Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 215: Geheimdienste vor Gericht

Editorial

in: vorgänge Nr. 215 (Heft 3/2016), S. 1-2

Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Arbeit der Geheimdienste ist im dritten Jahr nach den Enthüllungen Edward Snowdens deutlich zurück gegangen. Wurde anfangs noch jedes Detail über das bis dato unvorstellbare Ausmaß der Überwachungstätigkeit mit einer gewissen Empörung zur Kenntnis genommen, haben sich die meisten Menschen inzwischen daran gewöhnt, dass ihre Telefonate und E-Mails irgendwo ausgewertet werden – wenn schon nicht durch den nationalen Geheimdienst, dann auf irgendeinem Server am anderen Ende der Welt. Dem Rückgang der politischen Aufmerksamkeit ist es auch zu verdanken, dass die Bundesregierung bereits im letzten Jahr ohne nennenswerten Widerstand eine Erweiterung der strategischen Fernmeldeaufklärung des BND vornehmen konnte (s. vorgänge Nr. 208, S. 179ff.) und jetzt die Koalition im Schnelldurchgang ein Gesetzgebungsverfahren absolviert, das die Überwachungstätigkeit des BND auf eine ganz neue Stufe hebt. Mit dieser Gesetzgebung, aber auch mit den bisherigen Lehren aus der NSA-Abhöraffäre und den erkennbaren Verstrickungen des BND befasst sich die vorliegende Ausgabe der vorgänge.

Der Schwerpunkt eröffnet mit einem Beitrag von Anne Roth, die als Mitarbeiterin der Fraktion DIE LINKE im Bundestags-Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre mitarbeitet und daher an der Quelle sitzt. Sie fasst – in der hier gebotenen Kürze und bei aller Vorläufigkeit (die Beweisaufnahme ist noch nicht abgeschlossen) – die bisherigen Ergebnisse der parlamentarischen Untersuchungen zusammen. Weil die zahlreichen Enthüllungen und die daran anknüpfenden Diskussionen mit kryptischen Datenbanknamen, Filtersystemen und anderen technischen Details gespickt sind, stellen wir ihrem Bericht eine kleine Dokumentation zur Seite, in der die wichtigsten Datenbanken zur BND-Kommunikationsüberwachung, ein grobes Schema der Abläufe in der BND-Außenstelle in Bad Aibling sowie einige Zahlen und Fakten zur Kommunikationsüberwachung erklärt werden.

Daran anschließend analysiert Wolfgang Neškovic, selbst jahrelang Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste, welche strukturellen Defizite die Geheimdienstkontrolle in Deutschland plagen. Sein Beitrag erinnert daran, dass die in den letzten Monaten zutage getretenen Lücken – immerhin war der BND jahrelang in der Lage, etwa die Hälfte seiner Datenerhebung vor allen Kontrolleuren geheim zu halten – keine Zufälle sind, sondern auf lang gewachsenen Kontrolllücken basieren. Er schlägt neue Befugnisse für die Kontrolleure sowie strafrechtliche Sonderregeln vor, um die Probleme substanziell anzugehen. Der darauffolgende Beitrag von Thorsten Wetzling widmet sich dem sogenannten „Unabhängigen Gremium“, das die im neuen Gesetz definierte Auslandsüberwachung des BND kontrollieren soll. Die Unabhängigkeit dieses Gremiums ist reiner Etikettenschwindel – schließlich will sich das Bundeskanzleramt die Kontrolleure selbst aussuchen. Wetzling findet zahlreiche weitere Konstruktionsfehler dieses neuen Gremiums, das die Fragmentierung der Kontrollbehörden weiter voran treiben wird. Sven Lüders fasst anschließend die in der Sachverständigenanhörung geäußerte Kritik am BND-Gesetzentwurf zusammen.

Danach wechseln wir die Perspektive: Nach dem systematischen Politikversagen in Sachen Geheimdienstkontrolle ruhen viele Hoffnungen auf den Gerichten. Wir dokumentieren zunächst eine Auswahl verschiedener Musterverfahren gegen amerikanische, britische und deutsche Geheimdienste. Anschließend vergleicht Sarah Thomé die Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof (EuGH) zu massenhaften (heimlichen) Datenerhebungen. Nach ihrer Einschätzung sind die Maßstäbe des EuGH hierbei vielversprechender, zumindest aus bürgerrechtlicher Sicht, weil sie engere Vorgaben an solche Datensammlungen machen als das deutsche Verfassungsgericht. Dieser Befund wird indirekt auch durch den Beitrag von Clemens Arzt bestätigt, der die im Frühjahr ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz auswertet. Arzt sieht in der Entscheidung einen „Pyrrhussieg für die Freiheitsrechte“, denn bei aller Detailkritik an der Ausgestaltung einzelner Überwachungsmaßnahmen und Übermittlungsvorschriften verlören die Richter einmal mehr den Blick fürs Ganze: die Übertragung neuer Aufgaben an das BKA und die damit verbundene Etablierung einer neuen Sicherheitsarchitektur werden unhinterfragt akzeptiert.
Mit der grundsätzlichen Frage, welche Bedeutung Geheimdienste für die Schaffung von Sicherheit haben, ob es sich dabei wirklich um Sicherheitsbehörden handle, die im Kampf gegen den Terrorismus gebraucht werden, widmen sich schließlich Fredrik Roggan und Martin Kutscha in zwei juristischen Kommentaren.

Wir wünschen Ihnen mit diesen, aber auch allen weiteren Beiträgen außerhalb des Schwerpunkts eine auf- und anregende Lektüre. Alle Leserinnen und Leser, die intensiver über die Themen dieser Schwerpunktausgabe diskutieren wollen, seien herzlich zum Kongress „Geheimdienste vor Gericht“ eingeladen, der am 22. Oktober in Berlin stattfindet (s. S. 12) und dem diese Ausgabe der vorgänge ihren Titel verdankt.

Sven Lüders für die gesamte Redaktion

Dateien

nach oben