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Wie in der Schule aus Geschichte gelernt wird

aus vorgänge Heft 2/2012,S.51-60

I.Die Pädago­gi­sie­rung der Erinnerung an den Holocaust

Ein Aspekt der Historisierung der öffentlichen Auseinandersetzung über die von Deutschland ausgehenden nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen Juden und anderen Gruppen ist die Verbindung, die Fragen der Erinnerung und Erwartungen der Erziehung eingegangen sind. Nicht nur der Zeithistoriker Norbert Frei (2004) begreift die Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Deutschland als ein „historische(s) Lernprogramm“, als dessen Kern sich im Laufe von vor allem generationell strukturierten Kontroversen die edukatorische Frage herausschälte: Was ist aus der Geschichte zu lernen?

Diese pädagogische Konstruktion der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus steht nicht prinzipiell im Gegensatz zu anderen Formen der Auseinandersetzung – rechtlichen, wenn es um die juristische Aufarbeitung der Verbrechen und die Bestrafung der Täter geht, politischen, wenn es um die Übernahme der Verantwortung für die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 und deren Folgen geht (z. B. festgemacht am Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Staat Israel) oder finanziellen, wenn es um die materielle Entschädigung der Opfer wie zuletzt der der Zwangsarbeiter geht. Gleichwohl ist deutlich zu erkennen, dass mit dem wachsenden zeitlichen Abstands zu den Verbrechen und der damit einhergehenden Historisierung der Erinnerung der pädagogische Umgang an Bedeutung gewinnt. Geschichte, so Joachim Fest (2003), ist zur ,Pädagogisierungsmacht“ geworden. Auschwitz und der Holocaust werden dabei immer mehr zu Chiffren eines auf Gegenwart und Zukunft gerichteten moralpädagogischen Projekts, in dem es um Demokratie lernen, um eine Erziehung zur Toleranz sowie um Menschenrechtsbildung geht.

Die Pädagogisierung der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust ist zudem eng verwoben mit deren Globalisierung. Für Daniel Levy und Natan Sznaider (2001) ist der Holocaust nach 1989 Teil einer „globalen Erinnerungskultur“ geworden, der die Berufung auf universale Werte der Menschenrechte und Demokratie zugrunde liegt. Die gleichzeitige Pädagogisierung und Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust lässt sich auf drei Ebenen nachzeichnen:

  • Auf der bildungspolitischen Ebene kann die „Declaration of the Stockholm International Forum on the Holocaust“ (The International Task Force 2000) als sinnfälliger Ausdruck einer Angleichung der pädagogischen Deutung des Holocaust gelesen werden. In der Stockholmer Erklärung einigten sich zu Beginn dieses Jahrhunderts Regierungsvertreter/innen aus über 40 Ländern, vornehmlich aus Europa und Nordamerika, unter Einschluss der Länder Israel, Südafrika, Australien, Russland und Türkei darauf, Anstrengungen zur Prävention gegen Völkermord, Rassismus und Antisemitismus zu verstärken.
  • Einhergegangen ist mit dieser bildungspolitischen Absichtserklärung auf der bildungsprogrammatischen Ebene die Verbreitung von Konzepten für die konkrete pädagogische Praxis. Konzepte wie ,Facing History and Ourselves“ der gleichnamigen us-amerikanischen Bildungsorganisation, „A World of Difference“ der Anti Defamation League, „Betzavta“ des Jerusalemer Adam Instituts oder „Konfrontationen“ des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts haben inzwischen eine breitere internationale Aufmerksamkeit gefunden.
  • Auf der institutionellen Ebene schließlich ist es vor allem das öffentliche Schulsystem, dem die Aufgabe der Realisierung des moralischpädagogischen Projekts übertragen wurde (vgl. wiederum die Stockholmer Erklärung: The International Task Force 2000).

Versucht man die Wirkungen dieses historischen Lernprogramms zu bilanzieren, so kann für die Bundesrepublik festgestellt werden, dass zumindest an der Oberfläche öffentlich artikulierter Einstellungen und Redeweisen sichtbar wird, wie prägend die politisch-moralische Botschaft des „Nie wieder Auschwitz“ für Jugendliche inzwischen zu sein scheint (Zülsdorf-Kersting 2007). Wiederkehrend zeigen jüngere Untersuchungen, dass dieses Postulat fester Bestandteil der Einstellungen eines großen Teils heutiger Jugendlichen ist. In der Studie von Silbermann und Stoffers (2001) etwa geben 75 Prozent der befragten 14-17jährigen Jugendlichen an, dass sie die Erinnerung an Auschwitz für sehr wichtig oder wichtig erachten (ebd., 231). Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT (2010, 2) zitiert in einem aktuellen Dossier zum Thema „Jugendliche und NS-Zeit“ eine in Auftrag gegebene Infratest-Befragung, in der 80 Prozent der Jugendlichen angeben, dass sie Erinnern und Gedenken für sinnvoll erachten.

Gleichwohl bergen diese Befunde auch durchaus problematische Implikationen. Denn mit der pädagogischen Konstruktion des Holocaust als moralisches Projekt geht nicht selten eine historische Entkontextualisierung der nationalsozialistischen Verbrechen einher. Jugendliche können als Lehre aus der NS-Geschichte überzeugt sein von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Prävention gegen Rassismus und Antisemitismus und gleichzeitig kaum noch etwas wissen über die geschichtlichen Zusammenhänge, aus denen heraus die Verbrechen geschahen.

Welch ambivalenten Wirkungen der Erfolg der pädagogischen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus haben kann, lässt sich exemplarisch an den Ergebnissen der Untersuchung „Opa war kein Nazi“ der Forschungsgruppe um Harald Welzer studieren, in der das intergenerationelle Sprechen über den Nationalsozialismus im Kontext der Familie untersucht worden ist (Welzer u. a. 2002). Die Studie interpretiert die Umdeutungen, die die deutsche Enkelgeneration an der Rolle ihrer Großeltern im „Dritten Reich“ vornimmt, als „kumulative Heroisierung“ (Welzer 2004, 52). Die Großeltern erscheinen in den Geschichten der Enkel kaum als schuldig Gewordene, als in Unrecht Verstrickte, sondern als Menschen, die das in ihren Händen stehende getan haben, um sich dem Nationalsozialismus zu widersetzen. Wie ist diese kumulative Heroisierung der Großelterngeneration zu erklären? Verständlich wird die Geschichtskonstruktion der interviewten Jugendlichen dann, wenn man sie als Ausdruck des Erfolgs der moralpädagogischen Aufklärung über den Nationalsozialismus interpretiert. Das historisch nicht haltbare Geschichtsbild der Jugendlichen über ihre Großeltern entsteht nicht aufgrund mangelnden Wissens, sondern gerade weil sie viel über den Umgang mit dem Nationalsozialismus gelernt haben. Sozialpsychologisch könnte man von der Bereinigung einer kognitiven Dissonanz sprechen: Insofern die Enkelgeneration die Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen Juden und anderen Gruppen verinnerlicht hat, stellt diese ihren Großeltern auf der Grundlage familiärer Loyalität, aber gegen jede historische Evidenz einen Freibrief im Hinblick auf deren moralische Integrität aus. Die Entkontextualisierung des Holocaust im Zusammenhang des moralpädagogischen Projektes „Aus der Geschichte lernen“ lässt in diesem Sinne eine Leerstelle entstehen, in der die konkreten soziohistorischen Ursachen, Verantwortlichkeiten und Hintergründe des Holocaust zu verschwinden drohen. Ob dies in der Bundesrepublik Deutschland, dem Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“, von dem aus der Massenmord an den europäischen Juden seinen Ausgang nahm, als erinnerungspolitisch sinnvoll betrachtet werden kann, ist eine Frage, die zumindest öffentlich zu diskutieren wäre.

Ungeachtet dieser offenen Frage und der beschriebenen ambivalenten Wirkungen kann konstatiert werden, dass der moralpädagogisch gefärbte Erinnerungsdiskurs vorrangig im Medium offizieller Gedenkrituale und entsprechend programmatisch geführt worden ist. Einerseits kann vermutet werden, dass der Politik vor allem daran gelegen ist, mit öffentlicher Erziehung über eine Institution zu verfügen, an die sie die normativen Erwartungen des Lernprogramms adressieren kann. An wen sonst könnten Tugendpostulate wie Demokratie-, Toleranz- oder Empathiefähigkeit gerichtet werden, wenn nicht an den schulischen Politik- und Geschichtsunterricht. Andererseits steckt die er-ziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Konzepten der Erinnerungs- und Gedenkpädagogik immer noch in ihren Anfängen, so dass eigentlich nach wie vor unklar ist, worin die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der schulischen Vermittlung der NS-Geschichte bestehen. Vor diesem Hintergrund besteht ein dringender Klärungsbedarf darüber, was im Klassenzimmer tatsächlich passiert, wenn dort der Nationalsozialismus und der Holocaust thematisiert werden.

II.Kom­mu­ni­ka­tion über Moral vs. moralische Kommu­ni­ka­tion

Diese Lücke aufgreifend ist in dem Frankfurter Forschungsprojekt „Der Umgang mit den Paradoxien politisch-moralischer Erziehung“ empirisch untersucht worden, wie im schulischen Geschichtsunterricht mit den Herausforderungen umgegangen wird, die mit der moralischen Aufladung der Themen Nationalsozialismus und Holocaust einhergehen (Meseth/Proske 2010). Die zentrale Leitfrage unserer Untersuchung lautete: Was passiert, wenn mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ein Thema im Geschichtsunterricht behandelt wird, mit dem hochgradig ambitionierte Erwartungen in Bezug auf die politisch-moralischen Einstellungen heutiger Jugendlichen verknüpft sind? Wendet man das Erkenntnisinteresse auf den sozialen Kontext der Erinnerungspraktiken, stellt sich die Frage, wie unter Bedingungen schulischen Unterrichts das moralpädagogische Projekt „Aus der Geschichte lernen“ aufgegriffen, realisiert und dabei möglicherweise transformiert wird.

Um die Frage der schulischen Implikationen des moralpädagogischen Projekts „Aus der Geschichte lernen“ untersuch- und diskutierbar zu machen, ist zunächst zu klären, was mit Moral eigentlich gemeint ist. Die Studie hat sich nicht einseitig an den Vorgaben eines an Kohlberg (1976) geschulten Moralverständnisses orientiert. Kohlbergs kognitionstheoretisches Verständnis der Moral bindet den Erwerb moralischer Kompetenzen an das Vorhandensein deutlich unterscheidbarer Begründungsformen, die wiederum als Ausdruck bestimmter soziomoralischer Perspektiven gedeutet werden. Unterscheidungskriterium ist das jeweilige Verhältnis dieser Begründungen zur öffentlichen Moral, das heißt zu gesellschaftlichen Regeln, Erwartungen und Konventionen. Diese können der Person äußerlich bleiben, von ihr als Mitglied der Gesellschaft geteilt oder aber mittels autonom begründeter Prinzipien transzendiert werden. In der Bindung an Begründungsformen artikuliert sich das vernunftzentrierte Erbe von Kohlbergs Zugriff auf die Moral. Moralische Entwicklung besteht für ihm „in der zunehmenden Vertiefung des Verständnisses der Geltungsgründe moralischer Regeln und der Motive ihrer Befolgung“ (Nunner-Winkler/Edelstein 1993, 8).

So prägend der Kohlberg´sche Ansatz für die erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Beobachtung der Moral geworden ist, so ist dennoch eine Leerstelle nicht zu übersehen. Moral wird in seiner Perspektive primär als kognitives Phänomen betrachtet. Die Bedeutung und die Folgen von Moral in der Kommunikation unter Anwesenden wird in Kohlbergs Ansatz systematisch unterschätzt. Aus diesem Grund hat sich unsere Untersuchung eine zweite Perspektive auf Moral als Kontrastfolie zu eigen gemacht, die stärker einer soziologischen Tradition im Sinne Durkheims (1991) oder Luhmanns (1990) verpflichtet ist. Diese Traditionslinie betont die Differenz zwischen der kognitiven Frage der Begründung moralischer Prinzipien einerseits und der sozialen Form der Moral in unterschiedlich institutionalisierter Alltagkommunikation andererseits. Mit Blick auf Moral als sozialer Tatsache untersucht dieser Ansatz die kommunikative und kontextbezogene Verfasstheit und Ausgestaltung der Moral, sowohl in ihren integrativen als auch in ihren konfliktären Folgen (vgl. Bergmann/Luckmann 1999). Für die soziale Gestalt der Moral ist ein Aspekt zentral. Der Gebrauch moralischer Modalwörter wie „sollen“ oder „dürfen“ in Verbindung mit den Moralprädikaten „gut“ und „schlecht“ ist untrennbar mit der Bewertung von Personen, ihren Einstellungen, Meinungen und Handlungen verbunden (Tugendhat 1993, 35). Diese wertende Eigenschaft moralischer Kommunikation erkläre, so Tugendhat weiter, warum moralische Urteile mit Gefühlen der Empörung, des Zorns, der Scham oder der Schuld verbunden sind. Diese Gefühle zeigen, dass in moralischer Kommunikation die Integrität von Personen auf dem Spiel stehe, insofern sich diese gegenüber den in moralischen Urteilen zum Ausdruck kommenden Regeln und Normen verpflichtet und entsprechend moralisch verletzbar fühlen (ebd.).

Für die empirische Studie lässt sich nach dieser theoriegeleiteten Schärfung der Untersuchungsperspektive festhalten, dass prinzipiell mit mindestens zwei Formaten des Bezugs auf Moral im Klassenzimmer zu rechnen wäre. Während das erste Format als Kommunikation über Moral beschrieben werden kann, lässt sich das zweite Format als moralische Kommunikation im engeren Sinne verstehen:

  • Für „Kommunikation über Moral“ ist eine wissensbezogen-kognitive Gestalt charakteristisch. Dieses Format behandelt Moral als Thema, mit dem spezifische Einstellungs- und Beurteilungserwartungen verbunden sind, deren Geltungsgründe im Unterricht argumentativ erschlossen, nachvollzogen und eingesehen werden sollen. Moral kann in der Schule damit als Bestandteil des Unterrichtsgegenstandes Nationalsozialismus und Holocaust virulent werden, insofern dieses Thema und seine Rahmung konstitutiv die Erwartung mit sich führt, dass alle Mitdiskutierenden – wie unausgesprochen auch immer – die moralische Verurteilung des Nationalsozialismus ebenso teilen wie sie die politisch-moralischen Schlüsse befürworten, die sich in der Maxime „Aus der Geschichte lernen“ ausdrücken. Auf dieser Grundlage kann dann sowohl über Ursachen des Nationalsozialismus kontrovers debattiert werden wie über die Frage, welche konkreten Konsequenzen sich aus der Ablehnung der NS-Ideologie für den Umgang mit Minderheiten heute ergeben. Solange Lehrer wie Schüler sich im Geschichtsunterricht gegenseitig Konformität mit der öffentlichen Moral unterstellen, kann der Unterricht im Format ,Kommunikation über Moral“ operieren. Wird diese Prämisse jedoch brüchig, können sofort moralische Konflikte entstehen, d. h. die Kommunikation wechselt in das Format moralischer Kommunikation (vgl. etwa den Fall „Eva Herman“ im öffentlich-medialen Diskurs).
  • Das Format „moralische Kommunikation“ weist in diesem Sinne darauf hin, dass Moral sich nicht in kognitiven Formen erschöpft. Sie hat keineswegs nur eine rationale Seite, in der sich kognitiv höherstufige Begründungsformate methodisch angeleitet durchsetzen. In moralischer Kommunikation sind Aussagen unmittelbar mit personenbezogenen Wertungen, d. h. der Zuschreibung und Antizipation von Achtung und Missachtung verbunden. Insofern ist moralische Kommunikation mit Gefühlen verbunden, die das Interaktionsgeschehen potentiell prekär und riskant für die Beteiligten werden lässt. Im Kontext schulischen Unterrichts ist insbesondere die immer mitlaufende Bewertung von Schülerbeiträgen durch die Lehrperson ein potentielles Einfallstor für moralische Aufladungen der Kommunikation. Dies träte etwa dann ein, wenn bestimmte Beiträge von Schülern/innen nicht nur als kognitiv, sondern auch als moralisch problematisch bewertet und diesen personenbezogen zugerechnet werden.

Methodisch ist unsere Studie als qualitativ angelegte in-situ-Untersuchung des tatsächlichen Verlaufs des schulischen Geschichtsunterrichts konzipiert und durchgeführt worden. Im Untersuchungsfeld sind dabei vier mehrwöchige Lehreinheiten in zwei Hauptschulklassen der Jahrgangsstufe 9 und in zwei Gymnasialklassen der Stufe 10 beobachtet und aufgenommen worden.

III. Die Entschär­fung des moral­päd­ago­gi­schen Projekts „Aus der Geschichte lernen“

Der zentrale empirische Befund unserer Studie lautet, dass sich das Format der moralischen Kommunikation im Sinne der expliziten Bewertung von moralischen Verhaltensprämissen der Schüler/innen in den von uns untersuchten Stunden nicht finden lässt. Den Geschichtsunterricht dominiert ein Kommunikationsmodus, der sich auf die wissensbezogene Form der Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust beschränkt, d. h. auf das Format „Kommunikation über Moral“. Im Vordergrund stehen soziale, politische und ideologische Hintergründe und Zusammenhänge der beiden Themen, etwa wenn es um die Wählerschaft der NSDAP, Hitlers Außenpolitik oder den Antisemitismus geht. Moralische Kommunikation wird selbst dann vermieden, wenn Schüler/innen Beiträge in den Unterricht einbringen, die als Abweichung von moralischen Erwartungen gedeutet werden könnten. Lehrpersonen korrigieren in solchen Situationen Unzulänglichkeiten im Umgang mit historischen Quellen oder Inkonsistenzen in der Argumentation, nicht jedoch den Urheber dieser Äußerungen als moralische Person. Diesen sachlichen, auf den kognitiven Gehalt des Themenfeldes zielenden Modus der Kommunikation könnte man als Beleg für die relative Stabilität der Prämisse der schulischen Thematisierung des NS und des Holocaust deuten: Bis auf Weiteres vertrauen alle Beteiligten der wechselseitigen Unterstellung, dass alle den Nationalsozialismus moralisch und politisch verurteilen. Auch über die politisch-moralischen Schlussfolgerungen wird primär in diesem kognitiven Modus diskutiert, etwa wenn es um die Frage geht, wie sicher man eigentlich davon ausgehen könne, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung rassistisch-ausgrenzender Propaganda heute nicht folgen würde. In diesem Sinne lassen sich unsere Analysen zunächst dahingehend resümieren, dass das moralpädagogische Projekt der Holocaust-Education im schulischen Geschichtsunterricht insofern entschärft wird, als explizite, auf die moralischen Haltungen der Schüler/innen zielende Beeinflussung eher vermieden, wenn nicht gar gezielt umschifft wird.

Der Befund, dass das moralpädagogische Projekt „Aus der Geschichte lernen“ im Geschichtsunterricht kognitiv entschärft wird, wäre jedoch überinterpretiert, wenn man ihn mit der Behauptung gleichsetzen würde, dass der Unterricht gänzlich moralfrei stattfinde. Dies ist nicht der Fall. Moral kommt im Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust durchaus vor. Die Gestalt, die sie dabei in der Regel annimmt, kann als kaschierte Form im Sinne der oben dargestellten Kommunikation und Reflexion über Moral bezeichnet werden. Empirisch tritt diese Form über die impliziten moralischen Ansprüche des Themas Nationalsozialismus und Holocaust in die Unterrichtskommunikation ein. Das heißt, in dem von uns beobachteten Unterricht finden durchaus Gespräche über die Geltung moralischer Urteile statt. Sie verbleiben jedoch – zumindest lehrerseitig – in einem kognitiven Modus, etwa wenn bestimmte Zeichnungen aus einem Schulbuch der NS-Zeit im Gespräch als antisemitische und menschenfeindliche Darstellung von den Schülern/innen erkannt und analysiert werden (sollen).

IV. „Aus der Geschichte lernen“ und die Unaus­weich­lich­keit der Moral

Unsere Rekonstruktionen legen jedoch einen weiteren Befund frei, der der These einer Entschärfung des moralpädagogischen Projekts im Geschichtsunterricht in einer gewissen Weise zuwiderläuft. Im Verlauf des Unterrichts kommt es trotz der Vermeidung personenbezogener Moralerziehung durch die Lehrpersonen unter bestimmten Bedingungen zu einer moralischen Aufladung der Kommunikation. Auffallend ist, dass sie nicht von den Lehrpersonen, das heißt absichtsvoll initiiert wird. Für solch eine moralische Aufladung lassen sich zwei Bedingungskonstellationen identifizieren: Entweder tritt der implizite moralische Gehalt des Themenfeldes Nationalsozialismus und Holocaust im Unterrichtsgespräch auf einmal offen zu Tage, oder aber Schülern/innen deuten Beurteilungen der Lehrkräfte zumindest im Zusammenhang dieses Themenfeldes als an sie persönlich adressierte moralisch-negative Urteile.

Ein Beispiel für die erste Variante, das hier nur illustrativ dargestellt werden kann (vgl. Proske 2006): Eine Klasse behandelt das Thema Ursachen und Hintergründe des Antisemitismus. Der Lehrer lenkt das Gespräch auf den Aspekt des christlichen Antijudäismus. Völlig unvermittelt unterbricht die Schülerin Jenny dieses Gespräch, in dem sie einwirft, dass sie nicht verstehe, warum sie sich immer wieder für die an Juden begangenen Verbrechen entschuldigen müsse. Sie könne doch gar nichts mehr dafür. Deutlich wird an dieser Stelle, dass die bloße Thematisierung des Antisemitismus immer auch unmittelbar moralische Implikationen aufweist. Jenny versteht sich als jemand, die sich von einer Entschuldigungserwartung moralisch als Person getroffen fühlt. Das Irritierende an ihrem Beitrag besteht darin, dass die Zurückweisung einer Entschuldigungserwartung kommunikativ nur Sinn macht, wenn es vorher eine Schuldzuweisung gegeben hat. Dies ist jedoch in der Unterrichtskommunikation explizit nicht der Fall. Dieser Übergang von einer kognitiven Kommunikation über Moral zur moralischen Kommunikation bei Jenny kann m. E. unter zwei sich hier verschränkenden Bedingungen gedeutet werden, die jedoch beide dem schulischen Geschichtsunterricht vorausgehen: Zum einen ist unabhängig von expliziten moralpädagogischen Absichten des Lehrers von einer impliziten moralischen Aufladung des Themas Antisemitismus durch den öffentlichen Erinnerungsdiskurs auszugehen. Zum anderen kommt hinzu, dass Unterricht als pädagogische Form durch eine generalisierte Erziehungserwartung strukturiert ist. Sie versieht nahezu jede unterrichtliche Behandlung eines Themas mit einer bestimmten, keineswegs beliebigen Lernerwartung, was wiederum zu entsprechenden Ablehnungsreaktionen bei den Schülern/innen führen kann. Und gerade das Thema Nationalsozialismus in seiner moralpädagogischen Vereindeutigung im öffentlichen Erinnerungsdiskurs eignet sich offenbar in besonderer Weise zur schülerseitigen Inszenierung von Dissidenz.

V. Awareness als Leistung des schulischen Geschichts­un­ter­richts

Versucht man abschließend den im Kontext des schulischen Geschichtsunterrichts rekonstruierten Umgang mit den moralischen Implikationen einer geschichts- wie gegenwartsbezogenen Vermittlung der NS-Geschichte auf die Ausgangsfragen zu beziehen, so lassen sich einige Schlussfolgerungen für das moralpädagogische Projekt „Aus der Geschichte lernen“ ziehen.

Die Beobachtung, dass in den von uns untersuchten Schulstunden in der Regel kognitivierende Formen der Thematisierung des Nationalsozialismus und des Holocaust zu finden sind, zeigt, dass der Geschichtsunterricht ein Ort ist, dem die Schülerinnen und Schülern vor allem Informationen und Bewertungen über die Geschichte entnehmen und sich aneignen können. Die spezifische Leistungsfähigkeit des Geschichtsunterrichts erweist sich darin, die Schülerinnen und Schüler in die gesellschaftlich gültig gemachten Redeweisen über den Nationalsozialismus und den Holocaust einzusozialisieren. In erinnerungskultureller Hinsicht kann die Schule als der gesellschaftliche Ort verstanden werden, an dem die jeweils nachwachsende Erinnerungsgeneration mit dem politisch-moralischen Erbe der Bundesrepublik Deutschland vertraut gemacht wird. Diese Leistungsfähigkeit des Geschichtsunterrichts ist zunächst einmal keineswegs gering zu schätzen. Für die politische Kultur einer Gesellschaft sind solche Schritte der sozialen Institutionalisierung von geschichtlichen Narrativen und von deren politischer und moralischer Beurteilung ein bedeutsamer Baustein.

Um die Einsozialisierung in die gesellschaftlich kanonisierten Redeweisen über die NS-Geschichte angemessen einschätzen zu können, ist es entscheidend, diese nicht vor-schnell mit individuellen Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler gleichzusetzen. Ob Jugendliche die etablierten Deutungen über den Nationalsozialismus und den Holocaust übernehmen, ob diese bei ihnen Veränderungen ihrer politisch-moralischen Überzeugungen auch im Hinblick auf gegenwärtige gesellschaftliche Problemfelder auslösen, ist damit noch keineswegs beantwortet. Einerseits kann man sicherlich festhalten, dass Wissen über die NS-Geschichte, ihre Hintergründe und Zusammenhänge, die Möglichkeit für individuelle Lernprozesse erhöht. Andererseits zeigt unsere Empirie ebenso deutlich, dass an Stellen, an denen die politisch-moralische Botschaft aus der NS-Geschichte unvermittelt als eine eindeutige Lernerwartung mit direkten moralischen Implikationen an die Schülerinnen und Schüler herantritt (wenn also der Modus der Kommunikation von einem „über“ zu einem „Ihr“ wechselt), Abwehrreaktionen der Jugendlichen wahrscheinlicher werden. Die direkte politisch-moralische Adressierung von Jugendlichen unter Bedingungen von Schule scheint konfliktaffin. Weil die Schule ein Ort ist, an dem die wissens- und die personenbezogene Anerkennung von Jugendlichen nicht scharf auseinander zu halten ist, wird gerade das Thema Nationalsozialismus und Holocaust aus der Sicht der Schüler/innen zu einem Thema, bei dem ihre persönliche Integrität vor den Augen der Klassenöffentlichkeit auf dem Spiel stehen kann.

Die Gefahr, die im Geschichtsunterricht stattfindende Einsozialisation in die etablierten Redeweisen über die NS-Geschichte mit individuellem Lernprozessen der gegenwärtigen Erinnerungsgeneration zu verwechseln, hat mit einer begrifflichen Konfusion zu tun, die auch für das moralpädagogische Programm „Aus der Geschichte lernen“ kennzeichnend ist. Gerade weil es diesem Programm um mehr geht als um die Aneignung von Wissen, nämlich auch um die Veränderung von moralischen Haltungen und politischen Einstellungen zu den geschichtlichen Ereignissen, aber auch zu gegenwärtigen Problemfeldern, gerät die Prämisse, aus der Geschichte könne gelernt werden, unter Druck. Die Schwierigkeit hat mit dem Begriff des Lernens selbst zu tun. Lernen beschreibt Veränderungen kognitiver Schemata, die in der Regel auf neuen Informationen über einen Sachverhalt beruhen, ohne dass mit diesen Änderungen der Verhaltensweisen notwendigerweise einhergehen müssen. Jan Philipp Reemtsma hat diese Problemstellung in seinem Essay zur Frage „Was heißt: aus der Geschichte lernen?“ prägnant auf den Punkt gebracht: „Die Schwierigkeit liegt darin, eine Einstellungsänderung als ein Lernen zu beschreiben. (…) Ich kann lernen, verschiedene Phasen im Werk eines Künstlers zu unterscheiden, aber ich kann nicht lernen, das Werk Turners oder Strawinskys zu bewundern. Ich kann vielleicht lernen, die militärischen Fehler des deutschen Generalstabes zu erkennen, aber ich kann nicht lernen, Falkenhayns strategische Planungen zu verabscheuen (Reemstma 2001, 45-46).“

Mit Einsicht in die Unmöglichkeit, moralische Gefühle, Haltungen und Verhaltensweisen direkt erwirken zu können, ist eine grundsätzliche Begrenzung des moralpädagogischen Projekts „Aus der Geschichte lernen“ auch und vielleicht gerade im Kontext des schulischen Geschichtsunterrichts benannt.

Im Wissen um die Begrenzung der z. T. überambitionierten Ansprüche des moralpädagogischen Programms scheint die Aufgabe des Geschichtsunterricht darin zu liegen, den erinnerungskulturell bereits institutionalisierten Umgang mit der NS-Geschichte dem Lackmustest seiner kommunikativen Bewährung im Gespräch zwischen Generationen auszusetzen. Durch die sprachliche Kategorisierung der geschichtlichen Ereignisse, durch die Präsentation der aus diesen Ereignissen gesellschaftlich gezogenen politischen und moralischen Schlussfolgerungen, aber auch durch deren Infragestellung und Kritik scheint der Geschichtsunterricht über die NS-Geschichte eine Schnittstelle zu sein zwischen kulturell-institutionalisierten und kommunikativen Erinnerungsformen innerhalb des kollektiven Gedächtnisses der bundesrepublikanischen Gesellschaft (vgl. zum Hintergrund dieser Unterscheidung: Assmann (1988; 1992). Das, was der Geschichtsunterricht offensichtlich bei seinen Schülerinnen und Schülern erreicht, ist eine awareness in Bezug auf die heutige Bedeutung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen für die politische Kultur in der Bundesrepublik wie auch in der sich globalisierenden Welt. Dass, was die Schülerinnen und Schüler dann an konkreten Schlussfolgerungen für den Umgang mit heutigen politischen Konflikten und moralischen Kontroversen ziehen, kann ihnen jedoch weder der Geschichtsunterricht noch die Geschichte abnehmen.

* Bei dem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes „Das moralpädagogische Projekt Aus der Geschichte lernen und der schulische Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust“ in der Zeitschrift Ethik und Gesellschaft, Heft 2/2010.

Literatur

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Bergmann, Jörg/Luckmann, Thomas 1999: Moral und Kommunikation, in: dies. (Hg.), Kommunikative Konstruktion von Moral. Struktur und Dynamik der Formen moralischer Kommunikation, Bd. 1. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 13-36.

DIE ZEIT: Jugendliche und NS-Zeit. „Was geht mich das noch an?“, in ZEITmagazin vom 4.11. 2010. Durkheim, Emile 1991: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral. Hrsg. von Hans-Peter Müller. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Fest, Joachim 2003: Was wir aus der Geschichte nicht lernen, in: DIE ZEIT vom 20. März 2003.

Frei, Norbert 2004: Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf (Hg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/Main, Campus, S. 33-48.

Kohlberg, Lawrence 1976: Moralstufen und Moralerwerb.. Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz, in: Edelstein, Wolfgang/Oser, Fritz/Schuster, Peter (Hg.) (2001): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologische und pädagogische Praxis. Weinheim/Basel, Beltz, S. 35-61.

Levy, Daniel/Sznaider, Natan 2001: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/M., Suhrkamp.

Luhmann, Niklas 1990: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt/M., Suhrkamp. Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias 2010: Mind the Gap. Holocaust Education in Germany between pedagogical intentions and classroom interaction, in: Prospects. Quarterly Review of Comparative Education 40 (2010), S. 201-220.

Nunner-Winkler, Gertrud/Edelstein, Wolfgang 1993: Einleitung, in: Ders./Dies./ /Noam, Gil (Hg.): Moral und Person. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 7-30.

Proske, Matthias 2006: „Wieso müssen wir uns jedes Mal wieder dafür entschuldigen. Wir können doch gar nicht mehr dafür“. Geschichtsunterricht zwischen erinnerungspädagogischen Herausforderungen und Wirksamkeitsphantasien, in: Widerstreit – Sachunterricht, 4 (2006), Nr. 7 (www.widerstreitsachunterricht.de).

Reemtsma, Jan Philipp 2001: Was heißt: aus der Geschichte lernen?, in: ders., „Wie hätte ich mich verhalten?“ und andere nicht nur deutsche Fragen: Reden und Aufsätze. München, C. H. Beck, S. 30-52.

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Welzer, Harald 2004: „Ach Opa!“. Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Tradierung und Aufklärung, in: Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf (Hg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/M., Campus, S. 49-64.

Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline 2002, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M., Fischer.

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