Publikationen / vorgänge / vorgänge 2/2012

Erinnerung als Pathos­formel der Gegenwart*

aus vorgänge Heft2/2012, S.4-15

Der Aufstieg der Erinnerung

„Erinnerung“ ist einer der zentralen Verständigungsbegriffe unserer Zeit. Google, unser unbestechlicher Bedeutungsanzeiger für das gegenwärtig Gefragte, meldet im September 2007 für „Erinnerung“ 52 Millionen Einträge – mehr als doppelt so viele wie für „Freiheit“ (21 Mio.), sieben Mal mehr als für das Stichwort „Gerechtigkeit“ (7 Mio.), zwanzig Mal mehr als für „Gleichheit“ (2,5 Mio.) und fast vierzig Mal so viel wie für „Menschenwürde“(1,4 Mio.). Der Wille zur Erinnerung prägt die öffentliche Gedenkkultur der Bundesrepublik, und dies bemerkenswerterweise auch und gerade dort, wo diese Erinnerung schmerzlich ist, wo sie Trauer wachruft und Beschämung erzeugt.

Alle Unterschiede in der Deutung der beiden Diktatursysteme des 20. Jahrhunderts überwölbt die gemeinsame Auffassung, dass das Erinnern dem Vergessen überlegen sei, und wir sind uns kaum mehr bewusst, dass die Amnesie als Gedächtnisschwäche und die Amnestie als staatliche Vergebung etymologisch bedeutungsgleich sind und gemeinsam auf das griechische Verb „a-mnemoneo“ = „aus dem Gedächtnis verlieren“ zurückgehen. Die moralische Kraft des Erinnerns in unserer politischen Gegenwartskultur ist so groß, dass das Nicht-Erinnern in Gestalt des Verschweigens, Vergessens, Verdrängens in unserem Denken eine psychische oder soziale Fehlentwicklung beschreibt, eine fatale Abwehr, die etwa Gesine Schwan als „zerstörerische Macht des Schweigens in der Politik“ angeprangert hat.(1) In unsere Wertewelt sind Erkenntnisse der Tiefenpsychologie eingeflossen, und in ihr bezeichnet das Vergessen ein Krankheitsbild und die Erinnerung den Weg zur Heilung – getreu Sigmund Freuds berühmtem Konzept des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens. In der Übertragung auf die innere Verfassung sozialer Gemeinschaften kehrt dieses Verständnis von Erinnerung als Gesundung in der bekannten Warnung wieder: „Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ (George Santayanades)

Das Wort „Erinnerung“ bezeichnet das, was für die Kunstgeschichte Aby Warburg eine „Pathosformel“ genannt hat, eine sprachliche Gebärde, die unserer Zeit so sehr eingeschrieben ist wie anderen Zeiten Begriffe wie Zukunft, Fortschritt und Utopie. Dem war allerdings nicht immer so. Von der Antike bis zur Frühneuzeit wurde die politische Gesundung ganz überwiegend nicht vom Willen zur erinnernden Verarbeitung bestimmt, sondern von der Bereitschaft zum tätigen Vergessen erhofft. In diesem Sinne verlangte Cicero nach der Ermordung Caesars im Römischen Senat die „Zerstörung jeglicher Erinnerung an die Zwietrachten durch ewiges Vergessen“ (Oblivione sempiterna delendam). Diesem Geiste folgend enthielten Friedensabkommen bis zum Westfälischen Frieden 1648 regelmäßig das Bekenntnis zum wechselseitigen Vergessen: „Beide Seiten gewähren einander immerwährendes Vergessen und Amnestie (pertua oblivio et amnestia) alles dessen, was seit Beginn der Kriegshandlungen, an irgendeinem Ort auf irgendeine Weise von dem einen oder anderen Teil, hüben wie drüben, in feindlicher Absicht begangen worden ist“.(2) Noch im späten 19. Jahrhundert hielt Friedrich Nietzsche dem Historismus seiner Zeit die Mahnung entgegen, dass die „Übersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich“ sei, weil „durch dieses Übermaß […] eine Zeit in die Einbildung (gerät), dass sie die seltenste Tugend, die Gerechtigkeit, in höherem Grade besitzt als jede andere Zeit“.(3)

Dass andere Zeiten anderen Leitbildern folgten, versteht sich von allein. Weniger selbstverständlich ist aber die Feststellung, dass das Verhältnis von Erinnern und Vergessen sich eigentlich erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten grundstürzend verändert hat. Wie überhaupt die dominierenden Pathosformeln jeder Zeit so öffentlich wie unbemerkt, durch den Mund der Protagonisten und zugleich hinter ihrem Rücken ihre magnetische Kraft gewinnen und wieder verlieren, so hat auch die Erinnerung ihren Triumphzug vor noch gar nicht langer Zeit angetreten. Die 17. Auflage des Brockhaus in 20 Bänden von 1968 präsentiert das Stichwort „Erinnerung“ in einer knappen halben Spalte als „die Fähigkeit, Erlebnisinhalte der Vergangenheit in der Vorstellung […] wieder bewusst werden zu lassen“.(4) Die 19. Auflage des mittlerweile auf 24 Bände angewachsenen Werkes braucht 1988 sogar nur fünf Zeilen, um „Erinnerung“ in der Psychologie als „Bez. für einen Gedächtnisinhalt“ und im juristischen Sprachgebrauch als Rechtsbehelf vorzustellen.(5) Ganz anders der Brockhaus 2006, der das neu aufgenommene Stichwort „Erinnerungskultur“ auf mehr als drei Seiten erläutert und als „Schlüsselbegriff […] im Hinblick auf die Ausbildung und Reflexion von Identität“ entwickelt .(6)Diesem radikalen Aufmerksamkeitswandel lag eine begriffliche Ausweitung zu Grunde, die das Erinnern von einer individuellen Operation, für welche die Psychologie zuständig war, zu einem kollektiven Geschehen machte, das nun zunächst die Historiker anging und bald darauf von der Neurobiologie bis zur Literaturwissenschaft die Humanwissenschaften insgesamt. Die Stichworte dieses Paradigmenwandels lieferte der französische Soziologe Maurice Halbwachs: Er untersuchte in den zwanziger Jahren die sozialen Bedingungen des Erinnerns und führte die Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses in die Wissenschaft ein, die dann in den letzten Jahren von Aleida und Jan Assmann mit der Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis weiterentwickelt wurde.

Damit der im KZ Buchenwald zu Tode gebrachte Maurice Halbwachs wieder entdeckt werden konnte, bedurfte es zahlreicher Voraussetzungen: In Frankreich goss Pierre Nora seine Sorge um einen Zerfall der nationalen Erinnerungsgemeinschaft in die Formel, dass die sich auflösenden milieux de memoire, also die Erzählgemeinschaften der Familie und der Lebensumwelt heute durch die lieux de memoire, also durch gezielt geschaffene Gedächtnisstützen wie Denkmäler und Symbole ersetzt werden müssten. Er löste damit den Aufmerksamkeitsboom für so genannte „Erinnerungsorte“ aus, der erst in Frankreich, dann in Deutschland und Italien, schließlich in aller Welt große Verlagsvorhaben initiierte und zugleich der Gedenkstättenbewegung neue und bis heute andauernde Impulse verlieh. In der Geschichtswissenschaft brach der cultural turn seit den achtziger Jahren der Einsicht Bahn, dass Geschichte eine gesellschaftliche Konstruktionsleistung sei, in der wissenschaftliche Forschung und geschichtspolitische Inszenierung mit familiärer Erzähltradition und öffentlicher Vergangenheitsauseinandersetzung zusammenwirkten. Schließlich spiegeln sich im Aufstieg der Erinnerung auch der generationelle Umbruch der sechziger Jahre und die mit ihm verbundene Umgründung der Bundesrepublik hin zu mehr Liberalität und Pluralität. Unterstützt von der Oral-History-Bewegung einer „Geschichte von unten“, wurde die Erinnerung zur Chiffre einer politischen Kultur, die das Beschweigen der NS-Vergangenheit nicht mehr hinnehmen mochte und die Unfähigkeit zu trauern als unheilvolles Erbe betrachtete. Erinnerung, Aufarbeitung und Zeitzeugnis hießen die drei Leitmotive eines neuen Umgangs mit der Vergangenheit, der das Fach Geschichte aus seiner Grundlagenkrise befreite und sein drohendes Verschwinden aus dem Schulunterricht in den siebziger Jahren verhinderte. Die ersten jüdischen Zeitzeugen, die oft gegen den Willen von Schulleitungen und Fachkollegien vor Schulklassen über ihr Schicksal zu sprechen begannen; die ersten Arbeitsergebnisse von Geschichtswerkstätten über die Deportation von Juden in ihrem Stadtviertel; die ersten örtlichen Spurensicherungen von Aufarbeitungsinitiativen – sie alle trugen dazu bei, eine gemeinsame Leerstelle der traditionellen Politikgeschichte wie der modernen Gesellschaftsgeschichte aufzufüllen und ihr den Blick auf das alltägliche Handeln und Leiden einzelner Menschen zurückzugeben.

Dabei stand die erinnerungskulturelle Hinwendung zur Vergangenheit zunächst unter misstrauischer Beobachtung. Die etablierte Zeitgeschichte attackierte die vermeintliche Graswurzelbewegung der Alltagshistoriker, deren analytische Reichweite an den begrenzten Horizont individueller Lebensschicksale gefesselt sei. Vielfach wurde das wiedererwachte Interesse an der Geschichte als bedrohliches Wiedererwachen eines deutschen Nationalbewusstseins gedeutet, das sich von der Scham über die zwölf Jahre des Schreckens nicht den Stolz auf die 1000 Jahre nationaler Größe rauben lassen wolle – und diese Annahme glaubte Nahrung zu finden etwa in der ohne jeden Jubiläumsbezug in die Welt getretenen Berliner Preußenausstellung 1981, in der mit Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls proklamierten geistig-moralischen Wende von 1982 oder auch in der Grundsteinlegung für ein Deutsches Historisches Museum im Berliner Spreebogen 1988.

Vor allem ein Verdacht stand der neuen Lust an der Vergangenheit entgegen, dass sie nämlich einer unhistorischen Verklärung der Vergangenheit Vorschub leiste, die den deutschen Sonderweg zur ldylle verkläre. Ein einziges Wort kann uns in seinem Aufstieg und Niedergang klarmachen, wie geräuschlos und rasch zugleich sich das Normengefüge, die Geltungsstandards unseres Dialogs mit der Vergangenheit verschieben können. Es ist das medizinische Kunstwort Nostalgie. Mit ihm bezeichnet man über zwei Jahrhunderte hinweg die körperlichen und seelischen Symptome einer seltsamen Krankheit, die zunächst im 17. Jahrhundert bei Schweizer Söldnern und Studenten im Ausland diagnostiziert wurde und von hitzigem Fieber begleitet war. Noch Goethe erinnerte sich 1823 gesprächsweise daran, dass unter Ludwig XIV. „unter den schwersten Strafen das Blasen einer Schalmei verboten worden (sei), weil in den Schweizerregimentern die Leute dadurch zu sehr an ihre Heimat erinnert wurden, und viele an Heimweh dahinstarben“.(7) Erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts verlor das aus griechisch „nostos“ für Heimkehr und griechisch „algos“ für Schmerz zusammengesetzte Kunstwort „Nostalgie“ seinen Krankheitsbezug. Es verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit vom Leiden zur Therapie und machte Karriere als Sehnsuchtswort einer zweifelnden Moderne., die sich nach den Jahren des Wiederaufbaus in der Zukunft und in ihrer Fortschrittsutopie nicht mehr zu Hause fühlte. Mit der Nostalgie erhielt die Bewahrung der Vergangenheit plötzlich einen Eigenwert, der sich von Jahr zu Jahr immer machtvoller gegen die alten Hoffnungswörter der Stadtplanung wie „autogerechte Verkehrslenkung“ oder „umfassende Stadtsanierung“ zu behaupten wusste, aber im Geiste des noch mächtigen Fortschrittsdenkens doch den Stempel des Reaktionären trug. Beobachter notierten besorgt die „Rückwärtssehnsucht“, die der „gefühligen Restituierung des Gestern“ diene(8) und in Gestalt der „Hitler-Nostalgie“(9) die „Realität des Faschismus“ verharmlose.(10)

Kein Verdacht hätte irriger sein können: Die Alltagsgeschichte hat uns erst ein tieferes Verständnis für die kumulative Radikalisierung des Nationalsozialismus ermöglicht. Die vermeintliche Entsorgung der Katastrophengeschichte unter Kohl erwies sich in Gestalt des DHM als höchst erfolgreiches Unternehmen ihrer nachhaltigen Vergegenwärtigung. Niemand meint heute noch vor den Gefahren der Nostalgiekrankheit warnen zu müssen, weil die Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren alten Zeit vom Begehren zur Auseinandersetzung mit ihrem tatsächlichen Schrecken überragt wird, besser: weil unsere Lust an der Erinnerung nicht auf eine Rückkehr der Vergangenheit zielt, sondern auf das Lernen aus ihr. Die dadurch inspirierte Neuvermessung der Vergangenheit zeigte sich in vielerlei Gestalt: im Erfolg der amerikanischen Holocaust- Serie 1979 und in den Verkaufszahlen von Walter Kempowskis Roman „Tadellöser & Wolff`, in der Rede Bundespräsident von Weizsäckers zum vierzigsten Jahrestag des 8. Mai 1945 als Jahrestag von zugleich Kapitulation und Befreiung, aber auch in der empörten Resonanz auf die Gedenkrede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag des Judenpogroms von 1938.

Ein eindrucksvoller Indikator des Wandels im Umgang mit der Vergangenheit steckt in der Abwertung des Wortes Vergangenheitsbewältigung, das in den fünfziger Jahren noch ein mutiges Bekenntnis darstellte und von dem Göttinger Historiker Hermann Heimpel, zeitweilig als Nachfolger des ersten deutschen Bundespräsidenten im Gespräch, in durchaus selbstkritischer Absicht propagiert wurde: Die Vergangenheit dürfe nicht vergessen, sie müsse vielmehr bewältigt werden.(11) Heute hingegen begreifen wir den Zivilisationsbruch von Auschwitz nicht mehr als eine Vergangenheit, die sich im eigentlichen Sinne „bewältigen“, womöglich überwältigen ließe, und wir distanzieren uns von einer Wiederaufbaumentalität, die meinte, mit dem Schrecken des „Dritten Reiches“ auf dem Wege der juristischen, politischen und mentalen Bewältigung abschließend fertig werden zu können.(12)

Längst hat daher die Rede von der Vergangenheitsbewältigung semantische Konkurrenz bekommen und hat im öffentlichen Diskurs vielfach dem Bekenntnis zur Aufarbeitung Platz gemacht, dessen Konjunktur Theodor Adorno 1957 noch eher kritisch registrierte und jedenfalls mit der Absicht verbunden wissen wollte, „dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein“.(13) Ursprünglich auf den Nationalsozialismus eingeschränkt, wird im öffentlichen Sprachgebrauch unter Aufarbeitung heute die erinnernde Auseinandersetzung mit den zwei Diktaturen auf deutschem und europäischem Boden verstanden. Ebenso wenig wie die Nostalgiewelle die Distanzierung von den Schrecknissen der deutschen Geschichte implizierte, hat sich nach 1989 die vielfach aufgekommene Sorge bewahrheitet, dass die Auseinandersetzung mit dem zweiten Totalitarismus des 20. Jahrhunderts die mit der ersten deutschen Diktatur verdrängen könne. So ungestüm sich gelegentlich im Streit um die Zukunft der Aufarbeitung die Opfer des Stalinismus als „Opfer zweiter Klasse“ betrachten oder ein wie immer gearteter Proportionalitätsausgleich in der Gedenkstättenkultur gefordert wird, hat sich doch in den neunziger Jahren in der Arbeit der beiden Enquetekommissionen des Deutschen Bundestags ein antitotalitärer Konsens herausgebildet, der der doppelten Erinnerung einen stabilen Rahmen gibt: „Die NS-Verbrechen dürfen durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus nicht relativiert werden. Die stalinistischen Verbrechen dürfen durch den Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden.“(14)

Vor diesem Hintergrund einer opferzentrierten Erinnerung bedeutet auch die neuerlich zu beobachtende Ausbreitung des Aufarbeitungsanspruchs auf den Bombenterror des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und die deutschen Vertriebenen im Kern eben keine nationalgeschichtliche Aufrechnung von Leid und Opfern in exkulpatorischer Absicht mehr. Sie stellt ganz im Gegenteil eine weitere Ausdehnung des Erinnerungspathos auch auf Gruppen dar, deren Opferschicksal über Jahrzehnte eher als Argument zum Beschweigen der NS-Verbrechen und der historischen Absicherung politischer Revisionsforderungen gedient hatte.

Ursachen der Erinne­rungs­kon­junktur

Kein Phänomen lässt den Aufstieg der Erinnerungskultur klarer hervortreten als die Karriere einer historischen Kunstfigur: des Zeitzeugen. Wie die Aufarbeitung ist auch der Zeitzeuge eine noch junge Schöpfung. Der Nürnberger Prozess 1946 kannte ihn noch nicht. Das erste Mal tritt er nachdrücklich im Eichmann-Prozess 1961 in Erscheinung. Filmdokumentationen des Prozesses zeigen, pathetisch gesprochen, fast so etwas wie die schmerzhafte Geburt des Zeitzeugen als öffentlicher Figur. Im Zeugenstand erscheint ein KZ-Überlebender, der wie andere gleichartige Zeugen nicht aufgerufen wurde, um Eichmann zu identifizieren oder eine konkrete Tat zu beglaubigen, sondern um den Terror der Vergangenheit von Auschwitz in die Gegenwart des israelischen Gerichtssaales zu transportieren. Der Zeuge macht seltsame Gebärden, er fürchtet sich offenbar vor dem Reden. Aber die Kamera beachtet ihn kaum, sie zoomt nicht auf ihn, sondern richtet den Blick auf den Staatsanwalt, der eine Frage an den Zeugen richtet.

Plötzlich ein Tumult hinter der Kamera, die herumfährt und nur noch den erschütternden Moment einfängt, dass der zitternde Zeuge dem Schock des Erinnern- Sollens nicht standgehalten hat und bewegungslos ausgestreckt neben dem Zeugenstand liegt. Auch von anderen Zeugen erfahren wir, dass sie ihre Aussage nicht nur sich selbst um den Preis neuer seelischer Verwundung abgepresst haben, sondern auch einer Umgebung, die ihnen geraten hat, das Vergangene doch lieber vergangen sein zu lassen und nicht auch noch öffentlich daran zu erinnern, dass die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sich wie Lämmer zur Schlachtbank hätten führen lassen.

Die Geburt des Zeitzeugen wäre nicht möglich ohne die zeitgleiche Herausbildung eines Erinnerungskonsenses, der nicht mehr nach politischen Positionen und Weltanschauungslagern unterscheidet. Vielmehr räumt er der schonungslosen Bewusstmachung der Vergangenheit ungleich mehr Kredit ein als den Anklage- und Rechtfertigungshaltungen noch in der Zeit der Studentenbewegung, die doch in der Abrechnung mit der NS-Vergangenheit einen wesentlichen Teil ihrer ldentität erblickte. Eindrucksvoll zutage trat dieser auf dem moralischen Wert der Erinnerung fußende Geschichtsgestus etwa in der Auseinandersetzung um die NSDAP-Mitgliedschaft von Günter Grass oder Walter Jens, die eben nicht so sehr auf die realhistorische Bedeutung der offenbar gewordenen Regimeverstrickung abstellte, sondern auf den Umgang mit ihm: Freimütige Erinnerung sichert die gesellschaftliche Anerkennung als Zeitzeuge, erzwungenes Bekenntnis oder gar Schweigsamkeit verurteilt zur Komplizenschaft. Insofern setzt der Aufstieg der Erinnerung zu einem alle politischen Gegensätze überwölbenden Imperativ der politischen Gegenwartskultur den Niedergang des Systemzeitalters und das Ende der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Ordnungsentwürfen der Moderne voraus. Anders gesagt: Erinnerung als Pathosformel des Umgangs mit der Vergangenheit kann erst dort einen beherrschenden Platz in der politischen Kultur erobern, wo das Wesen der Politik ihre letztbegründung nicht in der Freund-Feind-Scheidung nach Carl Schmitt findet, sondern in der Anerkennung eines politisch-kulturellen Rahmenkonsenses.

Die Karriere der Erinnerung in unserer Zeit hat weitere Ursachen. Hermann Lübbe sieht in unserer Tradition zerstörenden Fortschrittswelt und ihrer Unbehaustheit den entscheidenden Grund für eine noch nie da gewesene Vergangenheitssehnsucht, die Flohmärkte und Geschichtsmuseen füllt und ganze Städte und Landschaften unabhängig von ihrem ästhetischen Rang unter Denkmalschutz stellt, um so den „änderungstempobedingten“ Vertrautheitsschwund zu kompensieren.(15) Andere Autoren machen auf die jüdische Tradition des Erinnerungs-Imperativs als erlösende Kraft aufmerksam, den westliche Gesellschaften parallel zur Anerkennung des Holocaust als moralischen Gründungsmythos des Westens und seiner freiheitlichen Ordnung übernommen hätten: Am Ende seiner Wüstenwanderung empfing das Volk Israel vom sterbenden Moses das Verbot des Vergessens und die Pflicht zur Erinnerung.

Aus der Sicht der historischen Semantik fällt hingegen vor allem die deutliche Korrelation zwischen Vergangenheitshoffnung und Zukunftspessimismus ins Auge, die nach dem Ende der klassischen Moderne das gegenwärtige Erinnerungspathos an die Stelle des einstigen Fortschrittspathos hat treten lassen. Auch die so genannte Preußenrenaissance in der DDR der achtziger Jahre ließ sich nicht einsträngig aus dem wachsenden Legitimationsbedürfnis des Regimes ableiten, sondern vollzog sich mit einer systemübergreifenden Eigendynamik. In der immer intensiveren Suche nach authentischen Zeugnissen und in der Pflege der historischen Aura von Erinnerungsorten befriedigen wir seither ein Bedürfnis nach Orientierung und Identifikation, das in den fünfziger und noch in den sechziger Jahren die Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft abgedeckt hatte. Ob Eltern in der Nachkriegszeit ihre Kinder mit dem Ziel erzogen, dass sie es einmal besser haben sollten, ob der SED-Chef Walter Ulbricht einer frenetisch jubelnden SED-Konferenz vorschlug, das Wort „unmöglich“ aus dem deutschen Lexikon zu streichen oder ob eine Bauplanung in der DDR der sechziger Jahre verlangte, im Heute das Morgen schon mitzusehen – immer stand dahinter ein rücksichtslos wirkender und heute gänzlich verlorener Fortschrittsglaube, der „das Alte“ entschieden geringer als „das Neue“ schätzte und dessen letzte Strahlkraft noch vor gar nicht so langer Zeit die beliebte Einordnung von Menschen und Sachverhalten als „progressiv“ und „fortschrittlich“ oder „rückständig“ und „reaktionär“ ausdrückte.

Mit dieser Rückwendung zur Vergangenheit auf dem Weg der Erinnerung verbindet sich zudem ein tief greifender mentaler Wandel, der sich schlagwortartig als Übergang von der Heroisierung zur Viktimisierung bezeichnen lässt. Unsere historischen Meistererzählungen, die die Nation als Held darstellen, ihren Aufstieg feiern und ihren Abstieg beklagen; sie sind außer Gebrauch gekommen. Nicht der Held steht mehr im Mittelpunkt unserer heutigen Geschichtskultur, sondern das Opfer; nicht die Heldentaten von Arminius im Teutoburger Wald über Luther in Worms zu Bismarck in Versailles bewegen uns, sondern die historischen Verletzungen, die Menschen erlitten und die Menschen verursacht haben. Unsere Gedenkstätten sind nicht mehr der Kyfflläuser, das Deutsche Eck oder das Denkmal von Tannenberg, sondern Buchenwald und Dachau, die innerdeutschen Grenzanlagen und die Neue Wache in Berlin. Der Paradigmenwechsel von der historischen Heroisierung zur historischen Viktimisierung ist kein deutscher, sondern ein europäischer, präziser: ein okzidentaler Trend. Er tritt zutage, wenn ein amerikanischer Präsident für die Versklavung der afrikanischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert um Entschuldigung bittet oder eine deutsche Bundesministerin der deutschen Massaker an den Hereros gedenkt; er zeigt sich bei dem Aufstieg von Gedenktagen wie dem 27. Januar zur Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz oder dem 9. November zur Erinnerung an den Reichsjudenpogrom von 1938; er wird fassbar, wenn der Holocaust sich in den letzten beiden Jahrzehnten als zentrales Bezugsereignis eben nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Geschichte durchgesetzt hatte. Welche Prägekraft in diesem Wandel der Geschichtskultur liegt, veranschaulicht vielleicht am nachdrücklichsten das Treffen von 22 Regierungschefs vor einigen Jahren in Stockholm, das in eine Deklaration über „Erziehung nach Auschwitz“ mündete und von dem Geist getragen wurde, „für immer gegen Genozid, Gewalt und Diskriminierung zu kämpfen“. (16)

Der Wandel von der Heroisierung zur Viktimisierung ist ein säkularer Prozess, der sich in Deutschland in vielen Etappen vollzog: Im Geschichtsbewusstsein der letzten 150 Jahre gab es den erlösenden Helden, wie ihn Bismarck oder Hindenburg verkörperten und später die zunehmend auf Hitler konzentrierte, messianische Führersehnsucht der zwanziger und dreißiger Jahre. Neben dem erlösenden Held stand der verratene Held, der in der Dolchstoßlegende nach 1918 seinen beredtesten Ausdruck fand. Den Übergang von der Heroisierung zur Viktimisierung bereitete vielleicht schon der Typus des tragischen Opfer-Helden, der sich etwa mit dem Langemarck-Mythos von 1914, aber auch mit der propagandistischen Inszenierung des Endes der 6. Armee vor Stalin-grad 1943 verbindet. Den Durchbruch der Opferperspektive brachte in Deutschland 1945 die „Stunde Null“ mit der oft als Selbstviktimisierung beschriebenen Haltung der Nachkriegsdeutschen, die sich selbst als Opfer inszenierten und die eigene Verstrickung hinter der Selbstwahrnehmung als Opfer brauner Verführung, angloamerikanischer Bombardierung und sowjetischer Siegerwillkür verschwinden ließen.

Doch diese Opfersensibilität vollzog in den siebziger und achtziger Jahren einen einschneidenden Richtungswechsel, der in der Fachwissenschaft und ihren öffentlich ausgetragenen Konflikten die Suche nach der Erklärung für die Machtergreifung 1933 (als Millionen Deutsche zu Opfer Hitlers wurden) ablöste durch die Suche nach der Erklärung für die NS-Vernichtungspolitik von 1938 bis 1945 (als Millionen zu Opfern der Deutschen wurden).(17) Die Opferperspektive schafft neue Zuordnungen. Sie ersetzt in gewisser Weise Staat und Regimenähe durch Tat und Täterschaft als Blickpunkt, und sie organisiert ihr Narrativ in den Kategorien von Tätern und Opfern statt in den Spruchkammerkategorien von Belasteten, Mitläufern und Entlasteten. Welche dramatischen Verschiebungen mit diesem Perspektivenwechsel verbunden sind, erhellt etwa der Fall Albert Speer, mit dem sich früher insbesondere der Widerstand gegen Hitlers Nero-Befehl verband und heute seine Beteiligung an der Massenvernichtung durch Zwangsarbeit.

Ähnliches lässt sich für den Konturenwandel sagen, den das Bild des Raketenspezialisten Wernher von Braun in den letzten vierzig Jahren erfahren hat. Auch die Ende der neunziger Jahre entbrannte Debatte über die NS-Verstrickung der deutschen Historikerschaft ist ohne diesen Perspektivenwechsel nicht zu verstehen, und wie sehr sich der Widerstreit von Heroisierung und Viktimisierung in einzelnen Personen spiegeln kann, lehrt die Umwertung des Bildes vom militärischen Widerstand gegen Hitler, das seinen einstigen Monstranzcharakter mittlerweile weitgehend gegen die abwägende Auseinandersetzung mit der oft nicht auflösbaren Verflochtenheit von Widerständigkeit und Verstrickung eingetauscht hat.

Nur angedeutet sei, dass der Siegeszug der Opferperspektive in den letzten Jahren auch die Täterwelt erfasst hat. Hierfür spricht die mit viel Resonanz aufgenommene Beschreibung des Untergangs der „Wilhelm Gustloff‘ durch Günter Grass ebenso wie Jörg Friedrichs überraschend erfolgreiches Buch „Der Brand“, welches das Schicksal des deutschen Tätervolks als Opfer im Bombenkrieg vor Augen führte. In dieselbe Richtung wies die erfolgreiche Neuverlegung des Ano nyma-Buches, das die Leiden der besiegten Deutschen unter ihren Siegern plastisch macht. Und dass die Viktimisierung mittlerweile sogar das Zentrum des nationalsozialistischen Verbrechens erreicht hat, machte Bernd Eichingers Film „Der Untergang“ deutlich, der Hitler selbst als Opfer darstellt: als Opfer seiner Illusionen, seines Wahns, aber auch des gewandelten Kriegsglücks und des politischen Verrats.

Die Entmachtung der Fachwis­sen­schaft

Gleichwohl gibt es gute Gründe, der atemberaubenden Konjunktur der Erinnerung kritisch gegenüberzustehen und sich zu fragen, ob das unsere Geschichtskultur beherrschende Dreigestirn von Erinnerung, Aufarbeitung und Zeitzeugenschaft nicht auch erhebliche Kosten mit sich bringt. Ein solcher Kostenfaktor lässt sich unschwer darin erkennen, dass auf diese Weise die Scheidelinie von Vergangenheitsdiskurs und historischer Fachwissenschaft auf problematische Weise verwischt wird. Mehr und mehr scheint unterzugehen, dass Zeitgeschichte und Erinnerung, Geschichtswissenschaft und Gedenkkultur nicht nur kooperieren können, sondern auch konfligieren müssen: Zeitgeschichte als Wissenschaft ist in starkem Maße zeitlich strukturiert; sie interessiert sich für den historischen Verlauf in der Zeit. Die Erinnerung hingegen ist stärker räumlich bezogen, sie schafft sich Erinnerungsorte und braucht mnemotechnisch räumliche oder symbolische Institutionen, an denen sich die Erinnerung knüpfen und bewahren kann. Zugespitzt formuliert: Der Zeitfluss ist der Freund der Historie, die den Wandel untersucht und aus der Dynamik ihre Erzählungsstruktur gewinnt. Der Zeitfluss ist zugleich der Feind der Erinnerung, der sie verblassen lässt und gegen den sie mit den Mitteln der Konservierung, der Bewahrung kämpft. Die Erinnerung findet ihre Erfüllung in der Utopie einer „authentischen Vergangenheit“ und definiert die Annäherung an die Vergangenheit als Aura des Erinnerungsortes; die Wissenschaft dagegen misst die Geltungskraft ihrer Erkenntnisse an ihrer intersubjektiven Glaubwürdigkeit in der Gegenwart. Erinnerungen sind unzuverlässig, gerade weil sie ihre Historizität und ihre permanente Wandlung durch Wiederaufrufung negieren und eine unmittelbare Authentizität behaupten, während die Wissenschaft gerade die zeitliche Wandlung in der Real- und Rezeptionsgeschichte zu ihrem Thema macht.

Weiterhin: Das Gedenken ist affirmativ, die Wissenschaft ist kritisch. Die Gedenkstätte ist ein Ort, an dem verschiedene Funktionen Platz haben: Gedenken, Mahnen, Bewahren, Forschen, Ausstellen. Aber im Kern dienen sie einer Gesellschaft oder einer Gruppe zur Bestätigung ihrer Haltung, nicht zur Infragestellung. Die Zeitgeschichte als Wissenschaft hingegen lebt von der nüchternen Infragestellung und rückt die kritische Befragung des für selbstverständlich Gehaltenen in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Bekanntes und Anerkanntes auf neue, nicht selten anstößige Weise zu durchdenken, ist der Motor des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und muss es auch in der Zeitgeschichte bleiben, wenn sie sich nicht etwa als Zwitter zwischen Wissenschaft und Erinnerung begreifen will, wie dies in jüngster Zeit als „neue Annäherung zwischen Geschichte und Gedächtnis im Schatten des Holocaust“ begrüßt und als eigene Funktion der Geschichtsschreibung vorgeschlagen wurde, „die wir die ,moralische‘ nennen können“. (18)

Auf eine antithetische Formel gebracht: Das Gedenken als „Gedächtnisfeier“ appelliert stärker an die Emotion, die Wissenschaft stärker an die Kognition. Das Gedenken leistet Trauerarbeit, es gibt Trost, schafft Sinn, mildert die Wirklichkeit und macht die Vergangenheit erträglich, wo die Wissenschaft sie verständlich macht und dadurch nicht selten den Schmerz über das Geschehene noch verstärken muss, weil gerade dies die historische Entwicklung nachvollziehbar und in moralisch vielleicht sogar anstößiger Weise plausibel macht. Das Gedenken schafft emotionale Selbstvergewisserung und damit zugleich Abstand zum Geschehen; die fachliche Erkenntnis hingegen bemüht sich in analytischer Nüchternheit noch das Menschheitsverbrechen „ganz normaler Männer“ erklärbar zu machen – was gerade in den hitzigen Debatten um die Diktaturaufarbeitung dem Fach übrigens nicht selten zum Nachteil angerechnet wird.

Erinnerung als Konflikt­po­ten­tial

Schauen wir in einem letzten Perspektivenwechsel darauf, in welche Widersprüche und Konflikte die Entwicklung der Erinnerung zur Pathosformel führt. Ein erstes Spannungsfeld entsteht aus der oben angesprochenen Authentizitätssehnsucht, die das Geschichtsbewusstsein unserer Zeit prägt und ihm nachgerade sakralisierende Züge zu verleihen vermag. Unsere Erinnerungskultur bedient heute eine vielfach fast geschichtsreligiös zu nennende Suche nach dem authentischen Vergangenheitszeugnis, in dem das Relikt sich kaum noch von der Reliquie unterscheidet und etwa die Legitimation für die architektonische Neuschöpfung des Verlorenen aus der Einbeziehung originaler Fragmente wächst – im Fall der Dresdner Frauenkirche nicht anders als in dem des Berliner Schlosses oder der Potsdamer Garnisonkirche. Ganz anders als etwa die DDR, für die Rekonstruktion durchaus auch Abriss und Neubau bedeuten konnte, definieren wir heute eine denkmalgerechte Restaurierung als Auftrag zur Dokumentation historischer Gewordenheit. Der Anspruch auf Authentizität rangiert höher als die Forderung von Funktionalität oder ästhetischer Gefälligkeit, wenn bei der Neuverputzung von Altbauten die Spuren des Kampfes um Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs oder im Berliner Reichstag die kyrillischen Graffiti eingedrungener Soldaten bewahrt werden – wie auch in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn der partielle Austausch von Bodenlinoleum und originalen Wandtapeten mit Farbkontrasten akribisch sichtbar gemacht wurde, um die DDR-Vergangenheit möglichst originalnah erlebbar zu machen. Zwischen Überwindungswillen und Erhaltungsstreben klafft eine nicht zu schließende Lücke, die unsere Unsicherheit im Umgang mit DDR-Alltagsmuseen und mit dem Abriss des „Palastes der Republik“ im Herzen Berlins ebenso erklärt wie den raschen Haltungswechsel in Bezug auf die DDR-Grenzanlangen und insbesondere die Berliner Mauer, deren Reste zunächst nicht rasch genug beseitigt und heute nicht akribisch genug bewahrt werden können.

Auf einem weiteren Konfliktfeld spielt sich die Auseinandersetzung zwischen zeitlichen und räumlichen Erinnerungslagern ab. Unsere dominierende Erinnerungskultur ist kathartisch und nicht mimetisch; sie lebt von der Distanzierung und der Bewältigung, nicht von der Traditionsverpflichtung und dem Kontinuitätsgebot. Kontrovers wird diskutiert, ob sich ein in der westlichen Tradition ~stehender Erinnerungscode in Gestalt von Genozidforschung und Menschenrechtserziehung auf andere Kulturräume übertragen und in ihm die moralische Singularität des mit Auschwitz und dem Holocaust verbundenen Zivilisationsbruchs festschreiben lässt – oder doch mindestens die wechselseitige Anerkennung von einer gemeinsamen, im europäischen Osten auf den Gulag und einer im europäischen Westen auf Auschwitz fokussierten Gedenkkultur. Die Gegenthese lautet, dass der kathartische Erinnerungscode eine spezifische westliche oder auch nur deutsche „DIN-Norm“ der historischen Lernkultur vorzuschreiben unternimmt, die den politischen Herrschaftsanspruch der Großväter als geschichtspolitischen Herrschaftsanspruch der Enkel fortschreibt und sich mit der historischen Stolzkultur türkischer oder russischer Provenienz lediglich in der Gewissheit einig weiß, selbst den allein richtigen Weg der Erinnerung zu kennen.

Wie vielschichtig und differenziert die Entscheidung zwischen Universalisierung und Pluralisierung der Maßstäbe historischen Gedenkens auch ausfallen mag, in jedem Fall zeugt sie vom radikal gewandelten Charakter unserer politischen Gegenwartskultur, die innerhalb weniger Jahrzehnte das zukunftsorientierte Leitbild des Fortschritts durch das vergangenheitsorientierte Leitbild des Gedächtnisses ausgetauscht hat.

* Durchgesehener Wiederabdruck aus: Martin Sabrow (Hg.), Der Streit um die Erinnerung (Helmstedter Colloquien, Heft 10), Leipzig 2008, S. 9-24.

(1) Gesine Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Berlin 1997.

(2) Osnabrücker Friedensvertrag (Instrumentum Pacis Osnabrugensis) vom 24.10.1648, Art. 2, zitiert nach: Arno Buschmann, Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, Baden-Baden 1994, S. 17.

(3) Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders., Werke, hg. v. Alfred Baeumler, Erster Band, Leipzig 1930, S. 95-195, hier S. 134f.

(4) Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, Wiesbaden (17)1968, Bd. 5, S. 667.

(5) Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Wiesbaden (19)1988, Bd. 6, S. 524.

(6) Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, Wiesbaden (21)2006, Bd. 8, S. 287-290, hier S. 287.

(7) Johann Woldemar Freiherr von Biedermann, Goethes Gespräche, Leipzig 1889-1896, Bd. 4, S. 258.

(8) Volker Fischer, Nostalgie. Geschichte und Kultur als Trödelmarkt, Luzern u.a. 1980, S. 36 u. 75.

(9) Ebd., S. 29.

(10) Ebd., S. 32.

(11) Peter Dudek, Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 1-2, 1992, S. 44 ff.

(12) Das Gegenwartsverständnis des Begriffs Vergangenheitsbewältigung veranschaulicht ein „Call for Papers: Erinnerung – Vergangenheitsbewältigung – Amnesie“ des politikwissenschaftlichen Fachorgans „Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt“ vom 18.3.2007: „Freilich ist Sprache verräterisch: Nicht von Auseinandersetzung ist im Zusammenhang mit dem Holocaust, dem Genozid in Rwanda 1994, schweren Menschenrechtsverletzungen unter den Diktaturen von Pinochet in Chile oder bei der Niederschlagung des Sendero Luminoso in Peru, dem Apartheidsregime oder endlich auch dem Vietnamkrieg und in wenigen Jahren vielleicht dem US-Desaster im Irak die Rede, sondern – bei allen Unterschieden zwischen diesen Beispielen – von Vergangenheitsbewältigung. Die Gewaltsamkeit, die im Spiel ist, wenn Vergangenheit zum Mythos zugerichtet, das Unsagbare für öffentlichen Gebrauch handhabbar gemacht wird, ist diesem Wort eingeschrieben. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=6919.

(13) Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 10/2, Kulturkritik und Gesellschaft II, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1977, S. 555-572, hier S. 555.

(14) Deutscher Bundestag (Hg.), Schlussbericht der Enquete-Kommission „Überwindungen der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, Bonn 1998, S. 240.

(15) Hermann Lübbe, Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Ulrich Borsdorf/ Heinrich-Theodor Grütter/ Jörn Rüsen (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 13-38. Vgl. auch Hermann Lübbe, Die Gegenwart der Vergangenheit. Kulturelle und politische Funktionen des historischen Bewusstseins, Oldenburg 1985.

(16) Michael Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart/München 2001, S. 143.

(17) In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Fritz Stern am Beispiel einer Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 anschaulich, wie verstörend er als Opfer rassischer NS-Verfolgung nach dem Krieg die Beharrungskraft eines eigenen Opferverständnisses in der deutschen Tätergesellschaft erlebte: „Den einzigen Missklang beim Gedenken an den 20. Juli steuerte Otto Dibelius bei, der evangelische Bischof von Berlin, der vor der ersten Feier eine Radioansprache hielt. Er rühmte Gottes Barmherzigkeit, die sich auch in den Zeiten schrecklichster deutscher Leiden gezeigt habe, und er bezog sich ausdrücklich auf die aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen. Noch am selben Tage schrieb ich ihm: ,Aber wie verwundert, ja auch verwundet, war ich, als Ihre Predigt über die Barmherzigkeit Gottes immer nur die bitteren Erfahrungen des deutschen Volkes heraushob. Dieser ist sich ja das Volk wirklich schon bewusst. Wäre nicht diese historische Stunde geeignet gewesen, und währe [sic!] Ihre Autorität nicht geradezu berufen gewesen, auch einmal an die bitteren Erfahrungen der völlig Unschuldigen zu denken, der Millionen aus aller Welt, die durch deutsche Menschen um Alles, auch um das Leben gekommen sind?‘ Seine Antwort kam prompt. Ungerührt beharrte er darauf, er habe ,von den Millionen gesprochen, die nicht davongekommen seien und die wir nicht vergessen. Dabei habe ich auch an diejenigen gedacht, die durch deutsche Schuld ums Leben gekommen sind.‘ Ich war erstaunt über seine Abgestumpftheit. Er hatte an die anderen ,gedacht‘, aber nicht von ihnen gesprochen – ein beklagenswertes Schweigen.“ Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 2007, S. 272 f.

(18) Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 49 ff.

nach oben