Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 236: Der Streit um die Anleihekäufe der EZB

Auf dem Weg zum Richter­faust­recht? Zum PSPP-Urteil des BVerfG

Das rechtliche wie politische Eskalationspotenzial der EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nur verstehen, wenn man es in die seit langem bestehenden Konflikte zwischen nationalen und europäischen Gerichten, um die Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit europäischer Normen sowie die Grenzen der europäischen Integration einordnet. Dazu liefert der folgende Kommentar der Entscheidung von Franz C. Mayer eine erste „Lesehilfe“, die auf zahlreiche kritische Aspekte des Urteils eingeht.

Am 5. Mai 2020 hat der Zweite Senat des BVerfG seine Schlussentscheidung zu den seit 2015 anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen das Anleihekaufprogramm „PSPP“ der EZB verkündet. Er hat dabei festgestellt, dass das PSPP-Programm der EZB gegen das Grundgesetz verstößt. Genauer gesagt hat er festgestellt, dass das PSPP nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, weil es wegen Überschreitung europäischer Kompetenzen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Nein, das trifft es auch nicht. Nochmal.

Im insoweit maßgeblichen Tenor des Urteils steht, dass Bundesregierung und Bundestag das Grundgesetz (Demokratieprinzip) verletzt haben, indem sie es unterlassen haben, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass die EZB nicht prüft und darlegt, dass das PSPP Programm dem Europarecht (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) entspricht. In allen anderen Punkten bleiben die Verfassungsbeschwerden erfolglos.

Wer jetzt endgültig verwirrt ist, es wird noch besser: die Vereinbarkeit des PSPP mit dem Europarecht hatte der Europäische Gerichtshof 2018 auf Vorlage des BVerfG seinerseits bereits geprüft und die Europarechtskonformität bejaht (Rs. Weiss u.a., C-493/17).

Das BVerfG beanstandet jedenfalls die fehlende europarechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung beim PSPP-Programm der EZB. Um selber diese Feststellung treffen zu können, musste es zunächst das gegenteilige EuGH-Urteil aus dem Weg räumen. Um zu verstehen, wie das gelingen konnte und was das Ganze überhaupt soll, muss man etwas ausholen.

I. Vorge­schichte

Der Europäische Gerichtshof ist nach dem Unionsrecht für Auslegungs- und Gültigkeitsfragen zum Unionsrecht nach Art. 19 EUV, 267 Abs 3 AEUV die letzte Instanz. Wer sonst? In Art. 344 AEUV haben sich die Mitgliedstaaten sogar Folgendes versprochen: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln.“ Und als Gericht für das Europarecht ist eben der EuGH vorgesehen.

Seit dem Maastricht-Urteil 1993 beansprucht das BVerfG gleichwohl für sich, Kompetenzüberschreitungen der europäischen Einrichtungen und Organe festzustellen und entsprechende europäische Rechtsakte für in Deutschland unanwendbar zu erklären. Dies wurde anfänglich unter dem Etikett „ausbrechende Rechtsakte“, später unter dem Stichwort „Ultra vires-Akte“ verhandelt. Das BVerfG verwendet dabei einen Trick: Es behauptet, eigentlich nur das Grundgesetz auszulegen und wie weit das Grundgesetz die Mitwirkung in der EU trägt. Über diese Hintertür gelangt es dann aber doch dazu, auch das Europarecht auszulegen – was eigentlich nach den Verträgen letztverbindlich dem EuGH vorbehalten ist – und erzeugt so eine Art Parallelversion des Europarechts durch die Karlsruher Brille.

Dieser Ansatz kann auf Dauer nicht gut gehen und war auch von vornherein nicht mit den Verträgen vereinbar, insbesondere mit Blick auf Art. 344 AEUV (siehe oben). Ironischerweise erweist sich der Ultra vires-Kontrollanspruch des BVerfG als ultra vires. In den Worten von Gertrude Lübbe-Wolff in ihrem OMT-Sondervotum: „In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten.“

Er war aber insbesondere auch unter dem Aspekt der Funktionsfähigkeit einer über­staatlichen Rechtsordnung noch nie ein plausibles Konzept: Wenn jeder Mitgliedstaat mit derartigen Letztentscheidungsansprüchen aufwartet, dann kann man es mit dem gemeinsamen Recht auch gleich bleiben lassen.

Entsprechend harsch fiel die Kritik am Lissabon-Urteil aus, das 2009 nach langen Jahren die „Ultra vires-Kontrolle“ aus der Mottenkiste holte und sogar noch anschärfte. Auf die Kritik hin ruderte der Zweite Senat 2010 mit dem Honeywell-Beschluss alsbald deutlich zurück und versah bei grundsätzlichem Beharren auf der Möglichkeit einer Ultra vires-Kontrolle diese mit Voraussetzungen und Kautelen, die ihre Aktivierung ziemlich unwahrscheinlich erscheinen ließen. So versprach das BVerfG, auf jeden Fall vor einer Ultra vires-Feststellung den EuGH im Wege der Vorlagefrage zu befassen – zu dem Zeitpunkt hatte das BVerfG noch nie vorgelegt. Außerdem sollte nicht jede Kompetenzverletzung als Ultra vires-Akt in Betracht kommen, sondern nur solche, die eine strukturelle Verschiebung in der Kompetenzordnung bewirken. Und der EuGH sollte in diesen Fragen sogar das Recht auf Fehlertoleranz haben.

In dieser Konfiguration konnte man der Ultra vires-Kontrolle sogar stabilisierende Züge für das Gesamtgefüge zuschreiben, eine Art Vorwirkung auf die europäische Kompetenzhandhabung. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass das Damoklesschwert nie gelöst wird. Ich habe das in meinem Staatsrechtslehrervortrag vor einigen Jahren auch in diesem Sinne diskutiert, bleibe aber dabei, dass wenn überhaupt ein Platz für mitgliedstaatliche Kontrollelemente aus Sicht des Europarechts besteht, dies allenfalls die Identitätskontrolle betreffen kann. Bei der Prüfung, ob die nationale Verfassungsidentität dem Europarecht im Wege steht, geht es immer nur um das bilaterale Verhältnis einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zur Unionsrechtsordnung. Der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung kann aber nicht auf dieses zweipolige Verhältnis beschränkt bleiben, er wirkt gleichsam rundum, auch für das Unionsrecht im Verhältnis zu allen anderen Mitgliedstaaten.

II Das Urteil vom 5.5.2020

Mit dem PSPP-Urteil ist es nun passiert: Das BVerfG erklärt dem EuGH in ziemlich schulmeisterlicher Manier („Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar“, „objektiv willkürlich“), er habe die Kompetenzausübung durch die EZB nicht ordentlich geprüft und damit seinerseits seine Kompetenzen überschritten. Damit ist der Weg frei für eine Überprüfung der EZB durch das BVerfG. Spätestens hier wird der in den Gedankengängen des Zweiten Senats nicht geschulte Leser um Fassung ringen. Aber es ist tatsächlich so, dass das deutsche Verfassungsgericht sich auf den Weg macht, die unabhängige (!) europäische (!!) Zentralbank in seine Schranken zu verweisen. Der rechtliche Ansatz ist dabei das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV als Kompetenzausübungsprinzip.

Angesichts der „erheblichen wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP hätte die EZB diese gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen.“

Und weiter:

„Eine solche Abwägung ist, soweit ersichtlich, weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, sodass auch eine Überprüfung, ob die Hinnahme der kompetenziell problematischen wirtschafts- und sozialpolitischen Wirkungen des PSPP noch verhältnismäßig beziehungsweise seit wann sie nicht mehr verhältnismäßig ist, nicht erfolgen kann. Sie ergibt sich auch nicht aus Pressemitteilungen und sonstigen öffentlichen Äußerungen von Entscheidungsträgern der EZB. Die in Rede stehenden Beschlüsse verstoßen deshalb wegen eines entsprechenden Abwägungs- und Darlegungsausfalls gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV mit der Folge, dass sie von der währungspolitischen Kompetenz der EZB aus Art. 127 Abs. 1 Satz 1 AEUV nicht gedeckt sind.“

So löst das BVerfG also die Grundstreitfrage, die auch in der mündlichen Verhandlung die Ökonomen und Juristen aneinander vorbeireden ließ „Ist das PSPP noch Währungspolitik (erlaubt) oder schon Wirtschaftspolitik (verboten)?“: Wenn die EZB im Verhältnismäßigkeittest die wirtschaftspolitischen Wirkungen sauber verarbeitet, dann ist es noch Währungspolitik.

Das Prüfergebnis lautet dann, dass die EZB leider nicht ausreichend dokumentiert hat, dass sie die Folgen ihres Programms in ihre Erwägungen einstellt. Das Programm hat dann im Europarecht keine Grundlage und das EuGH-Urteil, das das nicht beanstandet, dann eben auch nicht. Damit sind weder das Urteil noch das PSPP-Programm für Deutschland verbindlich.

Die Frage der verkappten – verbotenen – monetären Staatsfinanzierung durch das PSPP wird auch noch geprüft, aber hier lässt man trotz der „erheblichen Bedenken“ die Prüfung durch den EuGH gelten.

III. Die unmit­tel­baren Folgen

Das BVerfG kann der EZB keine Anweisungen erteilen. Der Tenor des Urteils beschränkt sich auf die Feststellung, dass Bundesregierung und Bundestag, die nicht näher spezifizierten „geeignete Maßnahmen“ unterlassen hätten. Weiter hinten werden Bundestag und Bundesregierung – Unabhängigkeit der Zentralbank hin oder her – verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Sie müssten „ihre Rechtsauffassung“ – gemeint ist wohl eher: die des Zweiten Senats – „gegenüber der EZB deutlich machen“. Entsprechende Schreiben sollten rasch geschrieben sein.

Als unmittelbarste Folge der Feststellung einer Kompetenzüberschreitung wird am Ende des Urteils lediglich der Bundesbank, die man insoweit im Zugriffsbereich des BVerfG vermutet, „untersagt“ an dem Anleihekaufprogramm mitzuwirken. Allerdings erst nach drei Monaten. In der Zeit könnten also die Verhältnismäßigkeitserwägungen gleichsam nachgeliefert werden. Damit scheint das Urteil in seinen unmittelbaren Folgen überschaubar zu sein, wobei man die wiederholten „derzeit“- und „noch nicht“-Wendungen nicht ganz ausblenden darf.

Aber das Urteil reicht über die konkrete Streitigkeit um ein EZB-Anleihekaufprogramm aus dem Jahre 2015 weit hinaus.

IV. Einordnung und Ausblick in 10 Thesen

1. Das Urteil ist keine Überraschung.

Seit Jahren befeuern interessierte Kreise die Vorstellung beim Zweiten Senat, man müsse auch einmal zubeißen, nicht immer nur bellen. Wer die mündliche Verhandlung erlebt hat, in der die schlechte Laune der Richterbank mit Händen zu greifen war, konnte eine Vorahnung entwickeln. Da mischte sich die Wut darüber, dass man die ökonomischen Fragen und überhaupt die Kategorien der Ökonomen nicht in den juristischen Griff bekam, die schlechte Laune über die angeblich herablassende Tonalität der EuGH-Vorlageentscheidung und möglicherweise auch über die Abwesenheit der EZB, die es – richtigerweise – vorgezogen hatte, sich nicht wieder wie im OMT-Verfahren an einem Nasenring durch die Manege verfassungsrichterlicher Befragung bei einem mitgliedstaatlichen Gericht ziehen zu lassen.

2. Das Urteil ist eine Überraschung.

Dass der Zweite Senat es wagen würde, in das hochsensible Handlungsfeld der EZB einzufallen, war dann doch nicht völlig sicher. Viele hatten im Vorfeld auf die Vernunft der Richter gesetzt, die Gefahren für den Euro durch einen Angriff auf die EZB nicht zu unterschätzen. Für eine Aktivierung der Ultra vires-Kontrolle gegen den EuGH erschien die ebenfalls beim Zweiten Senat anhängige Rs. Egenberger (kirchliches Arbeitsrecht) eher geeignet, mit weniger weitreichenden Auswirkungen und gleichwohl einem gewissen Symbolgehalt. Überraschend und auch beunruhigend ist dann aber, dass jetzt doch der EZB-Fall für ein erstes Ultra vires-Verdikt gewählt wurde. Das lässt letztlich nur den Schluss zu, dass man die erhöhte, gerade auch internationale Sichtbarkeit und die größeren praktischen Auswirkungen ausdrücklich wollte.

3. Das Urteil ist eine Enttäuschung.

„Das Urteil“ ist auch eine Chiffre für die hinter dem Urteil stehenden Personen. Vorliegend erging das Urteil 7 zu 1. Leider hat diese „1“ kein Sondervotum vorgelegt, so dass wir nicht wissen, wer die eine Person war, die – mutmaßlich – europafreundlicher geurteilt hätte. Das ist sehr bedauerlich, weil seit Solange I die Sondervoten in Europafragen als Beleg hilfreich gewesen sind, um die Widersprüche in den Mehrheitspositionen aufzudecken. Und den Weg zu weisen für eine mögliche bessere Rechtsprechung.

Mitgewirkt haben am Urteil vom 5. Mai der Vorsitzende Voßkuhle, Professor in Freiburg, der Berichterstatter Huber, Professor in München, der ehemalige saarländische Ministerpräsident Müller, die vormaligen Bundesrichterinnen Kessal-Wulf und Hermanns, der ehemalige Bundesrichter Maidowski sowie die Professorinnen König (Hamburg) und Langenfeld (Göttingen). Und nur eine einzige Person aus diesem Kreise war nicht bereit, das Urteil mitzutragen – das enttäuscht. Die drei letztgenannten als auch zuletzt in den Senat gewählten Mitglieder hatten sich kürzlich gegen die unter verschiedenen Aspekten auch problematische EPGÜ-Entscheidung in einem diese Probleme thematisierenden Sondervotum gewandt. Das nährte Hoffnungen auf eine Wendung zu einer moderaten Europalinie im Zweiten Senat. Davon ist nichts geblieben.

4. Fortsetzung droht.

Dieses Urteil lädt dazu ein, weiter gegen das PSPP zu klagen und auch gegen das PEPP (Corona) vorzugehen. Dass das BVerfG hier mit einer äußerst kühnen Zulässigkeitskonstruktion immer wieder denselben antieuropäischen Klägern ein Forum bietet, denen es ausdrücklich um die Abschaffung der gemeinsamen Währung geht – AfD-Gründer Lucke etwa –, gehört auch zu den befremdlichen Aspekten dieser Rechtsprechung.

Es sind daneben bereits Verfahren anhängig, die explizit als Ultra vires-Klagen erhoben wurden. Das betrifft insbesondere das Egenberger-Verfahren, in dem es um kirchliches Arbeitsrecht geht. Auch hier droht eine Konfrontation mit dem EuGH. Damit ist zu befürchten, dass das Urteil vom 5.5.2020 nicht die Ausnahme bleibt.

5. Corona – der Zweite Senat hat ein Timingproblem.

Dem Gerichtspräsidenten Voßkuhle war der Termin sichtlich unangenehm. Die Verkündung war bereits einmal um 3 Wochen verschoben worden, mit der Begründung der coronabedingten Kontaktsperre. In der Coronakrise wirkt das Urteil nämlich besonders deutlich wie aus der Zeit gefallen. Die EZB ist mit ihrem PEPP- Programm eine der wenigen sichtbaren und handlungsstarken europäischen Institutionen. Obwohl Voßkuhle sich beeilte einleitend zu betonen, dass das heutige Urteil keine Aussage zum Corona-Programm der EZB enthalte – was einerseits eine Selbstverständlichkeit ist, dann aber auch wieder als Aussage irritiert – sind die Parallelen von PSPP und PEPP unübersehbar. Und wenn man die Vorgaben des Urteils auf PEPP anwendet, ist klar, dass die nächste Verfassungsklage sich gegen PEPP richten wird. Immerhin wird dann Art. 122 AEUV eine Rolle spielen können, und das BVerfG hätte Gelegenheit, sein PSPP-Urteil zu korrigieren.

6. Das BVerfG macht nicht das, was seine Aufgabe ist: für Stabilität sorgen.

Schon vor Corona konnte man die allgemeine Wahrnehmung haben, dass die Welt zunehmend aus den Fugen gerät und dabei das Recht als wagemutige Idee von Rechtsbindungen jenseits des Nationalstaats zurückgedrängt werden soll. Entsprechenden Kräften diesseits und jenseits des Atlantik stellt sich die Rechtsidee der europäischen Integration beharrlich in den Weg. In einer Welt aus den Fugen bietet das Recht Halt und sichert Stabilität. Dafür steht in Deutschland jenseits des EU-Kontextes die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten, das ist auch seine Aufgabe. Darauf wird es in der Corona-Krise noch sehr viel mehr ankommen. Der Angriff des BVerfG auf EuGH und EZB wirkt dem entgegen, er destabilisiert.

7. Das Urteil ist nicht stimmig und überzeugt auch bei Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung nicht.

Einiges an dem Urteil irritiert. Hier eine Auswahl:

Das Gebäude des BVerfG ist ein sehr transparenter Bau, ein Glashaus gewissermaßen. Aus diesem Glashaus heraus wird der Verhältnismäßigkeitstest vom BVerfG insbesondere gegenüber dem EuGH in völlig unverhältnismäßiger Form eingefordert. Da ist die Rede von Willkür und von einer nicht mehr nachvollziehbaren Entscheidung. Das knüpft zwar an etablierte dogmatische Figuren an. Gleichwohl: Es gab in der deutschen Geschichte Willkürgerichte. Der EuGH ist weit entfernt davon. Und natürlich ist die Argumentation des EuGH für den objektivierten Empfängerhorizont eines durchschnittlichen europäischen Juristen nachvollziehbar, das kann jeder nachlesen. Dem BVerfG passt sie schlicht nicht. Dann ist da noch der Vorwurf, der EuGH urteile „methodisch nicht mehr vertretbar“. Das sagen sieben deutsche Juristen zu den 15 eJuristen der Großen Kammer des EuGH. Im Schrifttum ist das besagte EuGH-Urteil niemandem als methodisch nicht mehr vertretbar aufgefallen. Da werden zwar jede Menge Nachweis-Nebelkerzen aufgestellt, aber mit Schrifttum zur methodischen Unvertretbarkeit der EuGH-Linie in Sachen PSPP wartet das BVerfG dann auch nicht auf – was eigentlich methodisch nicht mehr vertretbar ist.

Ferner wird bereits über die wackelige Zulässigkeitskonstruktion (Art. 38 GG) der gegen die EZB gerichteten Verfassungsbeschwerden letztlich ja Demokratie eingefordert – dies gegenüber einer Zentralbank, wo doch Verfassungsgericht wie Zentralbank beide gleichermaßen demokratisch prekär sind („countermajoritarian institutions“). Funktionale Legitimation trägt solche Einrichtungen – und da wollen die Juristen aus dem Glashaus des Verfassungsgerichts der Zentralbank erklären, wie Zentralbank demokratisch ordnungsgemäß zu funktionieren hat? Überhaupt ist Demokratie bei der – von Deutschland ja so gewollten – unabhängigen Zentralbank schlicht der falsche Aufhänger. Das sieht man besonders gut an der Forderung, der Bundestag möge auf die EZB irgendwie „hinwirken“ – genau das sollte nicht sein: Dass irgendwelche Abgeordneten bei der Zentralbank anrufen und politischen Druck machen, ist ein anderes Modell von Zentralbank. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank war übrigens eine deutsche Forderung. Der EuGH ist nebenbei bemerkt das Gericht, das in der Rs. Rimšēvičs 2019 bereits unter Beweis gestellt hat, dass es diese Unabhängigkeit entschlossen verteidigt.

Das Demokratieargument stammt übrigens noch aus der älteren Schicht der Eurorettungs-Rechtsprechung zu EFSF und ESM, wo das BVerfG immer den Bundestag vorschieben konnte, der aus Demokratiegründen immer erst grünes Licht geben muss, bevor die europäischen Einrichtungen tätig werden dürfen. Mit dem Demokratieargument konnte man praktischerweise auch immer die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden aus Art. 38 GG sichern, obwohl diese Zulässigkeitskonstruktion, ehrlich gesagt, methodisch eigentlich nicht mehr vertretbar ist. Bei der EZB kann der Bundestag aber nichts ausrichten, weil diese unabhängig ist. Und trotzdem werden die alten Textbausteine mitgeschleppt, und aus alter Gewohnheit am Schluss auch der Bundestag beauftragt, dann eben irgendwie einzuwirken. Man fühlt sich an die alten Tom & Jerry Comics erinnert, in denen der Protagonist über einen Abgrund rast und in der Luft im leeren Raum noch eine Zeit lang einfach weiter rennt, erst mit dem Blick nach unten realisiert er, dass da eigentlich gar nichts ist. Vielleicht sollte die Senatsmehrheit einmal den Blick nach unten richten.

Auf der Argumentationsebene stimmen insgesamt verschiedene Dinge nicht. Sogar in den Kategorien, die sich das BVerfG selber gebastelt hat – Laubsägearbeiten, wie Bernhard Wegener das treffend genannt hat – wäre ja nach der Honeywell-Entscheidung eine strukturelle Kompetenzverschiebung weg von den Mitgliedstaaten zur EU durch einen Akt auf europäischer Ebene erforderlich. Das soll hier vorliegen, wo es doch nur um eine Kompetenzausübungsregel geht, die doch eigentlich immer nur auf ihre Anwendung im Einzelfall überprüft werden kann? Wo das Gericht doch selber davon ausgeht, dass man das gleichsam „heilen“ kann, binnen drei Monaten? Und was genau geht den Mitgliedstaaten da an Kompetenz eigentlich strukturell verloren?

8. Das Urteil ist im unheilvollen Sinne sehr deutsch. Und schadet damit der deutschen Europapolitik.

Man kann es nicht anders sagen: Die aus etlichen Passagen der Urteils strömende Juristenhybris, die jedem Juristen vertraute Grenzen der eigenen Kundigkeit souverän außer Acht lassende Selbstüberschätzung – hier im Hinblick auf die ökonomischen Zusammenhänge – und die belehrende Attitüde („wir erklären dem EuGH mal wie das geht mit der Verhältnismäßigkeit“) bis hin zur vereinzelten Brutalität in der Sprache („Willkür“) wird im Rest Europas als sehr deutsch wahrgenommen werden.

Das wird den Interessen Deutschlands in der Europäischen Union sehr schaden, weil Deutschland nach der ganzen Vorgeschichte des letzten Jahrhunderts ohnehin unter Hegemonieverdacht steht. Stark verkürzt: Man hat nicht die deutschen Besatzer weggekämpft und den Krieg gegen Deutschland gewonnen und danach den Deutschen unter gewissen Vorgaben der Verpflichtung auf europäische Zusammenarbeit und Friedlichkeit gestattet, ihren Staat wieder aufzubauen, um sich dann doch von den Deutschen vorschreiben zu lassen, wie man zu leben hat, wohin man seine Staatsausgaben lenkt, usf.

Die deutsche Perspektive ist auch ganz konkret ein methodisch-handwerkliches Kernproblem der ganzen Argumentationsanlage des BVerfG: Im Kern wird ja der unzureichende Verhältnismäßigkeitstest der EZB beanstandet, übrigens in einem Zusammenhang, in dem die deutsche Verfassungsordnung normalerweise nie Verhältnismäßigkeitsüberlegungen anstellen würde. Unter dem Grundgesetz geht es bei Verhältnismäßigkeit um Grundrechtseingriffe. Den Verhältnismäßigkeitstest nimmt man dann einfach selber vor. In die erforderliche Abwägung der in Rede stehenden Abwägungsgüter fließt dann natürlich nur das ein, was aus der Karlsruher Froschperspektive in Sichtweite ist. Vielleicht hat man andernorts aber ganz andere Sorgen als die Sparguthaben und die Immobilienpreise, die die Richter ins Spiel bringen. Und natürlich ist es eine grotesk abwegige Vorstellung, dass die EZB bei ihren Maßnahmen keine Überlegungen zu den möglichen Folgen anstellt. Es ist aber die europäische Perspektive mit vielen unterschiedlichen Aspekten und Interessen und letztlich die Orientierung an einem europäischen Gemeinwohl, die für die EZB maßgeblich sind.

9. In Polen knallen die Sektkorken.

Mit die verheerendste Folge des Urteils ist, dass es jede Menge „Textbausteine“ liefert (so hat Stephan Detjen es formuliert), die überall dort dankbar genutzt werden dürften, wo man sich den Verpflichtungen aus dem Unionsrecht entziehen will. Zwar versucht der Senat in seinem ersten Leitsatz noch schwächlich die grundsätzliche Bindung an das Europarecht in der Auslegung durch den EuGH zu versichern. Aber die Textbausteine die man in Polen, Ungarn und anderswo nutzen wird, das sind die, die vom letzten Wort der nationalen Verfassung handeln und insbesondere von der Letzt­entscheidung über den EuGH. Man muss sich nicht an EuGH-Urteile halten, das ist die Botschaft. Nun sind die entsprechenden Textbausteine zwar überwiegend nicht ganz neu (siehe oben, jahrzehntelange Laubsägearbeiten) und wurden auch bisher schon in Warschau und anderswo fleißig und selektiv zitiert.

Genau deswegen aber kann man dem Zweiten Senat vorwerfen, dass er genau wissen konnte, wie diese Entscheidung instrumentalisiert werden würde. Aus Sicht der demokratischen und rechtsstaatlichen Kräfte, der Kollegen insbesondere, in all diesen Ländern ist man ihnen damit sehenden Auges in den Rücken gefallen.

10. Das Urteil richtet sich vor allem gegen den Gerichtshof der Europäischen Union. Der Krieg der Richter findet jetzt doch statt.

Die Folgen für das PSPP sind überschaubar, die EZB könnte sich ohnedies achselzuckend wieder den eigentlichen Fragen zuwenden. An die EZB reicht das BVerfG letztlich nicht heran.

Aber für den EuGH ist das Urteil hochgefährlich und der EuGH ist auch der eigentliche Adressat der Entscheidung. Vom Kooperationsverhältnis zum EuGH, ein großes Wort aus dem Maastricht-Urteil, ist gerade mal noch ein Adjektiv übrig geblieben. Und der Sache nach ist das eine Kriegserklärung an den EuGH. Mit der Einladung an andere mitgliedstaatliche Gerichte, es ebenso zu tun. Dies war schon in der Vergangenheit eine irritierende Komponente der Ultra vires-Laubsägearbeit: Immer wieder hat das BVerfG insinuiert, dass der Ultra vires-Vorbehalt mehrheitlich auch in anderen Mitgliedstaaten besteht. Und das stimmt so nicht.

Entsprechend drohen Verwerfungen nicht nur im Verhältnis EuGH-Mitgliedstaaten, sondern auch horizontal, zwischen den nationalen Höchstgerichten.

Worauf sich diese zwischen den Zeilen des Urteils spürbare und in der mündlichen Verhandlung greifbare Wut und Aggression gegen den EuGH genau gründet, ist schwer zu fassen. Sicherlich war die Vorlageantwort des EuGH an manchen Stellen knapp, aber das ist der EuGH-Stil. Eigentlich kennt man sich doch. Der Präsident des BVerfG Voßkuhle ist sogar Mitglied des Gremiums nach Art. 255 AEUV, das die Bewerbungen für EuGH-Richterstellen sichtet. Was atmosphärisch sowie zwischenmenschlich in den gelegentlichen Begegnungen der Gerichte passiert, ist nicht bekannt. Vielleicht war es schlicht so, dass man im Zweiten Senat sauer war, dass der EuGH bei der historisch ersten Vorlagefrage an den EuGH in Sachen OMT die Fragen nicht so beantwortete, wie es das BVerfG gerne gehabt hätte und eigentlich in seinen Fragen auch diktiert hatte. Also stellte man mehr oder weniger die gleichen Fragen in der PSPP-Vorlage nochmals, aber der EuGH hat sich nicht beirren lassen und wieder seine eigenen Antworten gegeben. Das wollte man nun bestrafen. Wenn es so war, dann hätte es etwas von Kindergarten. Das Urteil vom 5.5.2020 ist auch ein Ausdruck großer richterlicher Egos. Wahrscheinlich an verschiedenen Orten.

La guerre des juges aura lieu: Der EuGH wird auf diese Kriegserklärung antworten müssen. Dies setzt freilich voraus, dass es ein entsprechendes Verfahren gibt. Die nüchterne europarechtliche Analyse ergibt, dass das BVerfG mit seinem Urteil vom 5.5.2020 gegen die Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 19 EUV verstoßen hat, auch wenn der Tenor des Urteils das kaschiert. Auch eine Verletzung der Vorschriften zur Sicherung der Unabhängigkeit der EZB kommt in Betracht, ruft das BVerfG doch die Bundesregierung und den Bundestag zur Einwirkung auf die EZB auf. Entsprechend wird die Europäische Kommission die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens prüfen. Wenn die Vorverfahren nicht zu einer Klärung führen droht eine Verurteilung Deutschlands wegen Vertragsverletzung. Das Argument, dass die Gerichte unabhängig sind, spielt dabei keine Rolle. Es hat zwar früher die Kommission davon abgehalten, Vertragsverletzungen durch Gerichte bis zum Schluss zu verfolgen und man hat es bei Mahnschreiben belassen. Seit einiger Zeit werden aber sehr wohl sogar große Mitgliedstaaten verklagt, wenn deren Gerichte das Europarecht verletzen Ein jüngeres Beispiel ist die Verurteilung Frankreichs 2018 wegen eines Urteils des Conseil d’Etat (Rs. C-416/17, Accor).

Hält die Vertragsverletzung an, beispielsweise durch eine Bestätigung der Rechtsprechung, kann ein Zwangsgeld verhängt werden. Die Beseitigung der Vertragsverletzung könnte beispielsweise so erfolgen, dass dem BVerfG durch Änderung des BVerfGG oder sogar des Art. 88 GG explizit die Jurisdiktion über die EZB untersagt wird oder allgemeiner die an sich selbstverständliche Pflicht zur Befolgung von Urteilen des EuGH im deutschen Recht ausdrücklich verankert wird. Dann blieben zwar noch über die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG Winkelzüge möglich, aber man hätte doch einiges getan, um die Vertragsverletzung abzustellen. Daneben kommen als Verfahren, die das Ganze zum EuGH bringen, auch Staatshaftungsverfahren vor den deutschen Zivilgerichten in Betracht, mit denen man wegen eines Schadens, der auf die qualifizierte Verletzung des Europarechts durch das BVerfG – die Nichtbeachtung der Vorlageentscheidung des EuGH – kausal zurückgeht, die Bundesrepublik Deutschland verklagt.

Das Vertragsverletzungsverfahren wäre in der Rechtsgemeinschaft der unaufgeregte, zivilisierte und deswegen richtige Weg: Das BVerfG bricht die Regeln, dann müssen wir dem im dafür vorgesehenen Verfahren nachgehen. An der Kooperation der Gerichte führt aber letztlich kein Weg vorbei, das zeigen alle Erfahrungen mit vergleichbaren Machtkämpfen zwischen Gerichten etwa in den USA des 19. Jahrhunderts.

Was auf dem Spiel steht ist die europäische Rechtsgemeinschaft. Sie ist noch immer ein enorm fragiles Konstrukt, weil sie nicht von einem Nationalstaat unterlegt ist, der zusätzliche Bindungskräfte erzeugt. Ihre zentralen Komponenten sind der EuGH als im historischen und weltweiten Vergleich einmaliges überstaatliches Gericht und das wechselseitige Vertrauen aller Gerichte in der Europäischen Union darin, dass Urteile im Rahmen des Europarechts insbesondere durch die Gerichte befolgt werden.

Wenn das wegbricht, dann droht der Absturz in eine Art richterliches Faustrecht: Das Recht des stärkeren Gerichts. Das wird sich entlang der Parameter von Größe, Macht, politischem Einfluss und ökonomischem Gewicht des jeweiligen Mitgliedstaats ausrichten. Und dann wäre die zentrale Idee der europäischen Integration, Friedlichkeit in Europa durch Recht in Rechtsgleichheit, zerstört.

Prof. Dr. Franz C. Mayer ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Bielefeld.

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