Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 236: Der Streit um die Anleihekäufe der EZB

Ein Urteil, das viel Wirbel hervor­ge­rufen hat

vorgänge09/2022Seite 79-86

Die EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stieß in Deutschland auf viel Kritik (exemplarisch dafür der Beitrag von Franz C. Mayer in diesem Heft). Gegen diese Vorwürfe verteidigt Ingeborg Schellmann im Folgenden die Entscheidung als eine maßvolle Reaktion. Sie knüpfe in ihrer Prüfung auf mögliche Kompetenzübertretungen durch die EU an die bisherige Rechtsprechung an, erkenne durchaus den Anwendungsvorrang und die Einheitlichkeit des Unionsrechts an, insistiere aber auf der Einhaltung der geltenden Kompetenzordnung und rechtsstaatlicher sowie demokratischer Standards in der Europäischen Union.

 

Ein Besuch des Guten Willens

Am 19. Oktober 2020 besuchte eine Delegation des EuGH unter Leitung des Präsidenten Prof. Dr. Koen Lenaerts das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. Der Besuch hatte diesmal ein besonderes Gewicht, haben sich doch die Richter des BVerfG mit den Richtern des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einige Monate zuvor in die „Perücken“ gekriegt – wie Le Monde Diplomatique ironisierte. Das BVerfG hatte in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 über das Staatsanleiheankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) dem EuGH und der EZB die „rote Karte“ gezeigt und der Bundesbank untersagt, sich an dem Staatsanleiheankauf der EZB im Rahmen des PSPP zu beteiligen, ehe nicht die EZB ihre bisherige Entscheidung zur Frage der Verhältnismäßigkeit präzisierte. Dies anzuregen, wurden die Bundesregierung und der Bundestag verpflichtet. Inzwischen ist dies nach Auffassung des Bundestags geschehen.

Die Themen des Richtergesprächs am 19. Oktober 2020 kreisten wie auch bei  früheren gemeinsamen Gesprächen der Gerichte um die Frage des Verhältnisses zwischen dem EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), dem EuGH und dem BVerfG, um die Frage der gemeinschaftsrechtlichen Bindung und der mitgliedstaatlichen Gestaltungsräume sowie um Grundfragen der Kompetenzordnung; nur dürfte das Klima auf Grund des zuvor ergangenen Urteils angespannt, wenn nicht gereizt gewesen sein.

Mit dem Urteil vom 5. Mai 2020 hatte sich das Bundesverfassungsgericht in die Nesseln der Machtpolitik gesetzt. Die Reaktion der Öffentlichkeit war so heftig wie nie zuvor. Nicht nur die Entscheidung selbst, auch die Wortwahl rief Unmut hervor. Von Respektlosigkeit, Arroganz  und Vertragsverletzungen war die Rede, von deutscher Hegemonie und Hybridität und vom „deutschen Wesen, an dem die Welt genesen“ soll.

Ökonomen sprachen von mangelnder Kompetenz des Gerichts in wirtschaftlichen Fragen, Verfassungsrechtler nannten die Richter des BVerfG „Souveränitisten“ mit mangelndem Integrationswillen und warfen ihnen Missachtung des Anwendungsvorrangs europäischen Rechts vor, Politiker sprachen von fehlender politischer Verantwortung, da das Gericht die politische Wirkung auf Separationisten wie Ungarn und Polen vorher hätte bedenken müssen. Selbst Verfassungs- und Europarechtler im Professorenrang äußerten sich vor dem Europaausschuss des Bundestags politisch kritisch und beschränkten sich nicht auf eine rein rechtliche Stellungnahme . Die Financial Times meinte, dass das deutsche Gericht ein „Bombe unter die europäische Rechtsordnung“ gelegt habe. Und Le Monde Diplomatique stellt mit heimlichem Vergnügen fest, dass sich die „Weisen“, die Seraphinen und Unabhängigen (Richter) in die „Perücken“ gekriegt haben. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wurde in Erwägung gezogen. Selbst vor einer möglichen Beschneidung der Entscheidungskompetenz des BVerfG schrak man nicht zurück.

Stein des Anstoßes – das Urteil des EuGH vom 16. Juni 2015

Jede Verurteilung verlangt die Prüfung des gesamten Sachverhalts. Prima Vista steht das Urteil des BVerfG im Raum. In Kürze gesagt, nannte das BVerfG die Entscheidung des EuGH methodisch nicht vertretbar, objektiv willkürlich, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde funktionslos angewandt und das Gericht bewirke die Gefahr der kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten. Eine Sprache, die als rüde und EU-unfreundlich kommentiert wurde.

Ein Blick auf das Urteil des EuGH

Die Entscheidung des BVerfG ist eine Reaktion, weshalb sich der Blick auch auf den Ausgangspunkt, nämlich das Urteil des EuGH richten sollte – ein Blick, der in der medialen und politischen Öffentlichkeit unterblieb.

Der EuGH war am 14. Januar 2014 vom BVerfG nach Art. 267 AEUV gebeten worden, vorab zu entscheiden, ob die Beschlüsse des Rates der EZB vom 6. September 2012 hinsichtlich des Aufkaufs von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt gültig seien und ob sie nicht gegen Art. 123 EUV (Verbot der Staatsfinanzierung), sowie gegen Art. 125 AEUV (Verbot der Haftung der Mitgliedstaaten untereinander) verstoßen würden und ob nicht die EZB ihre gem. Art. 127 und Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der EZB gesetzte Kompetenz, währungspolitisch nicht aber wirtschaftspolitisch tätig zu werden, überschreite.

Der EuGH verneinte die Bedenken und entschied, dass die EZB und das Europäische System der Zentralbanken durch den EUV und den AEUV sowie die Satzung des ESZB und der EZB ermächtigt sei, „ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie dasjenige zu beschließen, das in der Pressemitteilung angekündigt wurde, die im Protokoll der 340. Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) am 5. und 6. September 2012 genannt ist.“

Das BVerfG antwortete am 5.5.2020: Das Recht, Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen, stellte es nicht in Frage, forderte allerdings Nachbesserung in der Begründung und untersagte der Deutschen Bundesbank, sich an dem Aufkaufprogramm zu beteiligen, solange die Begründung durch die EZB nicht erfolgt sei, wofür es eine Frist von drei Monaten setzte. Im Ergebnis eine moderate Entscheidung, bedenkt man, dass das Gericht ein grundsätzliches Beteiligungsverbot hätte verhängen können, da es – wie sich aus dem Urteil ergibt – die Kompetenz der Mitgliedstaaten als berührt bejahte.

Trotzdem breitete sich Unmut aus. Unmut über das Verbot der Beteiligung der Bundesbank und Unmut über die Wortwahl sowie über die Begründung und vor allem darüber, dass das BVerfG sich dem EuGH entgegenstellte.

Die Wortwahl „methodisch nicht nachvollziehbar“ oder „methodisch nicht vertretbar“ und „objektiv willkürlich“ ist rechtlich definiert und nicht richtend oder gar brandmarkend zu verstehen. In früheren Entscheidungen, insbesondere im Honeywell–Urteil vom 6. Juli 2010 hatte sich das Gericht selbst Grenzen der Kompetenzprüfung gesetzt. Eine sogenannte Ultra-Vires-Kontrolle räumte sich das Gericht nur dann ein, wenn Handlungen oder Entscheidungen von EU-Organen objektiv willkürlich, d.h. die Kompetenzüberschreitung offensichtlich sei, und wenn eine strukturell bedeutsame Verschiebung zu Lasten der mitgliedstaatlichen Kompetenz die Folge wäre. Die Kritik an der Wortwahl offenbart mangelnde Kenntnis und ein oberflächliches Urteilen der Kritiker.

Die Lektüre der EuGH-Entscheidung rechtfertigt die Feststellung einer objektiven Willkür. Die Prüfungsmaßstäbe, die der EuGH der EZB zubilligt, sind mit allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen – auch wenn die Maßstäbe nicht an deutschen Rechtsgrundsätzen gemessen werden – kaum vereinbar.

Der EuGH bejaht zunächst eine Begründungspflicht des EZB-Rats (Art. 296 Abs. 2 AEUV), stellt dann aber fest, dass die Beschlüsse des EZB-Rats keine Gründe für das PSPP enthalten würden, wohl aber Erwägungen für seine Entscheidung, und ließ dies genügen. Eine umfassende Begründungspflicht bestünde nicht, wenn es sich um einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung handle. Die Begründung könne sich auch aus dem Kontext und aus sämtlichen Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln, ergeben. Die Begründung werde durch andere Dokumente ergänzt, als da seien: wirtschaftliche Analysen, verschiedene Optionen des EZB-Rats, Presseerklärungen, einleitende Bemerkungen des EZB-Präsidenten auf Pressekonferenzen mit Antworten auf die Fragen der Presse und Zusammenfassungen der geldpolitischen Sitzungen des EZB-Rats.

Die Begründung einer Entscheidung außerhalb der Entscheidung selbst zu suchen, widerspricht Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit. Das BVerfG hat diese ungewöhnliche Begründungsmethode nicht weiter gerügt, wohl aber die Prüfungsmaßstäbe.

Im Wesentlichen konzentrierte sich die Kontroverse auf die Frage der Verhältnismäßigkeit und die Frage des Verhältnisses von Währungspolitik und Wirtschaftspolitik, wobei der EuGH meinte, dass die Verträge eine Trennung dieser Bereiche nicht vorsehen, was wiederum das BVerfG im Hinblick auf die Einzelermächtigung und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Wirtschaftspolitik nicht gelten ließ.

Methodisch nicht hinnehmbar war für das BVerfG, dass nach Auffassung des EuGH die mittelbaren Folgen wirtschaftspolitischer Art unbeachtlich seien, insbesondere dann, wenn sie zum Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts vorhersehbar waren. Nach Auffassung des EuGH komme es allein auf die Zielsetzung an, die einem Akt währungspolitischen Charakter zuweise. Das BVerfG rügt dies und die Tatsache, dass der EuGH Behauptungen der EZB einfach hinnehme und er sich im Widerspruch zu seiner früheren Rechtsprechung setze, wenn er mittelbare Folgen als irrelevant beurteile, während dies gerade in anderen Fällen relevant war.

Besonderen Unmut rief – so der Eindruck von Beteiligten am mündlichen Verfahren – hervor, dass der EuGH die Frage, ob das Verbot der Haftung für andere Mitgliedstaaten dadurch verletzt werden würde, wenn einzelne Mitgliedstaaten zahlungsunfähig zu werden drohten und die Gemeinschaft gefordert werden könnte, als bloße hypothetische Annahme verwarf und nicht beantwortete.

Dem Anspruch des EuGH, Vorabentscheidungen ohne Wenn und Aber hinzunehmen, stellte sich das BVerfG mit dem Hinweis auf seine Pflicht, die Verfassungsidentität gem. Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG zu wahren, entgegen.

Der EuGH beansprucht ein uneingeschränktes Recht, die Einheit des Rechts der EU zu wahren (Art. 19 EUV), demgegenüber verweist das BVerfG auf die bei den Mitgliedstaaten verbliebene Souveränität. Ein Konflikt, der unlösbar ist, da der Ausgangspunkt kein gemeinsamer ist. In einem Fall ist Referenzpunkt die Einheit des Rechts der EU, im anderen Fall die Wahrung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten. Letzteres hat im Hinblick auf die rechtliche Gestaltung der EU, weder Bundesstaat noch Staatenbund zu sein, sowohl rechtliches als auch politisches Gewicht vor dem Grundsatz der Einheit des EU-Rechts.

Zu Recht weist deshalb das BVerfG darauf hin, dass das Recht des EuGH, Unionsrecht auszulegen (Art. 19 EUV) nicht unbegrenzt, sondern durch die verbliebene Souveränität der Mitgliedstaaten begrenzt ist und dass es mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar ist, wenn die Organisation, die den Rechtsakt erlässt, auch die rechtliche Kontrolle in Anspruch nimmt.

Sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch aus EU-rechtlicher Sicht ist das Urteil des BVerfG methodisch und materiell-rechtlich anzuerkennen.

 

Zur Loyalität des BVerfG gegenüber der EU

Das BVerfG bekennt sich eindeutig zur EU-Rechtsfreundlichkeit und EU-Loyalität. Es erklärt:

„Die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts einschließlich der Bestimmung der dabei anzuwendenden Methode ist zuvörderst Aufgabe des Gerichtshofs (EuGH), dem es gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV obliegt, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren.“ (Rn. 112)

Allerdings führt es aus, dass die Rechtsprechung des EuGH auf den gemeinsamen Rechtstraditionen der höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten beruhe. Und grenzt dann wieder ein, dass das BVerfG Entscheidungen des EuGH auch dann zu akzeptieren habe, wenn gewichtige Argumente dagegen stehen, der EuGH allerdings anerkannte methodische Grundsätze berücksichtigt.

Liest man das Urteil, so kann man nicht umhin, als anerkennen, dass das BVerfG dem EuGH und dem EU-Recht jeden erforderlichen Respekt zollt. So heißt es:

„Wenn jeder Mitgliedstaat ohne Weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet.“

Es führt dann allerdings aus:

„Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe.“ (Rn. 111)

Insgesamt bekennt sich das BVerfG unzweideutig zu Kooperation und Rücksichtnahme. Soweit es die Bundesregierung und den Bundestag auffordert, alles zu unternehmen, um die Kompetenzordnung wiederherzustellen, beschränkt es sich auf sein Hausrecht und die nationalen Grenzen. Das gilt auch für die Anweisung an die Bundesbank, für den Fall, dass die EZB nachfolgende Begründungen nicht beibringt, sich nicht am Aufkaufprogramm zu beteiligen.

Wenngleich es eine Kompetenzverletzung bejaht, hat es zugleich den Weg der Kooperation und des Austauschs eröffnet, indem es eine nachfolgende Begründung durch die EZB forderte. Es hat weitere Möglichkeiten angesprochen, nämlich die Möglichkeit, dass der Bundestag weitere Kompetenzen auf die EU überträgt, in dem es darauf hinwirkt,  dass der Europäische Vertrag geändert wird.

Das Verhältnis von Recht und Politik

Das BVerfG hat in rechtlicher Hinsicht seine positive Integrationsverpflichtung unumwunden bestätigt, andererseits seiner negative Integrationsverpflichtung Rechnung getragen.

Der Begriff „Integrationsverantwortung“ geht auf das Lissabon-Urteil zurück. Er bündelt – positiv – das Gebot der Mitwirkung an guter Europapolitik und – negativ – das Verbot der Mitwirkung an rechtswidriger Europapolitik, was bedeutet, dass die mitgliedstaatliche Demokratie im Europäisierungssog nicht erodieren darf.

„Ultra-Vires-Akte und Beeinträchtigungen der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität haben am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht teil. Da sie in Deutschland unanwendbar sind, entfalten sie für deutsche Staatsorgane keine Rechtswirkungen. Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder an ihrem Zustandekommen noch an ihrer Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung mitwirken“ (so die Vorlage des BVerfG an den EuGH).

Ein Gebot der Einheit des Unionsrechts ist nur solange wirksam, als die Ewigkeitsgarantien des Grundgesetzes und damit seine Verfassungsidentität nicht beschädigt sind. Eine Erosionsgefahr kann schließlich einen politisch motivierten Rückzug eines oder der Mitgliedstaaten aus der Rechtsgemeinschaft nach sich ziehen. Das BVerfG hat diese Haltung in verschiedenen Entscheidungen seit dem Maastricht-Urteil 1993 wiederholt zum Ausdruck gebracht, so dass die nunmehrige Entscheidung vom 5. Mai 2020 nicht überrascht. Das BVerfG hat Recht und Politik in einen rechtlich-dogmatisch konsistenten Zusammenhang gebracht.

Die Kritik fordert demgegenüber den Vorrang des Politischen gegenüber dem Recht, nämlich den Vorrang des Integrationsziels der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 S. 2 EUV), und eröffnet damit ein Feld, das von wechselhaften politischen Kräfteverhältnissen gestaltet wird und die Verbindlichkeit des Rechts zunehmend erodieren lässt.

Dem widersetzt sich das BVerfG unter Berufung auf das Grundgesetz und seiner Festlegung der Ewigkeitsgarantien, wie dem demokratischen Prinzip, dem Rechtsstaat, dem Sozialstaat, dem Föderalismusprinzip und der Würde des Menschen. Die für das BVerfG unüberwindbaren Grenzen sind den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus geschuldet, insbesondere dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, und erklären die historische Verpflichtung und die unnachgiebige Haltung des BVerfG, unabhängig von der Frage, in welchem Verhältnis Recht und Politik grundsätzlich zu verorten sind.

Im europäischen Rechtsdiskurs werden gerade im Zusammenhang mit dem Urteil des BVerfG Stimmen laut, die Deutschland nunmehr auch auf der rechtlichen Ebene einen hegemonialen Habitus entgegenhalten. Das ist nur ein weiterer Ansatz, der Verwirklichung der EU zu einer „engeren Union der europäischen Völker“ (Art. 1 EUV) den Vorrang gegenüber dem Grundsatz der Achtung der nationalen Identität-der Mitgliedstaaten und ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen (Art. 4 Abs. 2 EUV) einzuräumen. Die Verfassungsvielfalt der EU und die Letzt-Souveränität der Mitgliedstaaten werden damit in Frage gestellt.

Das BVerfG erhebt keinen hegemonialen Geltungsanspruch, da es nicht für die übrigen Mitgliedstaaten spricht, sondern sich auf seinen nationalen Geltungsbereich beschränkt und insoweit von seinem „Hausrecht“ Gebrauch macht und deshalb auch nur den eigenen nationalen Institutionen, wie der Bundesbank, dem Bundestag sowie der Bundesregierung, Anweisungen erteilt.

Bei aller Aufregung sollte nicht vergessen werden, dass es die Politiker, d.h. die Regierungen der Mitgliedstaaten, waren, die den Konflikt heraufbeschworen hatten. Sie waren es, die die notwendige Loyalität vermissen ließen, als sie sich im Europäischen Rat nicht auf ein gemeinsames Hilfsprogramm einigen konnten. Die ihnen eigene Aufgabe auf die EZB und schließlich auf die Gerichte zu verlagern, bezeugt das Versagen der Politik.

Die EZB, der EuGH und das BVerfG haben nur aus der ihnen eigenen Logik und Zuständigkeit geantwortet, wobei die EZB mit Unterstützung des EuGH das Zepter des politischen Handelns in die Hand nahm, was wiederum das BVerfG auf den Plan bringen musste, da beide Institutionen den rechtlichen Rahmen überschritten.

Die profunde und rechtsdogmatisch einwandfreie Begründung der Entscheidung des BVerfG führt die Diskussion über das Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten auf den durch die Verträge gesetzten rechtlichen Rahmen zurück und eröffnet ein Gespräch auf der Basis der Verträge. Es stellt die Parität der EU einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits wieder her.

Sich auf die Rechtsordnung berufend hat es die Richtung für eine Integration vorgegeben, die sich an demokratischen Grundsätzen und am Recht orientiert. Wer die rechtsstaatliche Seite der Integration ignoriert und allein die politische Zielrichtung als verbindlich ansieht, verlässt den Boden der rechtlichen Bindung und macht den Weg frei für politische Willkür, die tagtäglich wechseln und in eine Richtung weisen kann, die von den Kritikern heute sicher nicht gewünscht ist. Politische Zielsetzungen sind für die EU keine ausreichende Legitimation, sondern in erster Linie Motivation für gemeinschaftsorientiertes Handeln. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft, die gem. Art. 4 EUV die verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten achtet. Auch für sie, d.h. hier für den EuGH, gilt das Gebot der „loyalen Zusammenarbeit“ (Art. 4 Abs. 3 EUV).

 

Ingeborg Schellmann   ist Juristin und Mitglied von Attac Deutschland.

 

 

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