Publikationen / vorgänge / vorgänge 2/2012

Bildung nach Auschwitz im Zeitalter der Globa­li­sie­rung

aus Vorgänge Heft 2/2012, S.41-50

1. Historische Bildung im Zeitalter der Globa­li­sie­rung

Vor bald fünfzig Jahren, in den 1960er Jahren, hat Theodor W. Adorno mit seiner Forderung nach einer „Erziehung zur Mündigkeit“ als einer „Erziehung nach Auschwitz“ (1) die Stichworte für eine Bildung der jüngeren Generation in historischer und moralischer Verantwortung geliefert. Erstes und einziges Ziel einer solchen Erziehung sei, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Derzeit -fünfzig Jahre nach dieser Forderung und siebzig Jahre nach den mit dem polnischen Ortsnamen verknüpften deutschen Verbrechen – ist diese Forderung revisions – und erweiterungsbedürftig – gerade um ihres ursprünglichen Kerns willen.(2)

Der ökonomisch und technisch unabweisbare, politisch allenfalls in Ansätzen gestaltete Prozess der Globalisierung hat – nicht zuletzt kraft der Medien – ein auch den Subjekten zugängliches Wissen von der Einheit des Menschengeschlechts geschaffen, das welthistorisch seinesgleichen sucht. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine angemessene Bildung heute nur noch als weltbürgerliche Bildung, die sich zumal in Form einer Menschenrechtspädagogik äußert, sinnvoll ist; eine weltbürgerliche Bildung, deren motivationale und kognitive Wurzel die Einsicht in die Würde und somit in das Leiden der Fernsten ist; eine Einsicht, die besonderer Kraft bedarf, da sie ihren Blick auf die Fernsten und Fremdesten werfen muss – also auf jene, die kaum in den Blick des natürlichen, verwandtschaftsbezogenen Altruismus kommen.

Derlei Haltungen im Sinne des Respekts vor dem Fremden und der Fernstenliebe können als Voraussetzungen für die allmähliche Institutionalisierung einer „Demokratie im Zeitalter der Globalisierung“ (3) gelten. Menschenrechtliche Bildung angesichts der Verletzung menschlichen Lebens und menschlicher Würde wäre demnach eine – freilich wesentliche – Voraussetzung zur Herstellung internationaler Rechtsverhältnisse. Freilich brechen sich derlei Vorsätze immer wieder an dem Umstand, dass die kollektive Erinnerung einer Gesellschaft – ebenso wie ihre Ökonomie und ihr politisches System – noch immer und wohl noch auf lange Zeit mindestens auch nationalstaatlich verfasst sind.

Deutschland mit der Hypothek der Geschichte des Nationalsozialismus und seinen singulären Verbrechen steht so vor einer doppelten Herausforderung: seine eigene neuere Geschichte im Zeitalter des widersprüchlichen, konflikthaften Zusammenwachsen Europas sowie – im Zeitalter der Globalisierung – weltgeschichtlich neu zu schreiben und an künftige Staatsbürger*innen weiterzugeben.

Auf europäischer Ebene ist genau dazu vor mehr als zehn Jahren ein entsprechender Versuch unternommen worden. Zur Jahreswende 2000/2001 versammelten sich in Stockholm auf Einladung des schwedischen Staates Vertreter von vierzig Staaten, um über humane Werte im globalen Zeitalter vor dem Hintergrund eines wieder erstarkten Rassismus zu diskutieren und dabei die allfälligen Lehren aus dem „Holocaust“, d. h aus der industriellen Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Regime zu ziehen. Die maßgeblich von dem israelischen Historiker Jehuda Bauer verfasste Abschlusserklärung des „Stockholm International Forum on the Holocaust“ vom Jahresende 2000 stellt fest: „Da die Menschheit immer noch an den Wunden des Völkermordes, der ethnischen Säuberung, des Rassismus und des Fremdenhasses leidet, teilt die internationale Gemeinschaft die schwerwiegende Verantwortung, das Böse zu bekämpfen …. Wir sind – so schließt dieses Dokument – verpflichtet, uns der Opfer, die umgekommen sind, zu erinnern, die Überlebenden, die noch unter uns weilen, zu respektieren und das der Menschheit gemeinsame Streben nach gegenseitigem Verständnis und Gerechtigkeit zu betonen.“(4)

Mit dieser Erklärung hat sich seinerzeit eine Reihe von Staatschefs nicht nur der EU dazu verpflichtet, in ihren Ländern pädagogische Bemühungen mit dem Ziel in Gang zu bringen, Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus einzudämmen. Die massenhafte Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland soll so einem zukunftsgerichteten Zweck dienen. Damit wird die kollektive und individuelle Erinnerung an ein ebenso herausragendes wie grauenhaftes zeitgeschichtliches Ereignis zum Mittel, einer friedlicheren, gerechteren und demokratischen Welt den Weg zu bereiten.

Freilich ist nicht davon auszugehen, dass die Kenntnis dieses Verbrechens unter den jeweiligen Bevölkerungen über undeutliche, ungenaue Fragmente hinausgeht – wie überhaupt historisches Wissen weder bei Erwachsenen noch gar bei Kindern und Jugendlichen vorausgesetzt werden kann. Damit kommt der Pädagogik eine besondere Rolle für die Vergegenwärtigung von Geschichte zu. Dass die hehren Ziele der „Erklärung von Stockholm“ sich gleichwohl nicht erfolgreich haben umsetzen lassen, belegen zwei Ereignisse, die derzeit, zehn Jahre nach der Erklärung von Stockholm die deutsche Öffentlichkeit umtreiben: Zwei Ereignisse, ein eher unauffällig akademisches und ein unübersehbar politisch feuilletonistisches haben in den letzten Wochen und Monaten die Frage nach der Zukunft der Erinnerung in Deutschland wieder zum Thema werden lassen: hier die Forschungen von Klaus Schröder aus dem Forschungsverbund über die zeithistorischen Kenntnisse deutscher Schüler („Bildungsinländer“ mit und ohne „Migrationshintergrund“(5) dort die Debatte über Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“. In diesem Gedicht hat Grass insbesondere mit der Annahme, dass ein israelischer Präventivschlag gegen iranische Nuklearanlagen „das … iranische Volk auslöschen könnte“ gezeigt, welche Irrwege eine projektive historische Erinnerung gehen kann.

Beides, sowohl Klaus Schröders Forschungsergebnisse als auch die Debatte um das Gedicht von Günter Grass beleuchten dasselbe Problem, allerdings von entgegengesetzten Seiten. Während die Forschungsergebnisse Schröders belegen, dass Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedlicher Herkunft, Schülerinnen und Schüler, die um 1998 geboren wurden, extrem lückenhafte, ja grotesk falsche Vorstellungen von der Geschichte Deutschlands im Zwanzigsten Jahrhundert aufweisen, (6) zeugt das „Gedicht“ des siebzig Jahre zuvor geborenen Günter Grass davon, dass ein Teil jener, die, die alte Bundesrepublik Deutschland intellektuell geprägt haben, diese Geschichte verkannt haben und heute auf höchst eigenwillige Weise aktualisieren.

Wissen und Kenntnisse der künftigen Staatsbürger zumal im Bereich von Politik und Geschichte aber werden wesentlichen Einfluss auf die Zukunft Deutschlands, Europas und – ja – der globalisierten Welt nehmen. Infrage steht also, mit welchem historischen Wissen und mit welchen sozio-moralischen Einstellungen die künftigen Bürger*innen Deutschlands Teil einer im Entstehen begriffenen europäischen Bürger*innenschaft bzw. einer sich allmählich herausbildenden kosmopolitischen Bewusstseinslage werden, einer Bewusstseinslage, die jedenfalls grundsätzlich an den politisch durch den Haager Gerichtshof, die Menschenrechtskonventionen der UN sowie die mindestens als Formel bekannte „Responsibility to protect“ mindestens in Ansätzen anschließen können. Damit ist die Frage einer politischen Bildung in Deutschland, in Europa, aber eben auch im Zeitalter der Globalisierung mit Bezug auf die ganze Welt angesprochen.

II. Drei Diskurse

Politische Bildung wird sich dabei immer auch an den politischen Diskursen, wie sie national und international geführt werden, zu orientieren haben. Es waren vor allem drei Diskurse, die eine Debatte über die angemessene Erinnerung in Deutschland, Europa und für die globalisierte Welt bestimmt haben:

  • Erstens die Debatte über die Deutschen als Opfer, wie sie vor allem – aber keineswegs ausschließlich – an der Frage einer Gedenkstätte für die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus den Ostgebieten Vertriebenen geführt wurde.
  • Zweitens die damit eng verbundene Frage nach den „zwei deutschen Diktaturen“, hinter der sich letztlich die Frage nach der Angemessenheit der Totalitarismustheorie zur Analyse und zum Verstehen des Schicksals der Völker und Staaten Europas – von Spanien bis an den Ural, zwischen 1917 und 1989 verbirgt.
  • Drittens die nun in der Tat neue und globalisierungstheoretische sowie postkolonial inspirierte Auseinandersetzung über den deutschen Imperialismus als Brutstätte des Nationalsozialismus und seiner weltgeschichtlich singulären Mordtaten, zumal der Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden.

Diese drei Diskurse seien zunächst kurz skizziert und kritisch beleuchtet; im Anschluss sollen Grundlinien einer zeitgemäßen politischen Bildung mindestens angedeutet werden.

II.1. Deutsche Opfer

Das von Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und ihren Mitstreitern betriebene Projekt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ scheint auf der Stelle zu treten und wird jenseits des Bundes der Vertriebenen auch von niemandem mehr gewollt: weder von den Kirchen noch von den außenpolitischen Eliten des Landes. Das liegt keineswegs am Thema selbst, sondern an der weltanschaulichen Unbelehrbarkeit, mit der dieses Projekt vorangetrieben wird. Leicht könnte man sich darauf verständigen, dass nach dem „Jahrhundert der Extreme“ (E. Hobsbawm) die traurige, umfassende Bilanz dieses Zeitalters gezogen wird. Dass dabei die Vertreibungsverbrechen, die seit dem Genozid der Jungtürken an den Armeniern über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten 1944/45 bis hin zu den „ethnischen Säuberungen“ im zerfallenden Jugoslawien dokumentiert werden sollten, ist ebenso unstrittig wie die Tatsache, dass auch die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges einen Anspruch auf respektvolles Gedenken haben. Dem dient die seinerzeit von Ignatz Bubis mit eingeweihte, zentrale Gedenkstätte „Neue Wache“ unter den Linden in Berlin.

Was das Projekt dieses Zentrums in seiner gegenwärtigen Konzeption so prekär macht, ist seine Kontinuität zur Politik des Bundes der Vertriebenen seit den fünfziger Jahren, mit der, der BdV trotz einer oberflächlichen menschenrechtlichen Modernisierung nie grundsätzlich gebrochen hat. Die von den Funktionären der Heimatvertriebenen und mit ihnen sympathisierenden Politikern immer wieder ob ihrer Versöhnlichkeit gepriesene Charta stellt in Wahrheit eine Ungeheuerlichkeit dar, den Inbegriff all dessen, was jemals als „Unfähigkeit zu trauern“ gelten konnte. Schon das zentrale Bekenntnis „Wir verzichten auf Rache und Vergeltung“ entpuppt sich bei genauer Lektüre als ein Satz, der dem Geist der beschworenen christlichen Kultur widerspricht: Kann es ein natürliches Recht auf Rache geben? Wird nicht im vermeintlich großzügigen Verzicht ein grundsätzlicher Anspruch auf Rache und Vergeltung geradezu beglaubigt? Zudem zeugte es sogar 1950 von Geschichtsblindheit, die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges nicht einmal erwähnt zu haben – eine Blindheit, die freilich Methode hat: waren es doch weder die in der „Charta“ so beliebten „Völker“ noch deren Regimes oder Regierungen, die letztlich für das Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen verantwortlich waren. Kein Deutscher wäre aus dem Böhmerwald verjagt, keine Familie hätte Ostpreußen verlassen müssen, hätte das nationalsozialistische Deutschland nicht die Tschechoslowakei, Polen oder die Sowjetunion überfallen. Freilich stellen die Verzichtsfloskeln am Ende der Charta allenfalls Petitessen gegen ihre abschließenden Sätze dar: „Die Völker der Welt sollen“ so heißt es dort „ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.“ Man muss diesen Satz zweimal lesen, um seine Ungeheuerlichkeit ganz zu erfassen. Wird doch damit allen Ernstes behauptet, dass unter allen Opfern der Zeit des Zweiten Weltkrieges die Heimatvertriebenen am schwersten betroffen waren: also noch nicht einmal die Gestorbenen und Überlebenden des Bombenkrieges der deutschen Städte, nicht die Hunderttausenden deutscher Kriegswaisen und -witwen, nicht die drangsalierten und millionenfach umgebrachten Polen oder Russen, schon gar nicht die sechs Millionen ermordeter Juden, deren Schicksal 1950 – nach den Nürnberger Prozessen – durchaus bekannt war. Das im Rahmen der aktuellen Gedenkpolitik wieder heftig debattierte Thema einer Konkurrenz der Opfer hat hier und nirgendwo anders seinen Ausgangspunkt. Hatte die Charta der Heimatvertriebenen ursprünglich die Unterscheidung von Opfern des Holocaust, der Ermordung von Sinti und Roma sowie von Millionen von polnischen und Sowjetbürgern gelöscht, so unterscheiden sich die Pläne des „Zentrums“ nur darin, dass jetzt die Einzigartigkeit des Holocaust zwar verbal beglaubigt wird, das „Zentrum“ jedoch mit der Wahl seines historischen Beispielfalles, des mit Vertreibungen einsetzenden jungtürkischen Genozids an den Armeniern, suggeriert, auch die Deutschen seien Opfer eines Genozids geworden. Indem das „Zentrum“ über seinen „Franz Werfel Menschenrechtspreis“ bewusst eine Parallele zwischen dem jungtürkischen Genozid und der Vertreibung der Deutschen nahe legt, wiederholt es auf eine sehr viel moderatere, der allgemeinen menschenrechtlichen Sensibilisierung oberflächlich entsprechenden Weise die Politik des Bundes der Vertriebenen aus den Fünfziger Jahren. Die etwa zwei Millionen Deutsche, mehrheitlich Alte, Frauen und Kinder, die als unmittelbare Folge von Flucht und Vertreibung ihr Leben lassen mussten, haben einen Anspruch auf Gedenken und damit auf eine zeitgeschichtliche Bildung, die auf die verheerende Wirkung des Nationalsozialismus auch für die deutsche Bevölkerung hinweist. Diesen Anspruch durchkreuzt, wer – wie die Initiatoren des Zentrums – am Ziel einer nationalen, das Gedenken an die ermordeten Juden imitierenden Gedenkeinrichtung festhält.

II.2. Totali­ta­rismus – „Zwei deutsche Diktaturen“

Bundespräsident Joachim Gauck, seinerzeit Mitglied der Demokratiebewegung der DDR, stützt sich in vielen seiner Einlassungen auf die so genannte Totalitarismustheorie, hat daher immer wieder einen „antitotalitären Konsens“ gefordert und deshalb im Jahre 2008 die neunzehn Punkte umfassende, von vielen vor allem mitteleuropäischen Politikern und Intellektuellen getragene „Prager Erklärung“ unterschrieben. Die „Prague Declaration on European Conscience and Communism“, unterschrieben von unbestreitbaren Demokraten wie Vaclav Havel, aber leider auch von z. T. rechtsradikalen Politikern aus dem Baltikum, zielte in ihrem ersten Artikel auf die Einsicht, dass beide, der Nationalsozialismus und verschiedene kommunistische Regime mit ihren mörderischen Kriegen und Ausrottungsmaßnahmen sowie ihrer Verletzung von Bürger- und Menschenrechten das Hauptunglück des Zwanzigsten Jahrhunderts gewesen seien. In Punkt 19 fordert die Erklärung ein gemeinsames öffentliches Gedenken an den Fall der Berliner Mauer, das Massaker auf dem Tianmen Platz sowie an nicht näher bezeichnete Mordtaten in Rumänien.

Die Problematik dieser gut gemeinten Erklärung liegt keinesfalls in der unbezweifelbar mörderischen Verfasstheit von Nationalsozialismus und Stalinismus, die nach Timothy Snyders sorgfältig recherchierter Studie „Bloodlands“(7) sowie Jörg Baberowskis gar nicht totalitarismustheoretisch angelegten Studie über Stalin und den Stalinismus(8) gar nicht mehr zu bestreiten ist, sondern in der ungenauen Fassung des Begriffs „Kommunismus“, der sämtliche Regine des Ostblocks vor 1989 umfasst und sie damit alle zu Fällen von Totalitarismus erklärt. So im Falle der DDR zehn Jahre zuvor Joachim Gauck in einem Essay im „Schwarzbuch des Kommunismus“, in dem er schrieb: „Zwar erlebten wir in den letzten Jahren vor 1989 einen Kommunismus in der DDR, der nicht mehr mordete und folterte. Dankbare Zeitgenossen haben deshalb allerlei euphemistische Bezeichnungen für die Ära ersonnen. Eine nüchterne Betrachtung der politischen Verhältnisse wird dennoch zu einem Urteil gelangen, das diesen Kommunismus als ebenso totalitär einstuft wie den Nationalsozialismus.“(9)

Hannah Arendt, die – wenn überhaupt jemand – als wesentliche Denkerin „Totaler Herrschaft“ gelten kann, lag alles an theoretisch belehrter Urteilskraft; eben diese Urteilskraft aber wird durch persönliche Betroffenheit verständlicherweise beeinträchtigt, so auch in Gaucks Einschätzung der letzten Jahre der DDR. Denn was die Beurteilung der Sowjetunion und ihrer Satelliten, damit auch der DDR, nach Stalins Tod betraf, war Arendt deutlich anderer Meinung als die Autoren der „Prager Erklärung“. Dazu ist ein längeres Zitat unerlässlich. In ihrem 1986 erschienen Vorwort zur dritten Abteilung ihres Buches, es erschien auf Deutsch erstmals schon 1966, heißt es unmissverständlich: „Ich erwähnte bereits den Abbau totaler Herrschaft, der nach Stalins Tod einsetzte …. Dass man die Sowjetunion im strengen Sinn des Wortes nicht mehr totalitär nennen kann, zeigt natürlich am deutlichsten das erstaunliche und üppige Wiederaufblühen der Künste in den letzten zehn Jahren.“ Freilich wird Arendt in ihrer unbestechlichen Genauigkeit noch deutlicher und ihr damaliges Urteil sollte ein Warnzeichen gegen jede undifferenzierte Verwendung des Begriffs der „Totalen Herrschaft“ sein, vor allem aber gegen die ungenaue Gleichsetzung des despotischen Polizei- und Sozialstaats DDR mit dem Stalinismus. Müsse man doch – so Arendt im Blick auf die UdSSR – feststellen, „dass die totale Herrschaft, die furchtbarste aller modernen Regierungsformen … mit dem Tode Stalins in Russland nicht weniger ihr Ende gefunden hat als in Deutschland mit dem Tode Hitlers.“(lo)

Dass aber dieser Stalinismus ausgerechnet in der DDR auch noch nach Stalins Tod überdauert haben soll, wird kaum jemand behaupten wollen. Nun muss man Hannah Arendt, die nur zu gut wusste, warum sie an anderer Stelle intensiv über das Versagen von Intellektuellen nachdachte, keineswegs in allem recht geben, gleichwohl: So unerlässlich es ist, dass Europa zu einer gemeinsamen Gedenkkultur an die Schrecken und Verbrechen des 20. Jahrhunderts, jenes „Zeitalters der Extreme“ (E. Hobsbawm), findet, so notwendig sind differenzierte Betrachtungen. Das gilt sowohl für die Verlogenheit der autoritären, nachnationalsozialistischen Bundesrepublik Deutschland als auch für den hilflosen Antifaschismus der ostdeutschen Parteidiktatur. Sowenig die Bundesrepublik ein faschistischer, so wenig war die DDR nach 1953, auf jeden Fall nach 1961, ein stalinistischer Staat. Dem hat eine angemessene zeithistorische Bildung so Rechnung zu tragen, dass sie nicht unter der geläufigen Sprechweise von den „zwei deutschen Diktaturen“ doch suggeriert, beide seien nicht nur vergleichbar, sondern auch noch gleichzusetzen.

II.3. Imperi­a­lismus und Koloni­a­li­sie­rung

Hannah Arendt war es auch, die in ihrem eben erwähnten Buch über „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ als eine der ersten den Gedanken erwog, dass der europäische Rassismus seine Wurzeln im Kolonialismus des imperialistischen Zeitalters hatte. Damit hat sie, keineswegs immer konsequent und radikal genug, einen Grundstein für das gelegt, was heute in globalisierungshistorischer Perspektive als „postkoloniale Theorie“ immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht.(11)

Gleichwohl wurde die „Rassenfrage“, wie sie seit Längerem im angelsächsischen Raum diskutiert wird, in Deutschland deshalb weniger diskutiert, weil das Deutsche Reich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges seiner überseeischen Kolonien verlustig ging und mithin die historische Erinnerung an den deutschen Kolonialrassismus – wie er sich etwa bei der genozidalen Niederschlagung des Hereroaufstandes im Jahre 1908 tatsächlich vollzog – weitgehend getilgt wurde. Vor allem aber ließ der Blick auf den totalen, globalen Ausrottungswillen der Nationalsozialisten gegen die Juden völlig zu Recht wissenschaftliche Thesen, wonach es die in den europäischen, zumal afrikanischen Kolonien geübten Praxen der Unterdrückung und Ausrottung gewesen seien, die schließlich die Handlungsanweisung für die Massenvernichtung der europäischen Juden abgegeben hätten, als Meinungen von Einzelgängern erscheinen.(12) Demnach führt die Genealogie der Massenvernichtung schließlich nach Afrika. So führte General von Trotha 1904 in Deutsch – Südwestafrika einen erklärten Vernichtungs- und Rassekrieg und trieb etwa 30.000 Herero ebenso auf Todesmärschen in die Wüste, wie das später die Jungtürken mit den Armeniern tun sollten. Ab 1905 richtete das deutsche Kolonialregime Konzentrationslager für gefangene Herero ein, die von deutschen Firmen zum Eisenbahnbau eingesetzt wurden und – einzigartig in der kolonialen Welt – gezielt der Vernichtung durch Arbeit dienten. Zudem nahmen Rassehygieniker und Lehrer nationalsozialistischer KZ-Ärzte wie Josef Mengele, nämlich die bekannten Eugeniker Theodor Mollisson und Eugen Fischer ihre ersten Forschungen an Eingeborenen während des Kolonialkrieges in Deutsch- Südwest vor. Damit steht die Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus auf der Tagesordnung, also die übrigens erstmals von Hannah Arendt erörterte Frage nach der Bedeutung des kolonialen Ausgreifens Europas nach Afrika für rassistische und totalitäre Politik in Europa.

Zudem: Wenn in der seriösen Forschung überhaupt ein Vorbild für die Massenvernichtung der Juden in Rechnung gezogen wurde, dann ging es um den von der jungtürkischen Regierung an den Armeniern begangenen Genozid in den Jahren 1915/16, an dem die deutsche Militärmission in der Türkei mindestens mitwisserschaftlich beteiligt war. So ist in diesem Kontext erwiesen, dass Hitler den Genozid an den Armeniern im Zusammenhang mit Maßnahmen gegen die europäischen Juden gekannt und erwähnt hat.(13) Darüber hinaus scheint erwiesen, dass die militärische und politische Führung des im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündeten Deutschen Reiches von diesem Genozid nicht nur Kenntnis hatte, sondern ihn auch mitwisserschaftlich geschehen ließ.(14)

III. Pädagogik der Anerken­nung.

In der Erziehungswissenschaft bahnt sich derzeit ein Paradigmenwechsel innerhalb jener Formen schulischer und außerschulischer Bildung an, die mit einem wenig glücklichen Begriff als „holocaust education“ bezeichnet werden. Jetzt wird deutlich, dass die beiden Perspektiven dieser Pädagogik: Unterweisung ins Eingedenken und „Erziehung – nicht nach, sondern – „über Auschwitz“ ein zeitgemäßes Verständnis in einer allgemeinen „Pädagogik der Menschenrechte“(15) finden können, die in der globalisierten Weltgesellschaft als „human rights education“ bezeichnet wird und die sich in Deutschland auf das Grundgesetz und seinen ersten Artikel stützen kann. Es war die Philosophie der Aufklärung, zumal Immanuel Kants, die die nach dem Nationalsozialismus geschaffene deutsche Verfassung, das Grundgesetz wesentlich prägt. Als oberstes Prinzip der Tugendlehre weist Kant in der Metaphysik der Sitten Folgendes aus: „Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist, sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist des Menschen Pflicht.“(16)

Daraus resultiert – so eine weitere Entwicklung in der Erziehungswissenschaft – eine Pädagogik der Anerkennung.(17)“ Einen Menschen als Zweck seiner selbst zu betrachten, bedeutet, so etwa Axel Honneth (18), ihn in mindestens drei wesentlichen Dimensionen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen oder ihn lediglich zu tolerieren, sondern auch anzuerkennen, d. h. nicht nur hinzunehmen, sondern zu bejahen: in der Dimension körperlicher Integrität, personaler ldentität und soziokultureller Zugehörigkeit. Diese Selbstachtung wird verletzt, wenn Menschen die Kontrolle über ihren Körper genommen wird, sie also gefoltert werden, wenn sie als die Person, die sie sprechend und handelnd sind, nicht beachtet oder ernst genommen also missachtet werden oder wenn die Gruppen oder sozialen Kontexte, denen sie entstammen, herabgesetzt oder verächtlich gemacht werden. Freilich wird mit dem Begriff der „Würde des Menschen“ lediglich ein Minimum angesprochen, der kleinste gemeinsame Nenner nicht von Gesellschaften, sondern von jenen politischen Gemeinwesen, von Staaten, die wir als „zivilisiert“ bezeichnen.

Indem die Menschenrechtspädagogik zwischen „education about human rights“ and „education for human rights“ unterscheidet, macht sie deutlich, dass ein kognitives Verständnis für den universalistischen Kern der Menschenrechte und die Motivation, ihnen in Alltag und Politik handelnd zu genügen, keineswegs miteinander identisch sind.

Bei alledem ist die Einsicht in die Würde des Menschen als grundlegendem Prinzip jeder Menschenrechtspädagogik nicht auf kognitive, intellektuelle Operationen beschränkt, sie ist mehr oder gar anderes: Das Verständnis für die Würde des Menschen wurzelt in einem moralischen Gefühl. Dieses Gefühl ist moralisch, weil es Beurteilungsmaßstäbe für Handlungen und Unterlassungen bereitstellt, es ist indes ein Gefühl, weil es sich bei ihm nicht um einen kalkulatorischen Maßstab, sondern um eine umfassende, spontan wirkende, Welt erschließende Einstellung handelt. Wer erst lange darüber nachdenken muss, ob einem oder mehreren Menschen die proklamierte Würde auch tatsächlich zukommt, hat noch nicht verstanden, was „Menschenwürde“ ist. Es handelt sich beim Verständnis der Menschenwürde also um ein moralisches Gefühl mit universalistischem Anspruch, das unter folgenden höchst voraussetzungsreichen Bedingungen steht.

  • Die Anerkennung der Integrität anderer ist an die Erfahrung eigener Integrität und Anerkennung, die sich in Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung artikuliert, gebunden.
  • Niemand kann Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung entfalten, der nicht seinerseits in allen wesentlichen Bezügen toleriert, akzeptiert und respektiert worden ist.
  • Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung sind die logischen und entwicklungsbezogenen Voraussetzungen dafür, Einfühlung, Empathie in andere entfalten zu können.

IV. Drei Schwellen: Generation, Immigration, Globa­li­sie­rung

In der politischen Bildung in Deutschland hat die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden bisher als gleichsam negative Folie, als unüberbietbares Extrembeispiel für die Verletzung der Würde des Menschen gedient, als ein Extrembeispiel, an dem drastisch sichtbar und fühlbar wird, wohin blindes Ressentiment, Rassismus, politischer Partikularismus und eine entfesselte, von aller ethischen Bindung gelöste Sozialtechnik führen kann. So, wie das Grundgesetz aus der Erfahrung des Nationalsozialismus die Prinzipien einer moralisch verantworteten Demokratie entfaltet, wird es in Zukunft darauf ankommen, auf und aus der Erziehung über Auschwitz eine Bildung zu den Menschenrechten zu entwickeln. Freilich muss sich eine zeitgeschichtlich sensible, an den Menschenrechten orientierte politische Bildung der Schwellen und Hürden bewusst sein, vor denen sie gegenwärtig steht und die, die anfangs erwähnten, von Klaus Schröder festgestellten, bestürzenden Ergebnisse erklären können: die generationelle Schwelle, die Schwelle der Immigration sowie die Schwelle der Globalisierung:

Die generationelle Schwelle, erstens, besteht darin, dass Erfahrungen, die eine Generation unmittelbar gemacht hat, niemals eins zu eins transgenerational weiter gegegeben wird, sondern sich – beim allmählichen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – von Generation zu Generation in der Sache abschwächt, von anderen Erfahrungen überlagert, durchdrungen und neu gedeutet wird – so dass Betroffenheit und Engagement, Verpflichtungsgefühle ebenso wie Aversionen in den generationalen Gruppen im Ganzen abnehmen – womit nichts über Einzelfälle gesagt ist. Für Deutschland speziell bedeutet dies nichts anderes, als dass es politische Bildung heute mit der Generation der Urenkel von Tätern und Opfern zu tun hat.

Wird diese generationelle Schwelle zweitens durch die kulturelle und geographische Differenz weiter erhöht, – wie bei einem wachsenden Teil der in Deutschland lebenden Jugendlichen, deren Eltern oder Großeltern gar nicht aus Deutschland, sondern zu einem großen Teil aus Ländern der von Deutschland aus gesehen europäischen Peripherie kommen; die also zu Hause, mit völlig anderen historischen Narrativen konfrontiert wurden – dann ist mit einer weiteren sachlichen und normativen Auszehrung des „nationalen deutschen Geschichtsbewusstseins“ zu rechnen.

Endlich gerät – die dritte Schwelle ‚ auch der lange Jahre als unbestreitbar geltende Vorrang einer „Erziehung zur Mündigkeit“ als einer „Erziehung nach Auschwitz“ (Theodor W. Adorno) durch konkurrierende Narrative und Erinnerungen an anders erlittenes Unrecht im globalen Maßstab in die Situation, in seiner Maßgeblichkeit geschwächt zu werden.

Damit kann als Aufgabe einer dem Globalisierungszeitalter angemessen, auf Erinnerung und Gedenken bestehenden, politischen Bildung nur gelten, sich diesen drei Schwellen zu stellen und die künftigen, hier geborenen oder hierher eingewanderten Staatsbürger*innen angesichts „Auschwitz“ zu deutschen Verfassungspatrioten zu erziehen, sie angesichts der langen Teilung des Kontinents und der Erfahrung mit kommunistischen Parteidikaturen und Stalinismus (beides ist nicht identisch) zu demokratischen Europäer*innen sowie angesichts der Globalisierung zu Weltbürger*innen zu bilden, die sensibel und engagiert auf Verletzungen von Demokratie und Menschen-rechte reagieren, dabei gleichwohl keinem westlichen Chauvinismus, keinem selbstbewussten Überlegenheitsgefühl der „eigenen“ Kultur anhängen.

(1) Th.W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz in: Erziehung zur Mündigkeit. Ffm.1971.

(2) M.Brumlik, Aus Katastrophen lernen. Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht, Berlin 2004.

(3) O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999.

(4) Zitiert nach D.Levy, N.Sznajder, Erinnerung im globalen Zeitalter, Ffm.2001, S. 213.

(5) Vgl. V. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003.

(6) K.Schröder u. a. „Später Sieg der Diktaturen“, Ffm. 2012.

(7) München 2011.

(8) Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.

(9) J. Gauck, Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in: S. Courtois u. a. Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S. 891.

(10) H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2008, S. 650.

(11) M.do Castro-Varela/N. Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005.

(12) J. Zimmerer, Von Windhoek nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus, Münster 2011.

(13) V. N. Dadrian, The History oft he Armenian Genocide, N.Y./Oxford 2003, S. 402-403.

(14) V. N. Dadrian, German Responsibility in the Armenian Genocide, Cambridge 1996;h R. Hosfeld, Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln 2005.

(15) V. Lenhart, Pädagogik der Menschenrechte, Leverkusen 2003.

(16) I. Kant, Metaphysik der Sitten, Darmstadt 1968, S. 526 (A 30).

(17) B.Hafeneger u..(Hrsg.) Pädagogik der Anerkennung, Schwalbach 2007.

(18) A. Honneth, Kampf um Anerkennung, Ffm. 2003.

nach oben