Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Empörung - Wunschtraum - Realität

Ein hessischer Blick auf das Wahljahr 2009

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 123-132

„… auf welch furchtbare, unbegreifliche Weise die banalsten, zufälligsten und sogar komischsten Entscheidungen die unverhältnismäßigsten Folgen haben können.“ (Philip Roth 2008)

Klar! Eine Wahlanalyse ist eine Wahlanalyse und schwankt zwischen Polen wie Anwendung und Beratung und/oder Grundlagenforschung um neue Akzente wie Wahlkampf, Medienwirkung und Wählerpartei.[1] Kognitiv dreht es sich um den Kommentar zur „Baustelle Deutschland“ (Walter) mit ihrem Schwund an Partei- und Wahlpolitischer Integration und Sinngebung. Jedoch, eine Wahlanalyse ist auch mehr. Die Wahlmöglichkeiten und Wege zur Wahlenthaltung beim Abbau alter und dem Aufbau neuer Muster verlangen Deutung. So kann man die fulminante Rede des konservativen College-Direktors in Philip Roths Roman „Empörung“ lesen[2], um die Geste des empörten Protests zu verstehen. Die Empörung über die empörend dargestellte Realpolitik und Realökonomie zu verstehen, ist ein Schlüssel für die Wahl- und Wählerforschung.

Bei Freud heißt es, die Welt sei zu schwierig für Menschen, besonders für Einzelne, ohne Hoffnung auf evolutionäre oder kollektive Lösungen. Aufklärung und Selbstbestimmung reiben sich an diesem Realitätsprinzip mit unbehausten Trieben, Grenzen und knappen Ressourcen. Bilder der Gleichheit, politische Normen der gerechten Verteilung von Reichtum stehen dagegen. Hohe soziale Kosten verbindet auch Marx mit der Realität der kapitalistischen Dynamik, nur durch Kampf und Revolution gelangt die gespaltene kapitalistische Gesellschaft endlich zum irdischen Paradies der freien Gesellschaft. Für Marx verdampfen soziale Strukturen und Werte, kapitalistische Verhältnisse und Kräfte führen zu bitteren Krisen, zum konzentrierten Verschwinden großer Unternehmen. Dies nährt gerechte Empörung. Empörend dagegen sind die Konservatoren der kapitalistischen Verwertung. Für Anhänger des Realitätsprinzips soll Politik, neoliberal, dem Markt und der ökonomischen Rationalität dienen, dagegen wollen Politiken der Empörung die interessenbedingte, von Menschen gemachte Katastrophe hemmen und sozial wie demokratisch eine Welt gegenüber globalen Kapitelinteressen gestalten. Interessen gegen „die Erde“, empörend oder empört: Was wollen „Wir“?[3] Zu diesem „Wir“ gehört mit gespürter Gewissheit „eine Mehrheit für eine moderne und sozial gerechte Politik“, das wissen – z. B. von Landesbischöfin Käßmann bis Bundespräsident Köhler – viele Mitglieder einer empört normativen Elite. Vor allem als Politiker verstehen sie ihre Performanz als Werbung und Kampf um diese Mehrheit. Deren Erweckung behindern empörende Realpolitiker (wie Roland Koch) und Medien, z.B. ist von demagogischer Raserei (I. Nagel), Hexenjagd (M. Hecht) und einer Attacke des parteipolitischen und publizistischen Patriarchats (F. Alt) die Rede, wenn die Niederlage Andrea Ypsilantis erklärt werden soll.[4]

Was hat dies mit Hessen zu tun? – Nun: Roland Koch macht 2008 gegen jugendliche, nicht-deutsche Kriminelle per „Warnschussarrest“ Schluss mit „Kuschelpädagogik“ (nennt dies dennoch Integration), sein Mut zu unpopulären Maßnahmen kokettiert mit dem Realitätsprinzip; selbst Parteigenossen wünschen, er möge „Ehrgeiz“ entwickeln, „auch als Mensch gewählt zu werden.“[5] Koch wirkt empörend, sein extremer Pragmatismus, sein Spiel mit Exklusion nährt Vorurteile. Dagegen empört sich Ypsilanti: „Es gibt eine klare Mehrheit für einen Politikwechsel und den Aufbruch in das, was ich Soziale Moderne nenne.“[6] Ihre Themen wie bessere Bildung, erneuerbare Energien, „gerechter Lohn für gute Arbeit“, Vereinbarkeit von Familie und Beruf kreisen um soziale Gerechtigkeit. Sie reife, verlautbart die SPD, von der aufmüpfigen Linken zur „Herausforderin Kochs in Hessen.“

Thema und Thema­ti­sie­rung

Es geht um jene vielfältigen Bewegungen von Wählern und Parteien, wie sie in Hessen seit Wallmanns Wahlerfolgen für die CDU (1987) und besonders 2008 und 2009 wahlbestimmend werden. Hessen eignet sich als Parabel der stillen Erosion von Massenintegration. Vor allem lässt sich der Niedergang der Sozialdemokratie am Weg von Zinn zu Ypsilanti und Schäfer-Gümbel studieren.

Hessen als Gleichnis und Brennspiegel: Mit seinen großen Landesteilen, dem stabileren, ruralen, demographisch und ökonomisch schrumpfenden Norden und dem dynamischeren, wissensgesellschaftlichen, städtischen Süden, mit seinen wertkonservativen oder neoliberalen Enklaven, mit dem fließenden Kampf zwischen rot und schwarz sowie der seit 1984 etablierten real-grünen Partei, mit seinen an sich selbst berauschten Parteien und dem sich sowohl verabschiedenden wie wählerisch werdenden Souverän zeigt Hessen allgemeines. Sogar für neue, die Stamokap-Volksfront von CDU bis zur Linken mit ihren verschiedenen politischen Milieus[7] verbundenen Varianten von der Bürgschaft bis zur Direktintervention liefert Opel in Rüsselsheim ein Fallbeispiel.

Hinsichtlich des politischen Systems werden Wähler bzw. Nichtwähler und Parteien betrachtet. Leitende Fragen sind: Wer bewegt sich wohin? Was wird aus Volksparteien? Was wird aus der Sozialdemokratie, hat sie im hessischen Zustand noch eine Funktion? Etabliert sich im Zusammenspiel des Zerfalls der SPD und zunehmenden Nichtwählern ein Fünfparteiensystem?[8] Ergibt sich somit aus dem Zerfall des alten Parteiensystems, das von den Volksparteien als „catch all parties“ mit übergreifender Integration bestimmt worden ist, eine neue, schwächer legitimierte post-demokratische Ordnung[9] mit Wahlenthaltung, dem Wechsel zwischen Parteien und „zivilgesellschaftlicher“ Partizipation?

Nach dem Blick auf Hessen, stellt sich die Frage, was lässt sich folgern für das Superwahljahr 2009 mit den auf die hessische Landtagswahl vom 18. Januar folgenden 14 Wahlen bis zur Bundestagswahl am 27. September? Es geht um die von einer hessischen Wahlanalyse ausgehende Deutung der immer größer werdenden Abwrackstelle politischer Integration.[10] Dabei schreibt Hessen Beispiele für Integrationsgeschichten: Bis 1970 ist es rot-integriert, von 1978 bis 1983 regt sich eine an die Dienstleistungsindustrien anschließende, ergrünende, selbst-reflexivere Sozialdemokratie, von 1987 bis 1991 bricht das Land schwarz auf, das Stadtbild Frankfurts zeigt dies; ab 1991 oder 1999 obsiegen dann pragmatisch-radikale Technokraten, die Buchhalter aller Parteien. Integrierende Ausfallbürgschaften, die Sache der Polis gegen rapiden Wandel werden zurückgenommen.[11] Vor allem für den Wandel der Großparteien und ihrer Wähler liefert das post-sozialdemokratische Hessen Beispiele, um Bundestrends im „Superwahljahr“ 2009 zu diskutieren. Immerhin fällt die hessische SPD 2009 auf 24 Prozent der gültigen Stimmen und 13 Prozent der Wahlberechtigten, anders als in Nordhessen verliert sie vor allem in Frankfurt und dem Frankfurter Umland; in südhessischen Stadtregionen besonders in Darmstadt und Frankfurt a. M. nähern sich CDU, SPD, Grüne und FDP einander an.

Alles fließt

Die allgemeinen Tendenzen Enttraditionalisierung und Individualisierung, der Abbau vormaliger Identifikationen mit politischen Milieus und Parteibindungen, fallweises Wählen und Nichtwählen je nach den Ereignissen, Angeboten und Kandidaten sind in Hessen ausgeprägt.[12] Zum Landtag und den Kommunalparlamenten wird wenig konservativ gewählt. Die abnehmende Konzentration auf Volksparteien und die Ausweitung des Parteiensystems prägt die hessische Wähler – wie Parteienlandschaft. Die Grünen etablieren sich in Hessen früh und fechten hier intensiv ihre Realo-Fundi-Differenzen aus, rechte Parteien treten 1989/90 und 1993 aus dem Stand kurz ins Rampenlicht, die Linke zieht 2008 in den Landtag ein und behauptet sich 2009. In beiden Lagern um SPD und CDU werden kleine Parteien bedeutender. All dies bestimmt Hessen ebenso wie der ausgeprägte Wechsel zwischen den Wahlebenen von der sozialdemokratischen Bundestagswahl, zur christdemokratischen Landesebene und den wahlmüden Kommunen. Die hessische Wählerschaft hat wählen gelernt und präsentiert auch (ohne jede Machtfrage[13]) alle Typen der Nichtwähler, von der notorischen Absage, dem interessierten Abwägen bis zum nachvollziehbaren Protest (auch ungültiger Stimmen). Die bei den Landtagswahlen von 2003 bis 2009 zu beobachtenden rapiden Änderungen gerade der Großparteien ebenso wie die Zugewinne von FDP und Grünen verlieren ihren außergewöhnlichen Charakter, wenn sie auf die Entwicklungen bezogen werden. Die Dynamik der letzten Wahlen zeichnet sich ab, wenn die Sprünge zwischen den unterschiedlichen Wahlebenen ins Auge gefasst werden.

Wahlen in Hessen 1998 – 2009 (in Prozent der gültigen Stimmen)

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Betrachtet man seit 1998 alle Wahlen zum Bundes- und Landtag (BT, LT), zum Europaparlament und zu den Kommunalparlamenten, bezieht man die Vorläufer der im Juli 2004 gegründeten Linken mit ein, dann werden bei abnehmender Beteiligung das Ausmaß der Wählerbewegungen und die teilweise abrupten, kurzfristigen Wechsel erkenntlich. Die Bedeutung längerfristig eingebundener Wähler, der gewerkschaftlich wie christlich orientierten Stammwähler, nimmt ab und lässt Kontinuität wie Berechenbarkeit schwinden. Die Wähleranteile der Großparteien, besonders der SPD, zeichnen sich durch erhebliche Schwankungen aus. Auch die Nichtwählerquoten wechseln. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Extreme 1998 und 2004 fast um 1,9 Millionen bzw. 40 Prozent der Wahlberechtigten. 2009 beträgt der Anteil der FDP an der „bürgerlichen“ Koalition 30 Prozent gegenüber 20 Prozent 2008. Die Bedeutung der Grünen für rotgrün steigt sogar von 17 auf 37 Prozent. Dieses Anwachsen der kleinen Parteien bzw. die regionale Angleichung überhaupt der Parteianteile in Stadtregionen sind Indizien für Wechsel und Austausch, für die strategisch rationale Auswahl zugunsten der kleineren Partner im jeweiligen Lager. Voraussetzung dieser Politisierung ist das zunehmende Nichtwählen und die schwindende Bedeutung der Volksparteien als Leitparteien. 2009 bestimmt dies den Aufschwung der FDP neben der CDU und der Grünen neben der SPD. (Vergleichbar treten am 28. September 2008 in Bayern die freien Wähler und die FDP an die Seite der um 17 Prozentpunkte gefallenen CSU.) Dem grünen Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir fällt nach Ypsilantis Rücktritt (und der Wahl Schäfer-Gümbels an die SPD-Spitze14) die Oppositionsführung gegen Koch zu.

Kurzfristige Schwankungen und Entscheidungen werden bestimmend, geleitet – neben Enthaltungsmotiven – von der funktionellen Bedeutung der kleineren Parteien im Zusammenspiel des Lagers. Vor allem CDU-Wähler können sich vorstellen, die FDP zu wählen (und umgedreht). Dieser Wechsel ist dann kein Nullsummenspiel, wenn gleichzeitig und kurzfristig (eben nur für diese Wahl) Wähler der anderen großen Partei gewonnen werden. 1999 und 2003 gelingt dies der CDU, 2008 gewinnt die SPD dank Ypsilanti und Kochs (laut Zeit) „unappetitlichem“ Ton gegen ausländische (kriminelle) Jugendlicher. 2009 ist keine Großpartei ein Magnet, keine mobilisiert, sie verlieren zu 2008 als „Gewinner“ 46.000 (CDU) bzw. 392.000 (SPD). Damit verabschieden sich 15 Prozent der Wahlberechtigten von den Großparteien. Gewinner sind die Kleinen, die FDP vor allem. Mit 19 bzw. 13 Prozent der Wahlberechtigten verhindern die großen Parteien nicht das Nichtwählen (45 Prozent). Die mangelnde Attraktivität und Mobilisierung der Großparteien wird bestimmend.

Landtagswahl 2009 in Hessen: Nichtwähler und Parteianteile (in % der Wahlberechtigten)
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Im Zeitraum von 1998 bis 2009 variieren die Wählerschaften der CDU beim Vergleich des Maximal- und Minimalwerts um 370.000 Stimmen bzw. 9 Prozent des Durchschnitts der Wahlberechtigten (das ist ein Drittel der CDU-Wähler 2009). Für die SPD beträgt dieser Wert sogar 870.000 Wähler bzw. 20 Prozent der Wahlberechtigten (dies übertrifft das SPD-Ergebnis 2009). Die FDP-Anteile dieser 10 Jahre ändern sich um 8 Prozent, die der Grünen um 4 Prozent des Durchschnitts der Wahlberechtigten. Auf die Größen gemünzt bedeutet dies 2009, jeder FDP-Wähler, jeder zweite grüne Wähler hat schon einmal anders gewählt. Diese Betrachtung veranschaulicht die Schwankungen bzw. die schwache Haltequote, die Bedeutung der mal wählenden, mal enthaltsamen, kurzfristig mal für diese, mal für jene Partei votierenden Wählerinnen und Wähler ist erheblich. Von Wahl zu Wahl und je nach Wahlebene muss die Wählerschaft in erheblichen Teilen jeweils neu bzw. erneut gewonnen werden. Die Parteiidentifikation schwindet und öffnet Raum für punktuelle Ergebnisse und Koalitionen. Momentane Konstellationen, Kandidaten, deren Reputation und Themen, also die Performanz der Parteien besonders im Wahlkampf gewinnen an Bedeutung, Tradition und Identifikation treten zurück. Die Differenz von Stimmung (bzw. Umfrage) und Abstimmung wächst, die Wahlentscheidung verlagert sich in die letzten Tage, ja, bis in die Kabine. Strategische Pluspunkte oder Fehler der Spitzenkandidaten, selbst externe Faktoren wie ein Hochwasser werden maßgeblich, wie die Bundestagswahlen 1998 und 2002 zeigen. Die hessischen Landtagswahlkämpfe 2008 und 2009 demonstrieren, wie wahlwirksam die Residualeinflüsse um die Themen und Kandidaten geworden sind.

2008 kann die SPD mit Andrea Ypsilanti, einer in der Partei, im „Apparat“ aufgewachsenen „Newcomerin“, etwas vom 1999 und 2003 verlorenen Terrain zurückgewinnen. Rund 200.000 kommen zurück. Der Erfolg verstellt zunächst den Blick. Ypsilanti, ihr Schattenkabinett und die Landtagsfraktion brechen mit dem klassischen Profil der hessischen SPD, einmal (2007/08 bis in die Wahlnacht) kann sie im Ruch einer ehrlichen (Nicht)Politikerin, bedacht auf einen neuen (sich von Koch absetzenden) Stil Stimmen sammeln. Danach besiegt sich Ypsilanti selbst und die SPD. Zwei Versuche eine rot-grüne Koalition unter Duldung der Linken zu bilden scheitern an Widersachern aus der eigenen Partei. Dies verweist auf erhebliche Kompetenz- und Beratungsprobleme. Mehrheitlich besteht das Führungspersonal der SPD, auch die 2009 weitestgehend über Listen gewählte Landtagsfraktion, aus Berufspolitikern ohne die klassische SPD-Erfahrung und Legitimation als Bürgermeister und Landrat. Auch der Transfer von der Lebenswelt, der Basis, zum System bricht damit ab. Es dominiert die Gesinnungsethik eines Politikertyps, der seine Maximen nicht auf eine Praxis außerhalb der Partei, auf basale, erfahrungsgesättigte Kommunikation und Direktwahlen mit Rückkopplungen begründet. Verankert sind diese empörten Politiker nicht mehr als Tribunen und legitimierte Stadt- bzw. Landesmütter bzw. -väter, sondern als Funktionäre ihrer dialogisch-demokratisch und alltäglich kaum mehr geprüften Partei. Karriereplanung, Befinden und Empörung ersetzen Kompetenz und Analyse, ist doch, „postkolonial“, „postempirisch“, je nach „turn“, alles sowieso so oder so interpretierbar.[15]

Selbst mit ideologischen Zuspitzungen kann dieser Typus nicht verhindern, dass Teile der Klientel aus den Gewerkschaften und der SPD zur Linken gehen. Das Ziel, der schon gegen Schröder links opponierenden hessischen SPD, nämlich links-sozialdemokratisch den Einzug der Linken ins Parlament zu verhindern, wird nicht erreicht. 2008 und 2009 wählen rund 140.000 (3 Prozent der Wahlberechtigten) mit 5,1 oder 5,4 Prozent der gültigen Stimmen die Linke (am 27. Januar 2008 kommt sie auch in Niedersachsen in den Landtag mit 4 Prozent der Wahlberechtigten oder 7,1 Prozent der gültigen Stimmen). Trotz aller Gerechtigkeitsforderungen seitens der SPD und der Grünen etabliert sich links eine auch immanente Kritik an der SPD. Infratest attestiert der Linken die größte Zustimmung für das Kompetenzmerkmal Gerechtigkeit. Unbeeinflussbar durch SPD (und Grüne) wiederholt die Linke in Hessen zweimal ihren Wahlerfolg. Sie findet unabhängig von der Wahlbeteiligung ihre Wähler (2009 korrelieren Linke und Nichtwähler r = .11, im Quintil mit höchsten Nichtwählern nur r = .01). Unter gegenwärtigen Bedingungen sind diese sozial unauffälligen, lediglich formal etwas höher gebildeten Wähler von anderen Parteien nicht zu erreichen. Die Korrelationen der Linkswähler mit anderen Parteien sind unbedeutend (und betragen maximal r = -.36 zur CDU). 2008 verlieren die Grünen städtische Wähler in der Zange zwischen SPD und Linken, 2009 verliert die SPD wegen unklarer Tolerierungs- oder Koalitionsaussagen, aber auch aufgrund von funktionellen Wählerüberlegungen. Die Wähler tolerieren die Linke zwar als Partei neben anderen, lehnen aber alle Absprachen und Duldungen mit der Linken für eine rot-grüne Koalition ab. Dies negiert die SPD unter Ypsilanti.

Kochs Wahlkampf gegen „kriminelle junge Ausländer“ will 2008 an das chauvinistische Erfolgsrezept von 1999 (mit der Kampagne „Ja zur Integration – Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“) anknüpfen. 1999 bringt dieser Wahlkampf der CDU einen Zugewinn an Stimmen aus der Arbeiterschaft. 2008 stellt Koch aber, zudem mit falscher Schärfe ein Thema ohne Konjunktur vor. Die Themensetzung misslingt, spielt dem Gegner Empörung zu und verliert dann bei dem als Feinderklärung gebrachten Schlussplakat „Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten“ jeden Stil. Koch bricht das Gebot des Pragmatismus, verletzt das Image des Ministerpräsidenten und wird bis in die eigene Wählerschaft hinein als der extreme Scharfmacher gesehen. Ihm werden Durchsetzung und Kompetenz, nicht aber Sympathie und Glaubwürdigkeit zugesprochen. Er polarisiert 2008, und trotz seiner Zurückhaltung 2009 bleibt sein Bild das des „brutalstmöglichen“ Buhmanns. SPD, Grüne und Linke können mit Empörung und der Parole: „Koch muss weg“ den Wahlkampf gestalten. Die Wahlanalyse der CDU- nahen Adenauer-Stiftung zitiert aus einer Umfrage von Infratest dimap vom Dezember 2008, dass 53 Prozent der Aussage: „Es wird Zeit, dass Roland Koch abgewählt wird“ eher zustimmen (44 Prozent lehnen eher ab). 2009 mutiert der Ministerpräsident zum „Kuschel-Koch“ (FGW) ohne seinem Image ausweichen zu können. Bei schwindender Identifikation ist dieses feste Bild des Spitzenkandidaten ein Malus für die CDU. Dagegen kann sich selbst ein Neuling wie Schäfer-Gümbel in nur 70 Tagen Wahlkampf gut aufbauen.

Die beiden kurzen und schroffen bis feindseligen Wahlkämpfe 2008 wie 2009 erhöhen die Wahlbeteiligung nicht, anziehend wirken die Politikbilder aller Parteien nicht. Nur die Grünen ziehen überdurchschnittlich Jungwähler, vor allem junge Frauen an (noch überdurchschnittlicher aber gewinnen sie 2009 bei Frauen im Alter von 30 bis 44 Jahre). SPD, FDP und Linke sind 2009 altersneutral, die CDU sieht alt aus, wenngleich sie gerade in der Gruppe der über 60jährigen Frauen deutlich verliert. Vor allem beide Großparteien verlieren 2009 stark an die Nichtwähler (und an ihre funktionalen Partner).

Zusam­men­fas­sung und Ausblick zum Super­wahl­jahr 2009

Bei den hessischen Wahlen bildeten sich, besonders von 2003 bis 2009, einige neue, wenig integrative Charakteristika heraus:

– letztlich (2008/09) das Fünfparteiensystem

– wechselnde, kurzfristig aus der Situation, der Performanz, dem Wahlkampf beeinflusste Wahlentscheidungen

– die bis in die „bürgerlichen“ Milieus der Leistungsindividualisten, der Bildungselite und Engagierten seit 1999 immer wieder mobilisierbare Empörung
über Roland Koch (und die „Tankstellen-Connection“[16])

– das neue Empörungs- alias Kompetenzprofil und der Zerfall der SPD

– knappe Mehrheiten

– eine verbreitete, schleichende, keine Machtfrage stellende, sondern sich unauffällig leise verabschiedende, individualisierende Unzufriedenheit bzw. Wahlabwägung. Nicht nur Groß- und Mittelstädte, sondern auch vornehme Viertel im Taunus, in Bad Soden, Kronberg, Königstein, zeichnen sich durch geringe Wahlbeteiligung aus. Ein Frankfurter Wahlbezirk verzeichnet 2009 nur noch 20 Prozent Wähler!

Es lassen sich 2009 in Hessen über alle 5462 Wahlbezirke und 4,4 Millionen Wahlberechtigte folgende Zusammenhänge der Wähleranteile feststellen: CDU und FDP bei hoher Wahlbeteiligung, Grüne und Linke bei niedrigen CDU-Anteilen, SPD bei höherer Wahlbeteiligung. Diese Muster ergeben sich, wenn die Parteianteile und Nichtwähler (in Prozent der Wahlberechtigten) einer Faktorenanalyse (Hauptkomponenten, Varimax) unterzogen werden. Schwerpunkte von CDU und FDP finden sich in Verbindung, während die SPD (wie bei ihrem Wahlsieg 2008) besondere, eigene Schwerpunkte ausbildet. Das Zusammentreffen mit höherer Wahlbeteiligung zeigt, wie wichtig eine gute Mobilisierung für das Abschneiden der SPD ist. Das Abschneiden der SPD im Bund dürfte im Herbst 2009 hiervor abhängen, ob und wie diese Mobilisierung über die letzten Stammwähler hinaus bei möglichen SPD-Wählern gelingt.

Ein Novum sind vor allem die sich seit 2003 ausbildenden städtischen Zonen der Annäherung von SPD, CDU und Grünen[17]. 2009 weiten sich diese Zonen regional aus. Aus der Besonderheit des CDU-FDP-Binnenaustauschs ergeben sich 2009 sogar Zonen mit etwa gleichen Anteilen von CDU, SPD, Grünen und FDP. Die Wahlbezirke liegen überwiegend in besonders Dienstleistungs- und wissensgesellschaftlich geprägten, urbanen Stadträumen, besonders in Darmstadt und Frankfurt a. M. Vom Erscheinungsbild her sind es gentrifizierte Gründerzeitviertel, Gewinner und Verlierer, Bildungseliten, Leistungsindividualisten und prekär gestellte Engagierte und Gebildete wohnen nebeneinander. Bei der Bundestagwahl 2005 ist dieses Muster allerdings nicht zu erkennen. Bei Wahlen auf Bundesebene ist in Hessen diese Verflüssigung nicht zu finden.

Die Ergebnisse der Landtagswahlen 2008 in Hessen wie in Bayern verweisen die Union darauf, dass sie um die Wähler der Mitte kämpfen muss. Ein polarisierender Spitzenkandidat hilft dabei nicht. Dies zeigt auch der Vergleich Hessens mit Hamburg und Niedersachsen. Beim Kampf um die Mitte können CDU-Verluste bedingt nur durch FDP-Gewinne aufgefangen werden. 2009 tritt die Schwäche der links orientierten SPD in der verfestigten Konkurrenz mit zwei weiteren linken Parteien zu Tage. Beide Wahlen demonstrieren das geringe Mobilisierungsvermögen der Großparteien. Schwache Mobilisierung, Wechsel- und Nichtwähler werden auch das Bild der Bundestagswahl prägen. Die Polarisierung der Spitzenpolitiker auch der Kleinparteien ist eine hessische Besonderheit. Die Kandidaten auf Bundesebenen präsentieren sich umgänglicher. Wahlkommentare (FGW, Infratest und Adenauer-Stiftung) zur hessischen Wahl 2009 heben die Bedeutung von Spitzenkandidaten gerade für späte Wahlentscheidungen hervor.

Hessen tauge „nur sehr bedingt“ für Schlussfolgerungen für die Bundesebene, die Gründe für das Wahlergebnis seien „fast ausschließlich“ hessisch, so schließt die Forschungsgruppe Wahlen ihre Analyse der hessischen Landtagswahl vom 18. Januar 2009.[18] Bezogen auf das Spitzenpersonal und die Schärfe der Auseinandersetzungen stimmt das. Die hessische Politik ist polarisierter als die Bundespolitik. Für die Trends liefert Hessen aber Lektionen. Die Wechsel zwischen den Parteien, das Stimmensplitting von CDU und FDP, die Mobilisierungsdefizite sind nicht nur hessisch.

Alle Wahlkommentare zu Hessen heben die Bedeutung der abnehmenden Strukturierung, des „Dealignments“, und der schwindenden Parteiidentifikation hervor. Folgt man dem Erklärungsmodell der Wahlforschung mit den Motivfaktoren Identifikation, Themen und Kandidaten, unterstreichen alle Kommentatoren die performative Bedeutung von Kandidaten und Themen. Kompetenzfelder und Reputation werden wichtig ebenso wie deren nicht-extreme Präsentation. Wie sich dies zum Gestus, zum Stil der Empörung passt, wird eine interessante Frage der Bundestagswahl.

Die Auswirkungen der Finanzkrise, die desolate Wirtschaftslage und wachsende Arbeitslosigkeit, und die staatlichen Maßnahmen der Bekämpfung werden die Bundestagswahl bestimmen. Im Januar 2009 ist in Hessen zwar schon angesichts dieser bewegenden Probleme gewählt worden, aber die Realität der Krise, die „ereignisreiche und volatile Marktphase“ (wovon die Deutschen Bank im Dezember 2008 sprach), wird bis September 2009 schärfer und fordernder werden.

Die eingangs mit Freud beschworene Ernsthaftigkeit kommt zurück, definiert Kosten für Lebenswelten und Systeme, stellt Parteien und Wähler vor offene, gleichwohl existentielle Fragen. Für die Parteien wirft die wachsende Bedeutung von Themen und Kandidaten die Frage nach ihrer Kompetenz und Fähigkeit zur Folgenabschätzung im politischen System auf. Der Wähler bildet sich dazu einen eigenen Willen und wird danach entscheiden (nicht nur für Nichtwahl). Das Beispiel Hessen zeigt, wie wenig vor allem die Großparteien an dieser Willensbildung noch mitwirken.

[1] Diese Spannweite beleuchten Franz Urban Pappi, Susumu Shikano, Wahl – und Wählerforschung, Baden-Baden 2007; den Wandel von Volksparteien zu professionalisierten Wählerparteien betrachtet Klaus v. Beyme, Parteien im Wandel, Wiesbaden 2000.

[2] Philip Roth, Empörung, München 2009, S. 187 ff., vgl. auch S. 76 ff., 176 ff.

[3] Auf die Umschreibung einer für Ambiguität bzw. Kontingenz offenen, nicht moralisch-empörten Politik der Akzeptanz UND Kritik an Realitäten kapitalistischer Verwertungsverhältnisse muss verzichtet werden. Es zeigt sich, der Gegensatz Koch-Ypsilanti und die dazugehörigen wahl- wie parteipolitischen Kontexte öffnen eine verallgemeinerungsfähige Parabel, um jenseits einer empörten und antikapitalistischen Semantik über adäquate Kritik nachzudenken. Insofern thematisiert der mit der neuen SPD-Spitze Thorsten Schäfer-Gümbel nicht aufgehobene Gegensatz Koch-Ypsilanti allgemeine Fragen – Fragen, die im pragmatischen Nebeneinander von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier untergehen, was die Absicht beider Großparteien für die Bundestagswahl 2009 sein dürfte. Auf Bundesebene fallen außenpolitische Entscheidungen leichter als innenpolitische. Dabei würde der bemühte Nimbus des Pragmatismus einer Polarisierung weichen. In Hessen dagegen sind die politischen Pole um SPD (und Grüne und Linke) sowie CDU (und FDP) deutlich hervorgetreten und werden von den Protagonisten zur Kontrastierung verwendet werden.

[4] Das Mehrheitszitat verwendet Kurt Beck am 12. 3. 1999 im SPD-Präsidium beim Rücktritt Lafontaines (FAZ, 12. 3. 2009, S. 8). Für das „Wir“ vgl. z.B. Margot Käßmann, Armut, Chrismon, 10. 2008, S. 10; Horst Köhler, Berliner Rede vom 24. März 2009 (FAZ, 25. 3. 2009, S. 8). Als Beispiel der Verteidigung Ypsilantis sei Martin Hecht genannt: Der Ypsilanti-Komplex, FR, 25. 9. 2008, S. 16.

[5] So der CDU-Fraktionsvorsitzende, Chr. Wagner: FAZ v. 3.4.2009, S. 58.

[6] Rede auf dem SPD-Landesparteitag in Hanau am 29. 3. 2008. Vgl. Andrea Ypsilanti, Wohin zieht die neue Zeit? Die Zeit, 6. 3. 2008; dies., Im Aufbruch in die Soziale Moderne, Bochum 2008.

[7] Vgl. Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland, Bonn 2007, bes. S. 87.

[8] Zu dieser Entwicklung vgl. Wolfgang Schröder (Hrsg.), Parteien und Parteiensystem in Hessen, Wiesbaden 2008.

[9] Dazu Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt 2008.

[10] Franz Walter, Baustelle Deutschland, Frankfurt 2008; ders., Im Herbst der Volksparteien? Bielefeld 2009.

[11] Dies folgt (normativ) Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, bes. S. 349 ff. (S. 366).

[12] Der sog. Kausalitätstrichter als gängiges Modell erklärt die Wahlentscheidung in ihrer Abhängigkeit von drei Motivationsfaktoren, nämlich der Parteiidentifikation (die von Sozialstruktur und Tradition beeinflusst wird) sowie den Orientierungen an Kandidaten und an Themen. Vgl. Jürgen Falter, Harald Schoen (Hrsg.), Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005, S. 187 ff.

[13] Dies gegen Gabor Steingart, Die Machtfrage, München/Zürich 2009, bes. S. 181 f. Wahlenthaltung wird als bewusstes und kritisches Signal für „Nachdenklichkeit“ angesprochen.

[14] Keiner der 2008 hinter Ypsilanti als ministrabel geltenden SPD-Politiker übernimmt 2009 die aussichtslose Spitzenkandidatur.

[15] Zum neuen Typ sozialdemokratischer Berufspolitik, nach der alten Erfolgsschule in den roten, großstädtischen Rathäusern, vgl. Schroeder in ders., Parteien und Parteiensystem in Hessen, S. 87 ff.; Eike Hennig, Von der Inkompetenz der hessischen SPD, FR, 15. 3. 2008, S. R4.

[16] Dazu Arijana Neumann, Thomas Schmid in Schroeder, Parteien und Parteiensystem in Hessen, S. 112 ff., 123 ff., 127 ff.

[17] Dazu Hennig in: Schroeder, Parteien und Parteiensystem in Hessen, S. 381 ff.

[18] Wahl in Hessen. Eine Analyse der Landtagswahl vom 18. Januar 2009, Berichte der Forschungsgruppe Wahlen Nr. 133, S. 12, 53. – Vgl. auch die FGW Berichte 46, 80, 93, 111, 130.

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