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Kinder­krank­heiten einer Fünfjäh­rigen

Zur Krise der Partei „Die Linke*

aus vorgänge Heft 2/2012,S.114-121

Im Juni dieses Jahres wurde DIE LINKE. fünf Jahre alt. Für gewöhnlich sind solche Daten Anlass für Feierlichkeiten, Grußworte und Reden mit Rückblicken, Vorausschauen sowie Anekdoten aus der Anfangszeit. Zum Feiern war der Linkspartei freilich dieser Tage nicht zumute.

Erst einige Wochen zuvor wurde sie aus dem Landtag in Nordrhein-Westfalen herausgewählt. Dies war nicht nur ein herber Schlag ins Kontor, weil Wahlen in NRW gemeinhin als Test für die Bundestagswahl verstanden werden. Sondern das bevölkerungsreichste Bundesland hat zudem insbesondere für DIE LINKE eine hohe Symbolkraft. Nach der für Rot grün gescheiterten Landtagswahl im Mai 2005 rief der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder Neuwahlen aus und bot damit Oskar Lafontaine die Gelegenheit, der WASG das Angebot zu unterbreiten, als Spitzenkandidat zur Verfügung zu stehen, falls diese sich mit der PDS auf einen gemeinsamen Wahlantritt verständigen würde. Mit der Bundestagswahl 2005 begann für dieses Parteienbündnis, das sich zwei Jahre später zu einer Partei zusammenschloss, eine Erfolgsgeschichte, die lange Zeit unaufhaltbar schien.

Damit war es spätestens seit Beginn des vergangenen Jahres vorerst vorbei. Wichtige Wahlziele wurden nicht erreicht, der organisatorischen Fusion folgte bislang kein Zusammenwachsen zu einer einheitlichen Organisationsstruktur. Stattdessen bekämpfen sich einzelne Gruppen, wie Gregor Gysi auf dem Göttinger Parteitag ausführte, innerparteilich bis hin zum Hass. Die Worte mit denen er den Zustand der Bundestagsfraktion beschrieb, dürften in ihrer Offenheit ohne Beispiel in der bundesdeutschen Parteienlandschaft sein. Rückblickend muss die Amtszeit der beiden Vorsitzenden Klaus Ernst und Gesine Lötzsch als zwei verlorene Jahre betrachtet werden, in denen sich die Partei zwar ein Programm gegeben hat, doch ansonsten nicht viel zu Wege brachte.

Grund also, der Linkspartei das Totenglöckchen zu läuten, wie dies viele Medien im Vorfeld des Bundesparteitags am ersten Juni-Wochenende taten? Keineswegs. Mit der Wahl der beiden neuen Vorsitzenden hat die Partei etwas Tritt gefasst, nachdem sie bereits tief in den Abgrund geschaut hatte. Das ist noch nicht viel, doch es könnte der erneute Beweis dafür sein, dass Totgesagte länger leben. Was nicht zuletzt die PDS seit mehr als zwanzig Jahren dem insbesondere westdeutsch geprägten politischen Beobachter zeigt.

Neuordnung des Partei­en­sys­tems „diesseits der Union“

Bei der Suche nach Erklärungen für die ins Gegenteil gekehrte Erfolgskurve der Linkspartei wird für gewöhnlich darauf verwiesen, dass es ihr naturgemäß schwerer falle, als linke Kraft wahrgenommen zu werden, seitdem sich mit ihr SPD und Grüne die Oppositionsbänke im Bundestag teilen. Dies ist zweifellos richtig und dennoch nur die halbe Wahrheit. Denn deutlich wird, dass DIE LINKE. ihr strategisches Verhältnis zu SPD und Grünen nicht geklärt hat und damit letztlich sich selbst die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wohin sie will und mit wem. Diese zu finden, erfordert die Untiefen linker Befindlichkeiten, Irrtümer und Hoffnungen auszuloten.

Die Entstehung der Linkspartei entsprang zwar einem window of opportunity. Dennoch war sie ein Projekt, dessen Ziel in der parteipolitischen Neuordnung diesseits der Union bestand, wie Willy Brandt dieses Spektrum einmal beschrieben hat. Die Voraussetzungen dafür waren 2005 günstig. Die Schröder-SPD befand sich in einer neoliberalen Sackgasse. Von den Gewerkschaften ungeliebt wie selten zuvor, waren auf der örtlichen und betrieblichen Ebene die tektonischen Verschiebungen weg von der SPD mit Händen zu greifen und die Grünen hatten über die Regierungszeit ihren linken Flügel bis auf die politisch selbständige Kreuzberger Einheit Ströbele ebenfalls marginalisiert. Rot-grün hatte abgewirtschaftet.

Ein organisatorisches Auffangbecken für enttäuschte sozialdemokratische und grüne Wähler- und Mitgliedschaft zu schaffen, konnte freilich nur erfolgreich gelingen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt waren: (1) es mussten alle linken Potenziale mobilisiert werden, die vorstellbar waren, auch unter der Voraussetzung, dass damit jahrzehntelange Konkurrenzen und Widersprüche ausgetragen werden müssten. Und (2) es bedurfte der PDS, ihres Milieus, vor allem aber ihrer Logistik, ihrer Verankerung und örtlichen Strukturen, ihres Geldes (Lorenz 2007: 293).

Für die PDS erfüllte sich mit der Parteifusion ein lang gehegter Wunsch. Seit 1990 hatte sie erfolglos an ihrem Projekt „Westausdehnung“ gearbeitet, ohne einen sichtbaren Erfolg zu verzeichnen, sieht man von vereinzelten kommunalen Ausnahmeergebnissen ab, die zumeist lokalen Ursachen entsprangen (Meuche-Mäker 2006: 123). Nun ergab sich endlich die Möglichkeit einer flächendeckenden Ausdehnung im gesamten Bundesgebiet. Die in der PDS für gewöhnlich eine absolute Minderheit stellenden Vertreter der Kommunistischen Plattform versprachen sich von der Fusion einen Einflusszuwachs durch die hinzukommenden radikalen Linken. Für viele ostdeutsche Mitglieder war die Fusion mit einer Partei, an deren Spitze der vormalige SPD-Vorsitzende Lafontaine stand, – bei aller Skepsis gegenüber „denen von drüben“ – eine psychologische Genugtuung gegenüber der SPD, die 1990 entschieden hatte, keine SED-Mitglieder aufzunehmen. Erneut war man ein Stück mehr „angekommen“. Zudem bot die Fusion mit der WASG der von absinkendem Wählerzuspruch, Überalterung und abnehmender Mitgliedschaft geplagten PDS (vgl. Hoff 2003) eine ebenso unerwartete wie dringend erforderliche Frischzellenkur.

Obwohl aus den genannten Gründen unverzichtbar, war die PDS in den Augen der WASG-Fusionsstrategen ein potenzielles politisches Hindernis für die Mobilisierung sowohl der radikalen wie auch der gewerkschaftlichen Linken. Während Erstere die PDS aufgrund ihrer an gesellschaftlicher Transformation orientierten Strategie als systemangepasst ansahen, beäugten Letztere sie kritisch aufgrund ihrer SED-Herkunft, ihrer Verankerung im de-industrialisierten, für Gewerkschaften schwierigen Ostdeutschland, und weil sie den Habitus der PDS-Politiker mit ihren westdeutsch-sozialdemokratischen Augen als „rechtssozialdemokratisch“ fehlinterpretierten.

Diese Skepsis bis Ablehnung, welche der gewerkschaftlich orientierte Flügels gegenüber dem PDS-Spektrum zeigte, ist in ihrer Wirkung auf dieses nicht zu unterschätzen. Denn im pragmatischen Reformlager der PDS versprach man sich gerade von den Ex-SPD-Gewerkschaftern einige Unterstützung gegenüber den hinzugekommenen radikalen Linken, verfügten sie doch über organisatorische Erfahrungen und einen vergleichbaren Pragmatismus im politischen Alltag. Wer betriebliche Kompromisse aushandeln müsse, so die Logik, würde naturgemäß auch Verständnis für die Kompromisse haben, die PDS-Vertreter täglich in den Kommunen Ostdeutschlands aushandelten. Über Regierungsbeteiligungen und andere Streitthemen der PDS müsse also vermutlich weniger debattiert werden.

Strate­gi­sches Dilemma, organi­sa­to­ri­sche Defizite

Jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne, der ihn schützt. Und solange wie die SPD in der Großen Koalition zwischen CDU und LINKEN zerrieben werden konnte, fielen die Missverständnisse im Gründungsprozess sowie die Nachteile dieser fragilen Ausgangslage zunächst nicht ins Gewicht. Erst mit der Bildung der schwarz-gelben Koalition 2009, der diskontinuierlichen aber stetigen Rückbesinnung der SPD auf ihre linken Positionen sowie einer Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses, weg von den Kernthemen der Linkspartei, wurden die von Beginn an bestehenden Haarrisse auch nach außen hin sicht- und spürbar. Mit Folgen für DIE LINKE, was am Verhältnis zur SPD sowie an der Wählerschaft der Linkspartei verdeutlicht werden soll.

Ohne SPD kein Politikwechsel in Deutschland lautet eine einfache Formel, der sich auch DIE LINKE. nicht entziehen kann, obwohl sie dies gern würde. Mit der Annahme, durch die Bildung der Linkspartei eine Neuordnung des Parteiensystems diesseits der Union herbeizuführen, verband sich zugleich die Vorstellung, dass gegen die Linkspartei künftig keine Regierung mehr gebildet werden könne. Dies hat sich zwischenzeitlich als Irrtum herausgestellt, was jedoch keinen Einfluss auf das Verhältnis beider Parteien zueinander hatte. Es wird vermutlich in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte nicht viele Beispiele dafür geben, wie zwei Parteien, die beide im Bundestag die Oppositionsbank drücken, so unbarmherzig und kompromisslos wenn nicht gegeneinander, so doch aneinander vorbei arbeiten. Die SPD weigert sich beharrlich, gemeinsame Parlamentsinitiativen mit der Linkspartei auf den Weg zu bringen, während die Vertreter des Lafontaine-Flügels in derselben, die Vergehen der Sozialdemokratie anprangern, als wäre die SPD noch in der Bundesregierung: Hartz IV, Afghanistan-Krieg, Rente mit 67 u. a. m. Da rot-rot-grün seit der Bundestagswahl 2009 – erstmals seit 1998 – keine rechnerische Mehrheit gegenüber Union und FDP aufweist, mag dieser Umgang auf Bundesebene zwar skurril und unnötig sein, doch richtet er materiell keinen Schaden an.

Auf Länderebene sieht dies ganz anders aus. Zwar geißelt DIE LINKE. auch hier, in zwischen Ost und West sehr unterschiedlicher Tonalität, die SPD für ihre Vergehen auf Bundesebene als Teil des neoliberalen Establishments, unterbreitet aber gleichzeitig ernsthafte Angebote zur Regierungskooperation. Die SPD hingegen verfolgt auf Länderebene eine Strategie, die darauf setzt, DIE LINKE. durch das Fernhalten von Regierungsbeteiligungen zu isolieren, an der Durchsetzung linker Gestaltungspolitik zu hindern, um sie so in die Bedeutungslosigkeit zu treiben. Auf diesem Wege will sie ehemals sozialdemokratische Wählerschichten entweder zurückzugewinnen oder zumindest von der Wahl der Linkspartei abhalten. Dort, wo DIE LINKE in Ostdeutschland stärker ist als die SPD, in Sachsen-Anhalt und Thüringen, wird eine Regierungsbeteiligung mit der Linkspartei unter Verweis darauf, dass DIE LINKE. keinen Ministerpräsidenten stellen dürfe, abgelehnt, während die Juniorpartner-Rolle in Baden-Württemberg gegenüber den Grünen akzeptiert wird. Doch selbst dort, wo sie den Ministerpräsidenten stellen könnte, wie z.B. im Saarland verzichtet sie statt dessen darauf und verhilft der Union zu einem ungerechtfertigten Einfluss in der Länderkammer, obwohl bereits im Herbst des vergangenen Jahres durch die Bildung von rot-rot-grünen Regierungen eine Bundesratsmehrheit gegen Schwarz-gelb möglich gewesen wäre. Dieser Umgang seitens der SPD wiederum bestärkt diejenigen Kräfte in der Linkspartei, die von jeher der Meinung sind, dass es nur noch zwei Lager im Parteiensystem gäbe: Das Lager der neoliberalen Mainstream-Parteien und DIE LINKE, als einzige antineoliberale Partei, die im Übrigen in der Bewegung mehr Durchsetzungsfähigkeit hätte, als in Regierungszwängen.

Die Wirkung auf den pragmatischen Reformerflügel ist verheerend. Dieser gerät unter Druck von den bewegungsfixierten radikalen Linken in der eigenen Partei und muss in seinem Bestreben, durch politische Bündnisse Gestaltungsoptionen zu eröffnen, stetig Enttäuschungserfahrungen ansammeln. Wahlniederlagen wie in Berlin, wo nach zehn Jahren rot-roter Landesregierung keine Mehrheit zur Fortsetzung dieses Bündnisses zustande kam, verstärken diese Entwicklung noch.

Die Wählerschaft der Linkspartei stammt aus vielen sozialen Schichten. Auf der gesellschaftlichen Oben-Unten-Skala ordneten sich bei der Bundestagswahl 2009 25 Prozent bis 30 Prozent der LINKEN-Wählerschaft unten ein, rund die Hälfte in der gesellschaftlichen Mitte und ein knappes Viertel oben. Gefragt nach ihrer Selbsteinstufung auf der politischen Links-Rechts-Skala sieht sich eine deutliche Mehrheit politisch links ein knappes Drittel verortet sich politisch in der Mitte und ein Zehntel rechts.

Diese Angaben sind nicht streng repräsentativ, gleichwohl im Kern typisch, für Großstädte im Westen mehr, für manche Regionen im Osten weniger: Die Mehrheit der linken Wählerinnen und Wähler sieht sich in der sozialen Mitte, knapp zwei Drittel sehen sich links. Mit einer politisch-strategischen Orientierung allein und vornehmlich auf Erwerbslose und (prekäre) Niedrig-Entlohnte wäre kaum dauerhaft ein Parlamentseinzug möglich. Umgekehrt droht ohne sie die Linkspartei überflüssig zu werden.

Die Kunst der politischen Strategie- und Positionsbildung sowie der Ausstrahlung nach innen und außen besteht darin, dieser Vielschichtigkeit Rechnung zu tragen. Wo dies dauerhaft nicht der Fall ist, droht der Kontakt zu den entsprechenden sozialen Schichten flüchtig zu bleiben oder gar‘ verloren zu gehen. Die Klammer, mit der sich DIE LINKE ihrer heterogenen Wählerschaft versichern könnte, müsste lauten: Die Partei steht entschieden auf der Seite der Rechte der abhängig Beschäftigten gegen Unternehmer und Kapital. Sie stellt dabei die Interessen von Erwerbslosen und niedrigentlohnten Prekären, mehrheitlich Frauen, in das Zentrum ihrer Politik. Sie ist sich folglich der Trennung der Arbeitswelt in eine Kernarbeiterschaft, prekäre Randbelegschaften, Leiharbeiter etc. bewusst und sucht, „die Hierarchisierung sozialer Interessen und Positionen entlang ihrer Stellung im Kapitalverwertungsprozess politisch zu verdoppeln. Ein zentraler Bezugspunkt solch politisch-praktisch werdender Klassensolidarität sind die öffentlichen Einrichtungen, die Verteidigung gemeinschaftlicher Lösungen gegen die private Selektion entlang der Kaufmacht des Geldes.“ (Kahrs 2011: 17)

Mit einem solchen strategischen Kompass könnte DIE LINKE für unterschiedliche soziale Schichten wählbar bleiben: soziale Gerechtigkeit, Solidarität, kollektive und kooperative Lösungen. „Wenn es gelingt, immer wieder politische Konfrontationslinien entlang solcher Themen zu eröffnen, die die eigene Anhängerschaft zusammenführt und sie nicht entlang ihrer unterschiedlichen politischen und sozialen Selbsteinstufungen auseinandertreibt, können auch die unterschiedlichen Einstellungen in der eigenen Wähler/-innenschaft zu Fragen wie Atomkraft, Einwanderung, Innere Sicherheit weniger ,neutralisiert` als vielmehr konzeptionell im Sinne radikaler Reformpolitik fruchtbar gemacht werden.“ (Kahrs 2011: 17) Dies ist der Linkspartei bislang nicht gelungen, was unter anderem daran liegt, das die Partei eine glaubwürdige erweiterte Durchsetzungsstrategie nicht entwickelt hat.

Das Verhältnis der linken Anhängerschaft zum politischen System ist ebenfalls nicht homogen. Im Gegenteil, es erwachsen aus den Unterschieden zum Teil widersprüchliche Anforderungen an das strategische Agieren der Partei. Die erste und größte Herausforderung liegt darin, dass die Wählerschaft, auch oder gerade die der Linkspartei, die Wahlen gewichtet: Bundestagswahlen sind wichtig, mit deutlichem Abstand folgen Landtagswahlen, am Ende stehen Kommunal- und Europawahlen. Diese Gewichtung hat etwas mit der öffentlichen Aufmerksamkeit zu tun, die den jeweiligen Ebenen zuteil wird. Und sie hat etwas zu tun mit den Erwartungen in die Folgen dieser Wahlen für die eigene Lebenslage. Grundsätzlich gibt es Nichtwähler/-innen in allen sozialen Schichten und unter Anhängern aller Parteien. Aber in den vergangenen zehn Jahren bekam der Anstieg der Wahlabstinenz einen erkennbaren sozialen Klassencharakter: Vor allem die sozial Schwachen blieben verstärkt den Wahlurnen fern. Für linke Politik erwächst daraus das tief greifende Problem, wie sie Mehrheiten für eine sozial gerechte Politik auch auf kommunaler Ebene resp. auf Landesebene gegen einen Trend mobilisieren kann, wenn die, für die sich vor allem etwas verbessern soll, gar nicht mehr wählen gehen.

Betrachtet man nun noch die unterschiedliche Einstellung zu Parteien und zum politischen System, zeigen sich drei Gruppen:

  1. die politisch-inhaltlichen Wähler/innen: Sie entscheiden sich für eine Partei aufgrund politischer und programmatischer Inhalte und identifizieren sich mit der Partei über einen längeren Zeitraum (Wieder- und Stammwähler);
  2. die politisch-taktischen Wähler/innen: Sie haben für ihre Entscheidung vor allem taktische Gründe (Denkzettel, erwartete Konstellationen usw.). Für sie verändert sich der taktische Wert der Linkspartei von Wahl zu Wahl;
  3. die politisch enttäuschten Wähler/innen: Sie kommen von anderen Parteien und liegen mit der Politik, dem politischen System, der politischen Klasse grundsätzlich über Kreuz. DIE LINKE zu wählen, ist für sie der (oftmals letzte) Versuch, im politischen System repräsentiert zu sein.

Bei der Bundestagswahl 2009 waren diese drei Gruppen annähernd gleich groß. Bei Landtagswahlen schmilzt die dritte Gruppe grundsätzlich.

Hinzu kommt nun bei einzelnen Wahlen, die Enttäuschung darüber, dass sich auch durch die Wahl der Linkspartei keine Verbesserungen ergeben haben, weshalb kein Sinn darin gesehen wird, dies noch einmal zu tun. In Baden-Württemberg z. B. gingen vor allem die taktischen Wähler/innen zu den Grünen. Sie wollten, dass der Wechsel von Mappus zu Kretschmann und für systemimmanente Reformen nicht an 4,8 Prozent für DIE LINKE scheitert. Wo in Hessen und Nordrhein-Westfalen noch überzeugend argumentiert werden konnte – dass mit der Linkspartei ein Politikwechsel erst möglich würde -, entstand in Baden-Württemberg die Befürchtung, die CDU könnte es nach 50 Jahren doch noch einmal schaffen und das Zeitfenster des Wechsels würde sich erneut für lange Zeit schließen.

Glaubwürdigkeit und Bindung in der Wählerschaft gehen verloren, wenn Wahlversprechen offensichtlich verraten werden – aber auch, wenn es bei leeren Versprechungen und grundsätzlichen Forderungen bleibt und der Eindruck des Maulheldentums entsteht. Durchsetzungsstrategien haben nicht notwendig etwas mit Regierungsbeteiligungen zu tun, aber mit der Erfahrung, dass LINKE auch „etwas für uns regeln“ können.

Und auch die dritte Gruppe in der Wähler/-innenschaft stellt Anforderungen. Sie versammelt sich nicht auf Dauer hinter konkreten Kampagnen-Forderungen (Mindest-lohn, Hartz IV, Rente mit 67), sie verlangt für dauerhafte Identifikation mehr. Dabei geht es vordergründig weder um „breiter“ angelegte Themen noch um eine „schärfere“ Profilierung. Mit Bezug auf Chantal Mouffe geht es vielmehr darum, dass die Menschen mehr als Interessenvertretung erwarten. Gewünscht sind vielmehr kollektive Identitäten, die Brücken zwischen den verschiedenen Wählergruppen schlagen können.

Als Gesamtpartei hat DIE LINKE, zusammengefasst die Wahl zwischen zwei Entwicklungswegen. Zum einen, sich darauf auszurichten, das vorhandene Wählerpotenzial jeweils optimal auszuschöpfen. Dann würden mittelfristig wieder bundesweite Bestergebnisse von 13 bis 15 Prozent erreichen werden. In Koalitionen bliebe sie für gewöhnlich der kleinere Partner. Alternativ könnte sie versuchen, bundesweit das Wählerpotenzial und damit die Akzeptanz bei den Anhängern anderer Parteien auszuweiten, um höhere Stimmenanteile zu erzielen und in Koalitionen auch als stärkerer Partner akzeptiert zu werden. Eine Aussicht für Teile Ostdeutschlands. Dieser Weg zur Volkspartei ist aus nachvollziehbaren Gründen in den meisten westlichen Ländern keine strategische Alternative, weil dann der „Außenseiterstatus“, anders als die anderen zu sein, der DIE LINKE. für viele erst wählbar macht. Umgekehrt blockiert die strategische Entscheidung für die „Außenseiter“-Rolle einzelne Landesverbände. Denn die Mehrheit der Wählerinnen und Wählern möchte Außenseitern eben nicht die Verantwortung für das Land überlassen, einer 20 bis 30 Prozent-Daueropposition schmilzt hingegen die Wählerbasis weg, wie bei der bayerischen SPD zu besichtigen ist. Insoweit haben beide Wege gute Argumente für sich.

Berg- und Talfahrt – kein Novum für die Linkspartei

Entscheidend für DIE LINKE. dürfte sein, ob sie nach dem Göttinger Parteitag, dem eine monatelange kräftezehrende Personaldebatte vorausging, mit der neuen Parteiführung in der Lage ist, diese strategischen Defizite aufzulösen und die Partei organisatorisch zu stabilisieren. Zudem steht DIE LINKE im Osten weiterhin vor dem Problemen einer aus Altersgründen negativen Mitgliederbilanz und den damit verbundenen Verlusten hinsichtlich Einnahmen und organisatorischer Flächenverankerung und im Westen muss sie die Auflösung ganzer Orts- und kommunaler Parlamentsstrukturen stoppen. Interne Zahlen aus Nordrhein-Westfalen zufolge soll zwischenzeitlich ein Viertel der ursprünglichen Kommunalfraktionen der Linkspartei nicht mehr existent sein. Aus dem Saarland wird ähnliches berichtet.

Stockender Parteiaufbau, mangelhafte innerparteiliche Debattenkultur, die nur „richtig“ oder „falsch“, „schwarz“ oder „weiß“ kennt, aber nicht die Grautöne des Lebens wahrhaben will, die mit dem Gründungsgeschenk der sozialen und politischen Vielfalt nichts anzufangen weiß, liegen in der Verantwortung der Parteiführung. An ihrem Vorbild – ob sie offen debattieren und nachvollziehbare Lösungen von Konflikten und Problemen anbieten – orientieren sich auch Haltung und Habitus der Basisorganisationen – oder eben nicht. Die unterschiedlichen politischen und sozialen Erfahrungen und Sichtweisen auf die Probleme im Land, die mit der Vereinigung von WASG und PDS zusammenfanden, wurden schon früh als mangelnder Geschlossenheit gebrandmarkt, statt sie als Chancen zur politischen Weiterentwicklung und sozialen Verankerung in möglichst vielen Alltagswelten zu begreifen.

Es spricht manches dafür, dass die beiden neuen Vorsitzenden in der Lage ist, den Wert einer pluralen Linken, der von Klaus Ernst und Gesine Lötzsch weder wirklich verstanden noch genutzt wurde, besser zu erkennen. Der westdeutsche Gewerkschafter Bernd Riexinger gehörte nie der SPD an, Katja Kipping konnte schon aus Altersgründen nicht mehr SED-Mitglied sein. Mit 34 Jahren schaut sie bereits auf dreizehn Parlamentsjahre im Landtag und im Bundestag zurück, während er über eine jahrzehntelange Gewerkschaftsverankerung verfügt. Beide verstehen sich eher als undogmatische Linke und sind jeweils ausgezeichnet vernetzt im Spannungsfeld zwischen Partei, Gewerkschaft und sozialen Bewegungen. Das gibt ihnen den Spielraum, die unterschiedlichen Spektren innerhalb der Partei bedienen zu können. Der Zeitraum bis zur Bundestagswahl 2013 ist freilich knapp und in wenigen Monaten steht mit der Landtagswahl in Niedersachsen die erste Bewährungsprobe an.

Gleichwohl ist es sinnvoll, daran zu erinnern, dass Wahlniederlagen, auch Niederlagenserien, die in der Geschichte sowohl der FDP als auch der Grünen zu finden sind, nicht zwangsläufig das Ende kleinerer oder mittlerer Parteien bedeuten müssen, sondern die Schattenseiten der den Niederlagen vorhergehenden Serien großer Wahlerfolge sind. Der Volksmund kennt dafür den Spruch: „Wer hoch steigt, wird tief fallen“.

So wie Grüne und FDP im Osten aufgrund amorpher Verankerung kein Abonnement auf eine Mitgliedschaft im Landtag haben, kann auch DIE LINKE beim bisherigen Stand ihres Parteiaufbaus und ihrer lokalen Verankerung, nicht davon ausgehen, jedes westdeutsche Landesparlament wieder erobern zu können. Das ist „zwar durchaus unerfreulich und weist auch auf ein strategisches Versagen der Partei in der Vereinigungspolitik hin“ (Horst 2001: 851), ist jedoch keineswegs mit dem Niedergang der Partei selbst gleichzusetzen. Dafür mag es möglicherweise Indizien geben, doch ist das Ausscheiden aus ein oder zwei Landtagen dafür kein hinreichendes Kriterium.

Seit 1990 haben insgesamt 90 Landtagswahlen, einschließlich der am 13. Mai 2012 in NRW stattgefunden. Die Grünen erreichten bei 71 Landtagswahlen über 5 Prozent der Stimmen und zogen in den Landtag ein. Die Liberalen konnten bei 52 von 88 Landtagswahlen auf ein Ergebnis von mehr als 5 Prozent verweisen. DIE LINKE, inkl. PDS, konnte bislang immerhin 44 der 89 Landtagswahlen erfolgreich bestreiten – und dies obwohl sie bis 2006 allein auf das Elektorat in Ostdeutschland angewiesen war und erst mit der PDS-WASG-Fusion zur LINKEN das Elektorat in den westdeutschen Ländern erschlossen werden konnte. Der Verlust von Landtagsfraktionen, insbesondere wenn es sich dabei um einen Trend handelt, ist ein deutliches Zeichen einer Krise und jede Partei ist gut beraten, die Krisensymptome ernst zu nehmen und gegenzusteuern. Wird der Kurswechsel vermieden, ist ein Schiffbruch hochwahrscheinlich.

*Der vorliegende Text basiert in Teilen auf den gemeinsam mit Horst Kahrs, Referent für Sozialstrukturanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, publizierten Themenausgaben der von uns herausgegeben Wahlnachtberichte (http://wahlanalysen.wordpress.com) zur Partei DIE LINKE. Ich bedanke mich für die Erlaubnis, einige seiner Überlegungen mit verwenden zu dürfen.

Literatur

Hoff, Benjamin-Immanuel 2003: Jahre der Entscheidung. Wenn die PDS überleben will, muss sie ihren Gebrauchswert neu definieren, in: Vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 42. H. 1, S. 56-59.

Horst, Patrick 2001: Totgesagte leben länger, manchmal lange. Zu den Überlebenschancen der Grünen vor dem koalitionspolitischen Erfahrungshintergrund der FDP, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), H. 4, S. 841-860.

Kahrs, Horst 2011: Was tun? Was tun, in: Kahrs, Horst/Hoff, Benjamin-Immanuel: Die Ergebnisse der Abgeordnetenhauswahl vom 18. September 2011. Wahlnachtbericht und erste Analyse, abrufbar auf: http://wahlanalysen.wordpress.com.

Lorenz, Robert 2007: Techniker der „kalten Fusion“. Das Führungspersonal der Linkspartei, in: Tim Spier et al. (Hrsg.): Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft, Wiesbaden, S. 275-324.

Meuche-Mäker, Meinhard 2006: Die PDS im Westen, in: Brie, Michael, Hildebrandt, Cornelia (Hrsg.): Parteien und Bewegungen. Die Linke im Aufbruch, Berlin, S. 123-133.

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