, dass das stark auf ökonomischen Erfolg ausgerichtete Denken, welches die politische Kultur seit der Gründung der Bundesrepublik nachhaltig geprägt hat, in den nächsten Monaten einen empfindlichen Dämpfer bekommen wird. Gefestigte politische Gemeinwesen greifen in solchen Momenten der Krise auf ein Repertoire an Gründungsmythen, politischen Zäsuren und Traditionen zurück, um sich ihrer selbst und ihrer Stärke, auch schwierige Situationen zu meistern, zu vergewissern. Barack Obama hat in seinem Präsidentschaftswahlkampf vorgeführt, wie man im Angesicht der Herausforderungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise die politische Nation durch den Rückgriff auf die Gründungsmythen der USA um sich scharen und vereinen kann. Insofern könnte von der Berufung auf die Freiheitsrevolution von 1989 sowie die daraus entstandene Deutsche Einheit mit ihren Verwerfungen und Schwierigkeiten durchaus ein wichtiges Signal ausgehen, nämlich die Zuversicht, dass man durch gemeinsames Handeln Krisen und schwierige Situationen bewältigen kann. Es ist bezeichnend, dass Angela Merkel, die ihre politische Karriere 1989 einst im Demokratischen Aufbruch begann, die einzige ist, die bisher auf diesen Zusammenhang hingewiesen hat.
[1] Vgl. dazu die Ausführungen von Ulrich Rödel u.a.(1989: 90). Im Rahmen ihrer zivilgesellschaftlichen Theorie gehen Rödel, Frankenberg und Dubiel in Anlehnung an Claude Lefort vom „symbolischen Dispositiv der Demokratie“ aus. Sie verstehen darunter „die Selbst-Instituierung einer autonomen Zivilgesellschaft, vermittelt durch die Herstellung einer Sphäre des Öffentlichen und Politischen gegenüber der leeren Stelle der Macht“.
Literatur
Arendt, Hannah (1987): Macht und Gewalt, 6. Auflage. München.
Arendt, Hannah (1994): Über die Revolution, 4. Auflage. München.
Baule, Bernward (1996): Freiheit und Revolution. Die Bedeutung von 1989 für die Berliner Republik, in: Baule, Bernward (Hrsg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das vereinigte Deutschland, Berlin.
Bohley, Bärbel (2009): Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 10.01. (siehe http://www.baerbelbohley.de/interviews/SZ_090110-11.htm, Zugriff am 20.3.2009).
Entwurf des Bundestagswahlprogramm 2009 von Bündnis 90/Die Grünen (siehe http://www.gruene.de/einzelansicht/artikel/unsere-koordinaten-klima-gerechtigkeit-freiheit.html, Zugriff am 20.3.2009).
Gauck, Joachim (1993): Interview mit Lothar Probst, in: Probst, Lothar, ‚Der Norden wacht auf!‘ Zur Geschichte des politischen Umbruchs 1989 in Rostock. Bremen.
Grünbaum, Robert (1999): Eine Revolution in Deutschland? Der Charakter des Umbruchs in der DDR von 1989/90, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft Nr. 7/8, Geschichte der DDR, S. 438-451.
Henrich, Dieter (1991): Deutsche Identitäten nach der Teilung, in: Politisches Jahrbuch, Stuttgart 1991, S. 31.
Huyssen, Andreas (1994): Wider den negativen Nationalismus, in: Meyer-Gosau, Frauke/Emmerich/ Wolfgang (Hrsg.), Gewalt -Faszination und Furcht. Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland, Heft 1.
Möller, Horst (2001): Erinnerungen(en), Geschichte, Identität, in: APuZ, B 28, S. 8-14.
Schulze, Ingo (2009): Mein Westen. Eine Erinnerung an den Beitritt der DDR zur BRD, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 55 vom 7./8. März, S. 13.
Rödel, Ulrich/ Frankenberg, Günter/Dubiel, Helmut (1989): Die demokratische Frage. Frankfurt a.M.