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Wolf-Dieter Narr (*13. März 1937 - †12. Oktober 2019)

in: vorgänge Nr. 227 (3/2019), S. 172-175

Altersmilde war Wolf-Dieter Narr ebenso fremd wie Altersmüdigkeit, solange er in der Lage war, redend und schreibend sein tätiges Leben zu führen. Sein Institut in der Potsdamer Straße und später seine Dachkammer in Charlottenburg waren fest eingebunden in das Netzwerk von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, die er mit aufgebaut hatte. Sie waren Anlaufstelle für Doktoranden, die seinen Rat und praktische Hilfe suchten; und sie waren ein Ort, an dem er sich mit Freunden austauschte und bei Gelegenheit freundlich, aber bestimmt Argumente und politische Positionen kritisierte, die seiner Erachtens zu kurz griffen, weil sie Widersprüche verkleisterten oder aber die materiellen Voraussetzungen menschlichen Handelns (sei es der politischen Teilhabe oder der Inanspruchnahme von Menschenrechten) nicht explizierten.

Seine Krankheit hat ihm dieses Leben brutal entzogen. Was bleibt für alle, die ihn kannten, ist nicht nur die Erinnerung an die Person Wolf-Dieter Narr, der in unterschiedlichen Konstellationen, aber immer er selbst, Intellektueller und Wissenschaftler, Bürgerrechtler und Organisator, politischer Aktivist und pazifistischer Anarchist zugleich war. Was bleibt sind auch die Organisationen und Netzwerke, die er mit aufgebaut und in denen er über Jahrzehnte mitgearbeitet hat; sein Bemühen um eine linke Politik, in der Ziele und Mittel nicht taktisch, sondern mit humanitären Maßstäben normativ-moralisch begründet werden; seine Initiativen für eine menschliche Flüchtlingspolitik und eine humane Psychiatrie; und nicht zuletzt seine Artikel und Bücher, in denen er Konzepte von Demokratie, politischer Teilhabe und Menschenrechten radikal in ihrer materiellen und sozialen  Bedingtheit theoretisch wie praktisch zu Ende zu dachte.

Wolf-Dieter Narr hat mit seinen theoretischen und praktischen Anstößen viel erreicht – Karriere gemacht hat er nicht. Und das, obwohl in der Umbruchperiode der späten 1960er Jahre alles darauf hinzulaufen schien. Die erste Generation, die den Nationalsozialismus nur noch als junge Hitlerjungen erlebt hatte, wurde für Hochschulpolitiker und Studentenbewegung gleichermaßen zum Hoffnungsträger einer Reform der alten Ordinarienuniversität. Wolf-Dieter Narr verkörperte diese Hoffnung in besonderem Maße, hatte er doch als Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender der Bundesassistenzkonferenz bereits 1968 weitgehende Vorschläge zur Hochschulreform formuliert. Als John F. Kennedy Memorial Fellow in Harvard 1969-71 erhielt er zudem nicht nur prestigeträchtige akademische Referenzen für eine spätere Berufung in Deutschland. Seine Jahre in Boston ermöglichten ihm vielmehr auch, die systemtheoretischen Ansätze zur politischen Steuerung von Regierungshandeln zu durchforsten, die bald in den Reformdiskussionen der sozialliberalen Koalition hoch gehandelt wurden.

Ohne selbst danach zu streben, war Wolf-Dieter Narr plötzlich auf der Höhe der Zeit. Mehrere Universitäten umwarben ihn, bevor er schließlich den Ruf an das Otto-Suhr-Institut der FU Berlin annahm. Er wurde Mitglied des Wissenschaftsrats und begründete mit Horn, Koch und Offe eine Zeitschrift der Sozialwissenschaften, in der „die Subjekte des Leviathan und die Strategien ihrer rationalen Repolitisierung“ thematisiert werden sollten. Die Türen vieler Politiker und Universitätsrektoren standen ihm offen. Um ein Haar wäre er auch noch vom Kanzleramtsminister Ehmke für seine Regierungs- und Verwaltungsreform rekrutiert worden, hätten nicht schon damals die „Dienste“ Sicherheitsbedenken angemeldet. Er war gefragt und hatte, wie viele seiner damaligen Weggefährten, alle Möglichkeiten, die vermeintliche Reform als Großordinarius zu usurpieren, der akademische Macht mit politischen Einfluss und sozialem Prestige verbindet.

Es kam anders. Die Einladung, mehr Demokratie zu wagen, verkehrte sich schnell in eine etatistische Politik, die versuchte die staatliche Ordnung mit allen Mitteln gegen vermeintlich Radikale, revolutionäre Linke und Terroristen zu verteidigen. Die Hochschulreform versandete in bürokratischen Strukturen, die bei den Studenten gerade nicht die von Wolf-Dieter Narr geförderte Lust am eigenen Denken beförderte. Der Radikalenerlass grenzte weite Teile der Linken bürokratisch aus, und die Politik Innerer Sicherheit, die mit der Verfolgung der Roten Armee Fraktion Einzug hielt, drohte die Reform der autoritären Strukturen und von Beamten aus der Nazizeit durchsetzten Sicherheitsapparate im Keime zu ersticken.

Ein Rückzug in den Wissenschaftsbetrieb kam für ihn in dieser Situation nicht in Frage, wenngleich er sich, wo immer er konnte, um reformierte Studiengänge bemühte. Von einer Mitarbeit an dem Experiment einer einstufigen Juristenausbildung an der Uni Hannover hielt ihn die sozialdemokratische Regierung 1975 per Kabinettsbeschluss fern. „Die akademische Froschleiter emporzuquaken“ war für Wolf-Dieter Narr „Resignation“ und „Langeweile“ und hätte ihn seiner Leidenschaft beraubt und seinen Spaß daran genommen, sich mit Politik herrschaftskritisch auseinanderzusetzen. Ebenso wenig kam für ihn eine Annäherung oder gar Anlehnung an die Parteien der alten und neuen Linken in Betracht, die sowohl in ihren Organisationsformen als auch in ihren Machtansprüchen gegenüber den von ihnen agitierten Subjekten der Geschichte allem widersprach, was für seine Vorstellungen einer demokratisch-emanzipatorischen Politik wesentlich war.

Stattdessen suchte Wolf-Dieter Narr kompromisslos sein Programm herrschaftskritischer Analysen des bundesrepublikanischen Staates umzusetzen, die der außerparlamentarischen Opposition und den neuen sozialen Bewegungen zugleich Hilfestellung und Orientierungen geben sollten. Dies materialisierte sich zum einen in der Arbeitsgruppe Bürgerrechte, die er zusammen mit Mitarbeiter*innen und -streitern gründete, und der ab 1978 von ihr herausgegebenen Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei (CILIP). Zum anderen suchte Wolf-Dieter Narr, über seine verstärkte Mitarbeit im Sozialistischen Büro, sozial und politisch fundierte, nicht nur taktisch begründete Bürger- und Menschenrechte zum Angelpunkt jeder glaubwürdigen Kritik der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik zu machen. In dieser Auseinandersetzung und in den außerparlamentarischen Bewegungen und linken kommunistischen Parteien wurde das Dritte Russel-Tribunal zur Lage der Menschenrechte in Deutschland 1978, das er mit Uwe Wesel maßgeblich vorbereitete, zu einem wichtigen Katalysator. Nicht dass das Tribunal in die Regierung, die sie tragende Sozialdemokratie oder aber in die Medienöffentlichkeit hinein gewirkt hätte. Was die Unzahl an Diskussionen von Unterstützergruppen und Gegnern des Tribunals in der Linken jedoch bewirkte, war, dass Debatten um die normativen Grundlagen politischen Handels zum Gegenstand links-alternativer Politik wurden. Zusammen mit Hanne und Klaus Vack hat Wolf-Dieter Narr diese Arbeit dann mit der Gründung des Komitees für Grundrechte und Demokratie konsequent weiterverfolgt.

Im Bestreben, als Alternative Listen oder Grüne Partei in die Parlamente einzuziehen, wurden Bürger- und Menschenrechte bald allenthalben zu Bezugspunkten einer neuen Politik, die sich „alternativ“ und zugleich „realistisch“ nannte. Als Parteien- und Herrschaftskritiker stand Wolf-Dieter Narr, an Max Weber und Michels ehernes Gesetz erinnernd, der Euphorie des parteilichen Aufbruchs der sozialen Bewegungen von Anfang an skeptisch gegenüber. Fischers Instrumentalisierung von Auschwitz und seine menschenrechtliche Begründung der Teilnahme der Bundeswehr an der NATO-Bombardierung in Jugoslawien 1999 haben ihn darin bestätigt. Er hat immer wieder und in einer Schärfe, aus der teilweise auch die Enttäuschung über ehemalige Weggefährten sprach, die Verkleisterung und ´Auflösung´ der Widersprüche zwischen Macht und Recht, demokratischer Teilhabe und sozialer Ausgrenzung, Menschenrechte und besitzbürgerlichem Individualismus in einer linksliberal-grünen Reformphraseologie angeprangert.

Für viele der früheren Westbürger, die in ihrem Kampf um Anerkennung sich im neuen, vereinten Deutschland angekommen sahen, war seine Kritik irritierend und für manche seiner ehemaligen Weggenossen schlicht Systemopposition. Wolf-Dieter Narr konterte, manchmal schmunzelnd, dass er von seinen Kritikern zum Geisterfahrer erklärt werde, obwohl er doch nie die Fahrbahn, noch die Spur gewechselt habe. Es wäre in der Tat grundlegend falsch, Wolf-Dieter eine radikale Wende vom frühen Juso-Genossen und Systemtheoretiker zum radikalen Systemopponenten zu unterstellen. Radikalisiert hat er seine Kritik am liberalen Rechtsstaat der Bundesrepublik sehr wohl. Doch an keiner Stelle hat er je ein anderes System antizipiert, an keiner Stelle hat er sich je dem Irrglauben an einen besseren, neuen Menschen hingegeben.

Im Gegenteil: Er sah sich in seiner Kindheit und Jugend schon früh dazu gezwungen, sich mit dem, der nationalsozialistischen „Generation der Unbedingten“ zugehörigen Vater und seinen eigenen HJ-Träumen auseinanderzusetzen. Das hat ihn schon früh zum Pazifismus gebracht und zu einer nie abreißenden Beschäftigung mit den inhärenten Widersprüchen liberal-kapitalistisch verfasster Demokratien, wie sie sich in den letzten 200 Jahren ausgebildet haben. Ob sie in der Lage sind, die soziale und politische Bedingtheit für die politische Teilhabe ihrer Bürger und für die Würde aller in ihnen lebenden Menschen auch nur in Ansätzen zu generieren, war eines seiner durchgängigen Themen. Hinter seiner Hoffnung auf Räume, die im Kleinen erlauben den aufrechten Gang zu erlernen, und diesen praktizierend es den Subjekten erlauben, sich ein Stück aus den Ligaturen einer durch und durch kapitalistisch und herrschaftlich strukturierten Gesellschaft zu befreien, lag bei Wolf-Dieter Narr immer schon die Befürchtung, dass die liberal-kapitalistisch verfassten Demokratien das Gegenteil fördern: nicht eine „rationale“, sondern eine rassistische, nationalistische, populistische „Repolitisierung der Subjekte des Leviathan“. Es verwundert deshalb auch nicht, dass viele seiner Kritikpunkte an der liberal-kapitalistisch verfassten Demokratien in der aktuellen Diskussion um die Zukunft liberaler Demokratien nun nicht mehr als Systemkritik wiederkehren, sondern als triftige Argumente. Eine Genugtuung wäre dies für Wolf-Dieter Narr kaum gewesen.

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