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Geteilte Erinne­rungen in der Demokratie

aus vorgänge Heft 2/2012,S.61-68

Seit mehr als zwanzig Jahren haben sich die Themen Gedächtnis und Erinnerung derart zentral in den Kulturwissenschaften etabliert, dass zu Recht von der Herausbildung eines neuen Paradigmas kulturwissenschaftlicher Forschung gesprochen worden ist (vgl. Assmann 2002: 400). Die Politikwissenschaft – wie auch die Soziologie – zeigte sich lange Zeit recht unbeeindruckt von dieser verstärkten Hinwendung zum Gedächtnisthema. Die Demokratietheorie hat sich kaum mit der Frage beschäftigt, in welcher Art und Weise Demokratien Geschichte „brauchen“, oder welchen Einfluss der Umgang mit der Vergangenheit hat. Als Faktoren, welche die politische Kultur eines Landes beeinflussen, wurden Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung höchstens als Residualkategorien betrachtet.

Es waren erst die realpolitischen Entwicklungen im Zuge der Zeitenwende 1989/90, in denen es nach den Transformationsprozessen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR und in Osteuropa zu einer dringlichen Frage wurde, wie die Vergangenheit „bewältigt“ werden sollte, welche Formen transitionaler Justiz angemessen und durchsetzbar waren und wie die neuen politischen und nationalen Identitäten (wieder)hergestellt werden sollten. Die Erforschung dieser Art von Vergangenheitspolitik etablierte sich fest in der politikwissenschaftlichen Transitions-, später dann Transformationsforschung, die zunächst davon ausgegangen war, jegliche Thematisierung der diktatorischen Vergangenheit sei eine zu große Hypothek für junge, instabile Demokratien (vgl. O`Donnel/Schmitter 1986: 30; Huntington 1991), so dass die Strategie einer „kollektiven Amnesie“ in Form einer stillschweigenden gesellschaftlichen Übereinkunft, wie sie lange Zeit in Spanien betrieben wurde, als Königsweg auf dem Weg zu einer konsolidierten Demokratie gelten konnte. Spanien ist aus vergangenheitspolitischer Perspektive aber gerade deshalb so interessant, weil auch dort, wenn auch nach einer langen Phase der Latenz, ein „Kampf um Erinnerungen“ (Bernecker/Brinkmann 2006) um die angemessene Repräsentation des spanischen Bürgerkriegs und des Franco-Regimes ausbrach und die Amnesie beendete. Dieser Fall ist deshalb so lehrreich, weil er zeigt, dass die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um einen angemessenen Umgang mit der Vergangenheit in modernen Demokratien nahezu unvermeidlich sind und damit eine ältere Praxis revidieren. So erließen die Athener zum Ende des Peloponnesischen Krieges ein Gesetz, das es verbot, an die vergangenen Missstände zu erinnern, wie auch Cicero sich vor dem römischen Senat kurz nach der Ermordung Cäsars für das Vergessen der mörderischen Zwietracht aussprach. Die systematische Vernichtung von Dokumenten gehörte später zum festen Repertoire revolutionärer Bewegungen.

Im Gegensatz dazu bildet der Bezug auf die Geschichte einen wesentlichen Bestandteil der Selbstverständigungsdiskurse und Identitätsbildung moderner Demokratien, wobei – und dies ist in der Tat neu – auch die dunklen Seiten der nationalen Geschichte in diese Praxen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung gehören. In diesem Zusammenhang ist von Saul Friedländer von einem „Aufwallen kollektiver Erinnerungen“ (Friedländer 1999: 19) gesprochen worden, über dessen wahre Motive nur gemutmaßt werden könne. Dieser Trend ließe sich anhand vieler Beispiele belegen, etwa mit dem Besuch Bill Clintons in einem Reservat indigener Völker Nordamerikas, bei dem er als erster Präsident der USA in einem öffentlichen Akt für die Taten weißer Siedler um Verzeihung bat, oder mit der Thematisierung der Verfehlungen der katholischen Kirche durch den Papst, den Verhandlungen multinationaler Konzerne über Entschädigungszahlungen, weil sie in die Verbrechen der Nationalsozialisten involviert waren oder von ihnen profitierten, der förmlichen Entschuldigung der australischen Regierung bei den Aborigines usw. usf.

Der Philosoph Hermann Lübbe ironisierte diese meist vor allem symbolisch gemeinten Akte mit der Bemerkung, die Entschuldigung für vergangene Untaten sei zu einer neuen Üblichkeit in der Pflege internationaler Beziehungen geworden (Lübbe 2003: 13). Was Lübbe jedoch übersieht ist die Relevanz solcher Praktiken für die Selbstthematisierung moderner Gesellschafen, die sich im Zuge der Modellierung der Geschichte ein Bild von sich selbst machen und die kollektive Identität gestalten. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen dem kollektiven Gedächtnis einer politischen Einheit und ihrem Selbstbild bzw. einer kollektiven Identität weitaus weniger untersucht, als die verschiedenen Modi der Vergangenheitsbewältigung im Zuge von Demokratisierungsprozessen. Es versteht sich (fast) von selbst, dass nach dem Ende einer Diktatur die Erinnerungspolitik auf der Ebene der Politik die Stabilität des neu entstehenden Gemeinwesens in den Fokus rückt, während auf der Ebene des Rechts die Frage der möglichen Strafverfolgung der Täter zentralen Stellenwert erlangt und auf der Ebene der Moral die schuldhaften Verstrickungen der Täter, Mitläufer und Opportunisten und die sozio-moralischen Voraussetzungen der jungen Demokratie thematisiert werden. Das Ziel solcher Betrachtungen liegt in der Identifizierung mehr oder weniger erfolgreicher Strategien des Umgangs mit der Vergangenheit und der Grad der erfolgreichen Strategie bemisst sich am erreichten Grad der Stabilisierung und Konsolidierung eines demokratischen Systems.

Viel schwieriger dagegen erweist sich die Frage, welche Rolle die Erinnerung an die Vergangenheit oder spezifische Vergangenheitsrepräsentationen in bereits konsolidierten Demokratien spielen. Ein geradezu funktionalistischer Zusammenhang zwischen der kollektiven Erinnerung und dem Umgang mit der Vergangenheit auf der einen Seite und dem Grad der demokratischen Konsolidierung auf der anderen wie in Übergangsdemokratien wird in stabilen, konsolidierten Demokratien kaum zu konstatieren sein. Wofür also „brauchen“ etablierte Demokratien die Vergangenheit, selbst wenn der Kampf um Erinnerungen, von dem oben bereits die Rede war, längst ausgestanden ist? Und wie wird die Erinnerung organisiert, bzw. kanonisiert, so dass die Gesellschaft als Ganze über die gleiche – oder zumindest doch ähnliche – Erinnerung verfügt?

Erinnerung und moralische Identität

Das Wahrheitsministerium in George Orwells Roman 1984 steht idealtypisch ‚für den totalitären Versuch diktatorischer Systeme, die Vergangenheit zu kontrollieren und die „Geschichte“ den jeweiligen Zeitläuften anzupassen. Die Archive der Vergangenheit werden fortwährend geändert, gefälscht und umorganisiert, um so die kollektive Erinnerung zu manipulieren. In reiner Form ist dies nur möglich in Orwells Dystopie, doch einen Abglanz davon findet man in allen totalitär/autoritären Systemen. So dominierte bis etwa Mitte der achtziger Jahre der antifaschistische Widerstand als der Gründungsmythos die Selbstthematisierung der DDR-Gesellschaft. Abgestützt wurde er durch passende oder passend gemachte Bezüge auf die „Vorgeschichte“ der DDR, die ganz im Sinne der sozialistischen Staatsdoktrin als „frühbürgerliche Revolutionen“ interpretiert wurden, wie der Bauernkrieg und die Befreiungskriege von 1813/14. Diese Geschichtserzählung sollte dabei nicht nur den inneren gesellschaftlichen Zusammenhalt abstützen, sondern immer auch die Abgrenzung zur Bundesrepublik untermauern. Herfried Münkler bemerkt dazu in seiner Arbeit Die Deutschen und ihre Mythen (2010: 423): Der antifaschistische Widerstand „wurde zu einer säkularen Staatsreligion, die in der Verehrung kommunistischer Widerstandskämpfer als Märtyrer ihren Ausdruck fand. Zugleich markierte er eine scharfe Grenze sowohl gegenüber der deutschen Vergangenheit als auch gegenüber der deutschen Staatsbildung im Westen. Die Bundesrepublik bestritt die Legitimität der DDR, und die DDR antwortete darauf mit dem antifaschistischen Gründungsmythos, der wiederum die Legitimität des westdeutschen Staates in Frage stellte“.

In pluralistischen, zunehmend fragmentierten Demokratien existieren dagegen verschiedene Vergangenheitsnarrative nebeneinander, wobei sich die aus der Vergangenheit repräsentierten Inhalte wie auch die Bewertungen historischer Momente, je nach der Trägergruppe, welche sich hinsichtlich ihres sozialen Status, ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer politischen Orientierungen etc. unterscheiden, voneinander abweichen mögen. Es sind folglich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, welche die Auswahl und Deutung dessen, woran sich Individuen erinnern, prägen. Erinnerung, vor allem kollektive Erinnerung, ist damit immer Sinnproduktion. Peter Reichel hat dies wie folgt umschrieben: „Bei dieser Sinnproduktion oder Verhaltenssynthese werden Erinnerungen konstruiert und in Geschichte elaboriert, wobei die Ordnung des erzählten Geschehens (…) weitgehend eine Funktion des Erzählens ist. (…) Erinnerung hängt demnach nicht – oder weniger als zumeist unterstellt – von Vergangenheit ab“ (Reichel 1995: 19). Vielmehr entsteht die Vergangenheit erst durch die soziale Konstruktion in Form des Erzählens, Dokumentierens und Deutens. Diesen Punkt betont auch der kürzlich verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty. Er beginnt sein Buch Achieving Our Country (Rorty 1998) – für die deutsche Ausgabe etwas unglücklich übersetzt mit Stolz auf unser Land – mit einer etwas seltsamen Analogie und bemerkt: „Nationaler Stolz ist für Länder das, was Selbstachtung für die Individuen ist – eine notwendige Bedingung dafür, den eigenen Bildungsprozess voranzubringen“. Ein solcher Stolz gründe auf einem bestimmten Bild, welches von der Nation gezeichnet wird: „Ich sage Bild statt Mythos oder Ideologie, weil ich nicht glaube, dass es eine nicht-mythologische, nicht-ideologische Weise gibt, die Geschichte eines Landes zu erzählen“. Insofern sind alternierende Geschichtsnarrative nicht weiter problematisch. „Geschichten darüber, was eine Nation gewesen ist und was sie zu sein anstreben sollte, sind keine Versuche einer akkuraten Darstellung, sondern eher Versuche, eine moralische Identität zu erschaffen“ (Rorty 1998: 3,11,13).

Was auf dem ersten Blick wie eine neue Variante altbekannter chauvinistischer Vorstellungen daherkommt, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als doch komplizierter: Die Selbstthematisierung einer Gesellschaft im Scheinwerfer ihres Blicks auf die eigene Vergangenheit wird zum „Selbstentwurf einer deliberierenden Bürgergesellschaft – ein fortgesetztes Konstruieren, kein Geschenk der Natur. Nationale Identitäten bilden sich nur im Fluss der öffentlichen Diskurse“ (Habermas 1999). Eine solche reflexive staatsbürgerliche Normgenese im Angesicht gerade der „dunklen Seite der Demokratie“ (Michael Mann), Rorty denkt hier an die Sklaverei und den Vietnamkrieg, wirkt geradezu wie ein erinnerungspolitisches Purgatorium: „Aber nichts, was auch immer eine Nation getan haben mag, macht es für einen demokratischen Verfassungsstaat unmöglich, Selbstachtung wiederzugewinnen“ (Rorty 1998: 32).

Freilich werden gegenüber einer solchen, hoch normativen und idealisierten Praxis bürgerschaftlicher Selbstvergewisserungen im Rahmen vergangenheitspolitischer Diskurse zwei Einwände zu berücksichtigen sein: Zunächst könnte gegen Rorty der Vorwurf des Relativismus erhoben werden. Spielt die „akkurate Darstellung“ der Geschichte gar keine Rolle und stehen die alternierenden Vergangenheitsnarrative wirklich unverbunden nebeneinander, ohne sie auf ihre geschichtliche Wahrheit zu überprüfen und normativ zu gewichten? Gibt es keinerlei Grenzen für die deliberierende Bürgergesellschaft, von der Habermas spricht? Die zweite Frage schließt sich direkt daran an: Wie sollten die Selbstverständigungsdiskurse gesellschaftlich organisiert bzw. inszeniert sein, damit sie im Rahmen des demokratischen Verfassungsstaates tatsächlich die moralische Identität einer politischen Gemeinschaft hervorbringen können? Und sind die Erinnerungen an die Vergangenheit, die kommemorierten Ausschnitte aus der Geschichte, nicht auch in modernen Demokratien kanonisiert, sind Gegen-Narrative überhaupt möglich angesichts offizieller Gedenkrituale, Denkmäler und Feiertage, ist nicht der Erinnerungsdiskurs über den Widerstand gegen die Nationalsozialisten, über die „Stunde Null“ in der jungen Bundesrepublik oder über die DDR und die Vereinigung nicht durch Elitendiskurse, schulische Bildung und Medien – wer dächte hier nicht an den Haushistoriker des ZDF, Guido Knopp – derartig dominiert und enggeführt, dass eine nationale Identitätsbildung im Fluss öffentlicher Diskurse eben nicht stattfinden kann. Dies alles sind gewichtige Fragen, die die Möglichkeiten moralischer Selbstverständigung durch einen Rückbezug auf die eigene Geschichte eher unterminieren und zu bestätigen scheinen, dass monolithische, also von allen geteilte Erinnerungen eher integrierend wirken mögen.

Es kann ja kaum ein Zweifel bestehen, dass auf die Geschichte als Legitimationsressource immer dann zurückgegriffen wird, wenn andere Begründungsformen erschöpft sind oder als zu schwach angesehen werden. Joschka Fischers außenpolitisches Leitmotiv „Nie wieder Auschwitz!“, zusätzlich versehen mit dem moralisierenden „Ich habe gelernt“, ist ein Beispiel für eine solche Instrumentalisierung, die derart mächtig war, dass sie keinen Raum ließ für Einwände. Der Nationalsozialismus wie auch die millionenfache Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis ist in der deutschen Erinnerung in der Tat derart zentral, dass hier konkurrierende „Geschichtsbilder“ nicht möglich sind, ja in Deutschland sogar unter Strafe gestellt werden. Doch selbst die Erinnerung an den Holocaust oder seine angemessene erinnerungspolitische Repräsentation lassen Raum für erinnerungspolitische Debatten oder erinnerungspolitischen Streit. So ließe sich durchaus sagen, dass der fast ein ganzes Jahrzehnt andauernde Streit um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas für die politische Kultur Deutschlands und die Selbstthematisierung der deutschen Gesellschaft Jahrzehnte nach dem Nationalsozialismus nachhaltiger war, als die Wirkung, die vom schließlich realisierten Denkmal ausging. Diese Beobachtung führt zu der These, dass Rortys etwas vage Intuition erinnerungspolitischer Deliberation unter Staatsbürgern anzureichern ist durch das Element des eingehegten Streits. Zugespitzt lautet sie: Es sind die symbolisch inszenierten, gewaltfrei und friedlich ausgetragenen Debatten, Kontroversen und Streits über die Vergangenheit, die den Selbstentwurf einer demokratischen Gesellschaft hervorbringen. Nicht die Kanonisierung eines Geschichtsbilds ist das Ziel, sondern die Auseinandersetzung darüber, wie eine Gesellschaft leben will, wie sie sich selbst sieht und auf welche Traditionen sie sich beruft, und welche sie zurückweist.

Nur keinen Streit vermeiden!

Die Bevorzugung des Konsenses gegenüber dem Konflikt oder Streit im Mainstream der Sozialwissenschaften wie auch der Öffentlichkeit verdeckt nur allzu häufig, dass der Konflikt der Gegenstand der Politik ist. Eine demokratische Öffentlichkeit lebt vom eingehegten, aber belebenden Streit. Das Gegenteil einer kämpferischen Auseinandersetzung ist eine Politik, die sich als alternativlos ausgibt. Auch Erinnerungspolitik findet im Medium des Streits statt, eben im Streit konfliktiver Erinnerungen. Der für moderne Gesellschaften am meisten ausgebaute Ansatz in dieser Richtung geht auf Georg Simmel zurück und stammt von Helmut Dubiel (1`997), der in Auseinandersetzung mit Albert O. Hirschman zu der prägnanten Formel der „Demokratie als die öffentliche Inszenierung von Dissens“ gelangt. Theoretisch scheint diese Konzeption insofern plausibel, als sie als Antwort auf eine endemisch kontroverse Lage in diesem Konfliktfeld scheinbar unvereinbarer Erinnerungen nicht länger mit einem imaginären Konsens operiert, sondern von einem symbolisch integrierenden Kapital ausgeht, welches sich im Prozess strukturell bedingter, zivil eingehegter Konfrontationen ausbildet. Im Kern geht es darum, konkurrierende Narrative in der Beschreibung und Bewertung der Vergangenheit zuzulassen und die verschiedenen Seiten zu animieren, ihre Lesarten des Geschehenen zur Sprache zu bringen. Eine durchaus pragmatistische Kontur erhält dieser Ansatz dadurch, dass sich durch stetige Neubeschreibungen der Konfliktakteure, -konstellationen und -fronten ein neues moralisches und politisches Vokabular herausbildet, in welchem sich die Gesellschaft zunächst in ihrer gesellschaftlichen Selbstverständigung und daran anschließend mit Gesellschaften, die eine andere Lesart vorbringen, darüber verständigen kann, welche politischen, moralischen und gesellschaftlichen Ziele sie verfolgen will. In Abwandlung eines Wortes von Dahrendorf ließe sich hier sagen: Das Neuschreiben des Gesellschaftsvertrages geschieht durch die Neubeschreibungen erinnerungspolitischer Konflikte. Jedenfalls liefern diese die Texte und die Kräfte der Veränderung.

Es liegt auf der Hand, dass dies nur in konsolidierten demokratischen Systemen möglich ist, denn ohne demokratische Rahmung – auch Rorty betont oben den demokratischen Verfassungsstaat als nicht hintergehbaren Rahmen für die Modellierung der moralischen Identität – drohen konkurrierende Erinnerungen oder Geschichtsdeutungen in unversöhnlich geführte Kriege zu eskalieren. Neben der Demokratie als erster Voraussetzung für dieses Programm besteht die zweite Voraussetzung im Zugeständnis der Deutungsoffenheit erinnerungspolitischer Repräsentationen. Solcherart deutungsoffene Denkmale, man denke hier an das Washingtoner Vietnam Memorial, geben nicht mehr autoritativ eine bestimmte Deutung historischer Ereignisse vor, sondern können aus verschiedensten Perspektiven betrachtet werden und diese sogar miteinander ins Gespräch bringen. Gerade die Veteranen-Veteranen-Gedenkstätte scheint die Durkheimsche These, wonach ein Wertekonsens, der gerade durch Denkmale reiteriert werde, Gesellschaften integriere, für moderne Gesellschaften zu widerlegen. Robin Wagner-Pacifici und Barry Schwarz haben die Entstehungsgeschichte des Washingtoner Mahnmals wie auch seine Wirkung eingehend untersucht und sehen seine Stärke eben gerade in der Deutungsoffenheit. Sie schreiben: „Die Vietnam-Veteranen-Gedenkstätte und die ihr ähnlichen Monumente kommen somit nicht als Symbole von Solidarität, sondern vielmehr als solche in den Blick, die vor allem die widersprüchlichen Vorstellungen einer Gesellschaft über sich selbst und über ihre Vergangenheit aufzeigen“ (1994: 395).

Das Mahnmal selbst stimuliert keine Konflikte zwischen verschiedenen Deutungen eines verlorenen, politisch kontroversen und moralisch fragwürdigen Krieges, aber es schafft Raum für gänzlich abweichende Lesarten. Es mag eher die Sache der Kunst sein, erinnerungspolitische Konflikte um abweichende Geschichtsnarrative zu entfachen. Künstlerische Inszenierungen sind häufig in der Lage, dokumentarisch oder auch fiktional, Images zu schaffen, die mentalitätsgeschichtlich relevant und erinnerungspolitisch wirkungsmächtig sind, indem sie das kollektive Gedächtnis mitprägen, mit Bildern unterlegen, und zur moralisch-ethischen Selbstverständigung anleiten. Wie ein Kommentar zur Eingangs angeführten Sichtweise bei Rorty lesen sich Gertrud Kochs Bemerkungen in ihrer Arbeit Nachstellungen – Film und historischer Moment (1997: 540): „Der Streit um Filme wie die TV-Serie Holocaust, Schindler’s List oder auch Beruf Neonazi, Stau oder Syberbergs Hitler-Film ist ja nicht nur darüber entbrannt, ob sie „falsch“ oder „richtig“ sind (…), sondern über das „Bild“, das sie als Ganzes vermitteln, oder, wie man im Deutschen so schön sagt, über den „Eindruck“, den sie hinterlassen, den Diskurs, den sie anstimmen“.

Es mag auch die Aufgabe der Kunst bzw. der Medien sein, das dominierende, von westlichen Eliten hegemonisch verbreitete Narrativ über die DDR zu durchbrechen. Solange jede Erinnerung an das Leben im real-existierenden Sozialismus mit einer mantraartigen Einleitung beginnen muss, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, solange wird es nicht möglich sein, auch hier divergierende Geschichtsnarrative zu thematisieren. Auch hier sollte das erinnerungspolitische Ziel sein, das Unrecht der DDR zu identifizieren, ohne das andere System zu glorifizieren. Wenn wir im Sinne Rortys in der Rückschau auf die Vergangenheit fragen, was wir versuchen sollten, aus uns zu machen, so wird dies auch bedeuten, Stimmen aus dem ehemals anderen Teil Deutschlands zur Sprache zu bringen und das Ergebnis eines solchen Streits könnte ja sein, das „Wir“ dazu kämen, die Herrschaft einer Parteielite, die sich als Kader versteht, um einen Arbeiter- und Bauernstaat zu realisieren und den Kommunismus zu verwirklichen sucht, ebenso ablehnen wie die Herrschaft enthemmter Finanzmärkte, die die Gier zur einzigen Tugend erheben.

Die von Lübbe irrtümlich ironisierte Praxis der Verantwortungsübernahme für vergangenes Unrecht auf internationaler Ebene scheint hier einen Vorgriff zu bilden auf eine anamnetische Gerechtigkeit, von der der Philosoph Otfried Höffe spricht: „Aus der gemeinsamen Erinnerung großer Gewalttaten: der Eroberungen, Unterdrückungen und Ausbeutungen, der Versklavungen, Kolonialisierungen und Imperialismen, der Greuel der Nationalismen und der zahllosen Opfer im Namen sozialer oder sozialistischer Revolutionen, könnte ein kritisches Weltgedächtnis entstehen. Und vorausgesetzt, daß es nicht selektiv verfährt, vielmehr eine anamnetische Gerechtigkeit pflegt, überdies beim bloßen Erinnern nicht stehen bleibt, hilft es, künftigen Gewalttaten vorzubeugen“ (Höffe 1999:16). Die Vision eines solchen Gedächtnisses zeichnet im großen Bogen nach, was hier noch im nationalstaatlichen Rahmen umrissen werden sollte. Ein solches Gedächtnis, wie ich es verstehe, hätte keinen festen Referenzpunkt, wie er etwa von Daniel Levy und Natan Sznaider in ihrer gemeinsamen Vision von einem kosmopolitischen Gedächtnis in der globalen Erinnerung an den Holocaust verankert ist. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass der Umgang mit dem Holocaust das Verständnis für neue Erinnerungskulturen eröffnet und dass die Erinnerungen an den Holocaust in einer Epoche ideologischer Ungewissheiten zu einem Maßstab für humanistische und universalistische Identifikationen werden (2001: 9f.).

Hier scheint die These Durkheims von der Notwendigkeit eines – und jetzt globalen – Wertekonsens wieder auf, jedoch um den Preis einer – wenn auch ungewollten – Instrumentalisierung der Geschichte. Das Leiden an den nicht eingehaltenen Versprechen der Demokratie, welches zur Ausrufung einer postdemokratischen Ära geführt hat, provoziert immer wieder dazu, die Frage zu stellen, ob nicht die Demokratie auf vor-politische Ressourcen und Regulierungskräfte wie Tugenden, Religionen oder Zivilreligionen angewiesen sei. Eine eminent politische Ressource dagegen wird meist sträflich vernachlässigt: der eingehegte Streit. Es spricht einiges dafür, dass es gerade der spezifische Umgang mit Konflikten ist, der den sozialen und politischen Kitt moderner Demokratien bildet (vgl. Dubiel 1997: 425) und Erinnerungskonflikte bilden gerade den Stoff, die moralische Identität eines Gemeinwesens auszubilden.

Literatur

Assmann, Jan 2002: Nachwort, in: Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt/M.

Bernecker, Walther L./Brinkmann, Sören 2006: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Fulda.

Dahrendort, Ralf 1992: Der moderne soziale Konflikt. Stuttgart.

Dubiel, Helmut 1997: Unversöhnlichkeit und Demokratie, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt/M., S. 425-444.

Dubiel, Helmut 1992: Konsens oder Konflikt? Die normative Integration des demokratischen Staates, in: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Staat und Demokratie in Europa, Opladen.

Friedländer, Saul 1999: Auseinandersetzung mit der Shoah: Einige Überlegungen zum Thema Erinnerung und Geschichte, in: Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt am Main, 5. 15-29.

Habermas, Jürgen 1999: Rortys patriotischer Traktat, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.Februar 1999. Höffe, Otfried 1999: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München.

Huntington, Samuel P. 1991: The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, Norman.

Koch, Gertrud 1997: Nachstellungen -Film und historischer Moment, in: Müller, Klaus E./Rüsen, Jörn (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Hamburg, S. 536-551.

Levy, Daniel/Sznaider, Natan 2003: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/M. Lübbe, Hermann 2003: Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual. Berlin.

Mann, Michael 2007: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg.

Münkler, Herfried 2010: Die Deutschen und ihre Mythen, Bonn.

O’Donnell, Guillermo/Schmitter, Philippe C. 1986: Transitions from Authoritarian Rule: Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore.

Orwell, George: Neunzehnhundertvierundachtzig, Berlin, Frankfurt/Wien, o. J.

Reichel, Peter 1995: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München.

Rorty, Richard 1998: Achieving Our Country. Leftist Thought in Twentieth Century America, Harvard.

Wagner Pacifici, Robin/Schwartz, Barry 1994: Die Vietnam Veteranen Gedenkstätte. Das Gedenken einer problematischen Vergangenheit, in: Koselleck/Jeismann (Hrsg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München, S. 393- 424.

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