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Für ein rechts­s­taat­li­ches Polizei­recht

in: vorgänge Nr. 227 (3/2019), S. 163-165

Lisken/Denninger: Handbuch des Polizeirechts. Hrsg. von Matthias Bäcker/Erhard Denninger/Kurt Graulich, 6. Auflage, München: C. H. Beck 2018, 1758 S., 169,- Euro, ISBN 978-3-406-70590-8.

Wieder einmal schwappt eine Welle normativer Aufrüstung der Polizeigesetze durch Bund und Länder in Deutschland. Als Stichworte seien hier nur genannt: Ausdehnung von Eingriffsbefugnissen auf „drohende Gefahren“, Einführung von „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“ und „Online-Durchsuchung“, längere Gewahrsamsdauer und elektronische Fußfesseln. In dieser Situation kommt eine aktualisierte Neuauflage des für seine Grundrechtssensibilität und rechtsstaatliche Orientierung berühmten „Lisken/Denninger“ wie gerufen.

In seinem grundsätzlichen Teil („Die Polizei im Verfassungsgefüge“) mahnt der Herausgeber Erhard Denninger zu Recht vor der – auch aktuell immer wiederkehrenden – Behauptung, durch neue Überwachungsbefugnisse werde „mehr Sicherheit“ geschaffen. „’Sicherheit’ ist ohne näheren Bezug ein nicht näher definierbarer und nichts definierender Begriff; ‚Sicherheit’ ist vielmehr in sich maßlos und grenzenlos, ist ein nie erfüllbares Ideal, ähnlich wie ‚Gerechtigkeit’ oder ‚Freiheit’“ (S. 72). Er verweist darauf, dass das Vorfeld vor den rechtsstaatlichen Grenzmarken von konkreter Gefahr und konkretem Straftatverdacht begrifflich keine Schranken mehr kenne, und kritisiert die schwer eingrenzbare neue Kategorie des „Gefährders“.

Angesichts der aktuellen Gesetzesnovellierungen verdienen die Ausführungen zu den rechtsstaatlichen Vorgaben für die polizeiliche Datenerhebung besonderes Interesse. Thomas Schwabenbauer erinnert daran, dass die zunehmend heimlich („verdeckt“) erfolgenden Informationseingriffe den Schutz der Privatsphäre gefährden und Einschüchterung bewirken. „Die Heimlichkeit von Maßnahmen ist auch mit einem spezifischen Missbrauchsrisiko verbunden. Es kann aus strukturellen Gründen nicht vollends auf die Kraft der Gesetzesbindung vertraut werden.“ (S. 796). Schwabenbauer kritisiert mit guten Gründen die Aufweichung des Schutzes für den Kernbereich privater Lebensgestaltung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (S. 810f.). Es sei mehr Wunsch als Wirklichkeit, die Menschenwürde statt durch strikte Erhebungsverbote vor allem durch Aus- und Verwertungsverbote schützen zu wollen.

Der bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri behandelt u. a. die problematische Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten (S. 953 ff.) sowie die Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze. Sein Hinweis, dass die Stärkung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung keinen Bestandteil der polizeilichen Aufgabenerfüllung darstellt (S. 988), ist angesichts gegenwärtiger Tendenzen einer Ausweitung der Praxis nur zu berechtigt.

Aus bürgerrechtlicher Sicht nicht minder interessant ist das Verhältnis zwischen Polizei und den – verharmlosend als „Nachrichtendienste“ bezeichneten – Geheimdiensten sowie die Erläuterung von Aufgaben und Befugnissen des Verfassungsschutzes. Insbesondere bei der Erörterung, welche Bedeutung dem Trennungsgebot für Polizei und Geheimdienste zukommt, kommen indessen die unterschiedlichen Positionen der damit befassten Autoren zum Tragen: Erhard Denninger, Frederik Rachor/Fredrik Roggan sowie Nils Bergemann verstehen das Trennungsgebot als umfassend. Gemeint sei damit nicht nur eine informationelle Trennung, sondern auch eine strikte Unterscheidung zwischen den Aufgaben der Polizeien einerseits und den Geheimdiensten andererseits (S. 84, 193 u. 1113). Eine solche Unterscheidung trifft auch Matthias Bäcker, knüpft daran aber eine überraschende Schlussfolgerung: Bei der Überwachung durch einen Nachrichtendienst, so Bäcker, drohten dem Betroffenen typischerweise weniger schwerwiegende Folgen als bei Überwachungsmaßnahmen anderer Behörden. Die Nachrichtendienste verfügten nicht über imperative Befugnisse. „Hierdurch vermindert sich die Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Überwachungen im Vergleich zu Überwachungen anderer Behörden. Der besondere Aufgaben- und Befugniskreis der Nachrichtendienste begründet daher ein verfassungsrechtliches Privileg.“ (S. 141) – Auf den Text des Grundgesetzes lässt sich ein solches „Privileg“ bei der Bespitzelung allerdings nicht stützen – Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG ermächtigt den Bund lediglich zur Errichtung einer Zentralstelle „zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes“, ohne besondere Überwachungsbefugnisse dieser Zentralstelle zu erwähnen.

Auch die Annahme, die Überwachungsmaßnahmen der „Dienste“ seien weniger eingriffsintensiv und folgenschwerer für die Betroffenen als eine polizeiliche Überwachung, überzeugt nicht. Erinnert sei nur an die Berufsverbotepraxis [1] vor allem in den siebziger Jahren auf der Grundlage zweifelhafter „Erkenntnisse“ der Verfassungsschutzämter, aber auch an die stigmatisierende Wirkung der „Beobachtung“ bestimmter Personenkreise durch den Verfassungsschutz. In seinem lesenswerten Text über die Aufgaben und Befugnisse der Nachrichtendienste verweist Nils Bergemann mit Recht darauf, dass breitenwirksame heimliche Überwachungen etwa der Telekommunikation besonders intensive Grundrechtseingriffe darstellen (S. 1141). Der Autor kritisiert auch den „überbordenden und wenig ertragreichen“ Einsatz von V-Leuten. Tatsächlich haben die zahlreichen V-Leute der Verfassungsschutzämter weder im Fall der „NSU“-Terrorzelle noch im Fall des Weihnachtsmarktattentäters Anis Amri deren mörderische Aktivitäten verhindert. Im Gegenteil: Durch die staatliche Alimentierung der V-Leute wurde tatkräftig zur Finanzierung der jeweiligen kriminellen Strukturen beigetragen (vgl. Rachor/Roggan, S. 192).

Es ist bedauerlich, dass – anders als in der Vorauflage – das Vorwort der beiden ursprünglichen Herausgeber (neben Denninger der viel zu früh verstorbene ehemalige Polizeipräsident Hans Lisken) zur ersten Auflage von 1992 nicht wieder mit abgedruckt wurde. Eine für das rechtsstaatliche Polizeirechtsverständnis geradezu programmatische Passage daraus sei deshalb hier noch einmal zitiert: „Es geht nicht allein um die perfekte ‚Lagebewältigung’, sondern allzeit auch um die dauerhafte Sicherung der grundgesetzlichen Freiheitsordnung. Das bedeutet, dass die Verfahrensgesetze, zu denen die Polizeigesetze zählen, nicht nur als Ermächtigung zu Grundrechtseingriffen, sondern – wie die Verfassung selbst auch – zugleich als Schutz vor der Staatsgewalt zu verstehen sind, weil die Freiheit in unserer Geschichte stets mehr von der ‚Obrigkeit’ als von Außenseitern der Gesellschaft bedroht war.“ – Diese Einsicht scheint den heutigen Gesetzgeber_innen des Polizeirechts allerdings weitgehend abhanden gekommen zu sein.
Zum Schluss eine Enttäuschung: Kurz nach Erscheinen des Werkes wurde den Autor_innen vom Verlag mitgeteilt, dass die aktuelle Auflage aus „urheberrechtlichen Gründen“ vom Markt genommen wurde – sie ist also nur noch in Fachbibliotheken u. ä. verfügbar.

Anmerkungen:

1 S. dazu den Kommentar von Kutscha in diesem Heft, S. 153 ff.

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