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Deutscher Pazifismus mitver­ant­wort­lich für den Ukrai­ne-­Krieg?

vorgänge09/2022Seite 123-127

Mit dem Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begann ein Krieg, der bis vor kurzem in Europa als undenkbar galt. Schon heute wird dieses Datum als Zeitenwende und Ende einer weitgehend friedlichen Ära in Europa bezeichnet. Und obwohl der Aggressor – Russland – weitgehend unbestritten feststeht, begannen schon kurz nach Kriegsbeginn in Deutschland hitzige Diskussionen darüber, inwiefern eine deutsche Gutgläubigkeit (bezüglich der russischen Absichten) bzw. ein deutscher Pazifismus (von Teilen der deutschen Politik) an dieser Situation mitverantwortlich sei. Im folgenden Kommentar nimmt Ute Finckh-Krämer als langjährige Friedenspolitikerin dazu Stellung.

Je länger der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dauert, je mehr Kriegsverbrechen der angreifenden Truppen bekannt werden, desto mehr verengt sich die deutsche Debatte auf Waffenlieferungen. Dabei wird nicht mit Schuldzuweisungen an die SPD, die Friedensbewegung und die Friedensforschung gespart. Dass trotz einer massiven Aufrüstung der Ukraine durch diverse NATO-Staaten (wenn auch nicht durch Deutschland) der russische Präsident Wladimir Putin glaubte, mit einem Angriffskrieg die Ukraine unterwerfen zu können, liegt nach Meinung diverser Kommentator*innen offensichtlich hauptsächlich an der ablehnenden Haltung zu Waffenlieferungen seitens der SPD und der Friedensbewegung. Auch eine kritische Haltung zu einer massiven Erhöhung der Rüstungsausgaben stößt im Lichte einer möglichen Bedrohung Moldaus, der baltischen Staaten, Polens und Georgiens auf Unverständnis.

Die FDP und große Teile der Grünen sind schnell auf diesen Zug aufgesprungen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird eine zu große Nähe zu Putin unterstellt. Er habe, so die Kritik, die Ukraine nie wirklich als eigenständigen Staat angesehen und nie deren Interessen mitbedacht. Doch ein Blick in jedes beliebige Zeitungsarchiv genügt zur Vergewisserung, dass Frank-Walter Steinmeier als Außenminister einiges getan hat, um die Ukraine zu unterstützen. So reiste er am 20. Februar 2014 zusammen mit seinem französischen Kollegen Laurent Fabius und seinem polnischen Kollegen Radoslaw Sikorski nach Kiew, um angesichts der eskalierenden Gewalt auf dem Maidan ein Ende der (innerukrainischen) Gewalt und ein Abkommen zwischen dem damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und der überwiegend friedlich protestierenden Opposition zu erreichen. Das Abkommen konnte zwar durch die Flucht Janukowytschs nach Russland nicht in der verhandelten Form umgesetzt werden, die Gewaltspirale aber war erfolgreich durchbrochen. Auch in den Verhandlungen im so genannten Normandie-Format ab Sommer 2014, an denen Frankreich, Deutschland, die Ukraine und Russland beteiligt waren, konnte weder Frank-Walter Steinmeier noch Bundeskanzlerin Angela Merkel oder dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande eine Parteinahme zu Gunsten Russlands vorgeworfen werden. Der fragile Waffenstillstand im Donbass wurde von einer unbewaffneten Monitoring Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwacht. Frank-Walter Steinmeier konnte sich dabei mit seinem Vorschlag durchsetzen, dass Deutschland 2016 den OSZE-Vorsitz übernimmt, womit alle anderen OSZE-Staaten (unter anderem sämtliche NATO-Staaten, die Ukraine und Russland) einverstanden waren.

Seit Ende der 1990er Jahre waren Teile der Friedensbewegung und der Friedensforschung besorgt, weil die USA sich als einzig verbliebene Großmacht sahen und wichtige Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollabkommen nicht ratifizierten oder sogar kündigten. Diese Warnungen blieben aber wegen der öffentlichen politischen Auseinandersetzungen um den Kosovokrieg und dann um den Afghanistan-Einsatz in der Folge der Terroranschläge vom 11.9.2001 weitgehend unbeachtet.

Nun lässt sich die Geschichte nicht zurückdrehen um auszuprobieren, wie sie sich entwickelt hätte, wenn innerhalb Europas und zwischen den USA und Russland die Abrüstungspolitik der frühen 1990er Jahre konsequent fortgesetzt und durchgehalten worden wäre. Dass Putin bereit war, wie sein Vorgänger Boris Jelzin militärische Gewalt im eigenen Land einzusetzen, hatte er mit dem zweiten Tschetschenienkrieg gezeigt. Es wird sich vermutlich auch nie genau klären lassen, wann Putin den Entschluss gefasst hat, einen Angriffskrieg auf die Ukraine zu führen und welche der vielen Begründungen, die er dafür abwechselnd anbietet, für ihn den Ausschlag gegeben haben. Daher war es richtig und wichtig, die Gründe für den Krieg und dessen Ausweitung zu analysieren und zu überlegen, was zur Deeskalation der Kämpfe in der Ostukraine getan werden kann. Dazu rufen seit Jahren nicht nur die üblichen Verdächtigen aus der Friedensbewegung und diplomatisch erfahrene Menschen, sondern auch traditionelle Sicherheitspolitiker*innen auf. So äußerte der russische Sicherheitsexperte Dmitri Trenin am 29.01.2022 in einem Interview die Vermutung, dass die Entscheidung darüber, ob der russische Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine eine reine Drohgeste zum Erzwingen von Verhandlungen zwischen den USA und Russland bleiben oder in einen Angriff auf die Ukraine münden würde, noch nicht gefallen sei und von einem einzigen Mann getroffen werden würde. Er behielt mit seiner Vermutung recht, dass ein Krieg auch für Russland mit großen menschlichen und finanziellen Verlusten und erheblichen Risiken verbunden sein würde.

Auch wenn in einem Krieg Angreifende und Angegriffene feststehen, müssen wir die Eskalationsdynamik analysieren und überlegen, wie eigene Handlungen und Stellungnahmen sich darauf auswirken, anstatt einfach in allem der Regierung des überfallenen Staates recht zu geben und uns die Erklärungen seiner Regierung zu eigen zu machen. Wir können nicht davon ausgehen, dass in einem Krieg stets nur die Angreifenden lügen und die Angegriffenen immer die volle Wahrheit erzählen. Alle Mittel zur Verteidigung einzusetzen, die ein Staat zur Verfügung hat, heißt im Zweifelsfall eben auch, Desinformation oder das Verschweigen von Informationen einzusetzen. Auch Vertreter demokratisch gewählter oder kontrollierter Regierungen arbeiten gelegentlich mit diesen Mitteln. Die Tatsache, dass diejenigen, die die Ukraine gegen einen aggressiven Angreifer militärisch verteidigen und dabei – von vielen Sicherheitsexpert*innen unerwartet – erfolgreich Widerstand leisten konnten, heißt noch nicht, dass sie diesen Krieg durch einen militärischen Sieg für sich entscheiden können. Auch wenn die ukrainische Regierung versichert, dass sie das könnte; vor allem, wenn endlich auch Deutschland schwere Waffen liefert. Zu einem Verteidigungskrieg gehören nicht nur Waffen, sondern auch Soldat*innen, die sie einsetzen. Wir wissen mehr darüber, wie viele Zivilpersonen in der Ukraine schon gestorben sind, als wie viele Soldat*innen tot oder so schwer verletzt sind, dass sie nicht mehr eingesetzt werden können. Und auch wenn – erfreulicherweise – kein Land, auch nicht Belarus, bereit zu sein scheint, Russland in diesem Angriffskrieg durch Truppen zu unterstützen und es glaubwürdige Berichte darüber gibt, dass die Bereitschaft russischer Soldat*innen, in diesem Krieg ihr Leben zu riskieren, rapide sinkt, rechnen etwa die Expert*innen des US-amerikanischen Institute for the Study of War nicht damit, dass die ukrainische Armee weitere russische Vorstöße auf Dauer verhindern, geschweige denn alle seit dem 24. Februar besetzten Gebiete zurückerobern kann. Wer es als das Hauptziel ansieht, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt, nimmt einen langen, für beide Seiten verlustreichen Krieg in Kauf, der vor allem für die Ukraine mit umfassenden Zerstörungen und zahlreichen Toten und Verletzten in der Zivilbevölkerung verbunden ist. Daher ist es wichtig, alle Möglichkeiten zur schnellen Beendigung dieses Krieges auszuschöpfen.

Interessanterweise rufen nicht nur die üblichen Verdächtigen aus der Friedensbewegung, sondern auch namhafte Sicherheitspolitiker*innen dazu auf alles zu tun, um eine weitere Eskalation des Krieges zu verhindern und baldige Verhandlungen zu unterstützen. Dazu gehören z. B. die Politikwissenschaftler Johannes Varwick und August Pradetto sowie die pensionierten Generäle Erich Vad, Hans-Lothar Domröse und Helmut W. Ganser. Sie weisen darauf hin, dass mit der Dauer des Krieges die Gefahr wächst, dass die NATO zur vollen Kriegspartei wird und damit auch der Einsatz von Atomwaffen durch Russland nicht mehr auszuschließen ist. Deutschland könnte bei der Unterstützung eines deeskalierenden Verhandlungsprozesses als größter europäischer NATO-Mitgliedsstaat und als wirtschaftsstärkster EU-Staat eine wichtige Rolle spielen – wenn sich denn die politische Debatte nicht in der Diskussion um die Lieferung immer gefährlicherer Waffen an die Ukraine erschöpfen würde.

Was kann aus friedenspolitischer Perspektive getan werden? Am wichtigsten ist es, die Debatte wieder zu verbreitern, friedenslogisch statt kriegslogisch zu denken. So ist es sinnvoll darauf hinzuweisen, dass es – trotz wachsender politischer Repressionen in Russland – dort zahlreiche Proteste gegen den Krieg gab und gibt, dass Hunderttausende das Land verlassen haben, um nicht direkt oder indirekt an diesem Krieg beteiligt zu werden. Daher ist es falsch, alle Russ*innen als Feinde anzusehen und alle Kontakte zu Menschen in Russland abzubrechen. Besonderen Respekt verdienen in Deutschland lebende Russ*innen, die aus der Ukraine Geflüchtete unterstützen.

Gut zu wissen ist auch, dass es Menschenrechtsgruppen in dem mit Russland verbündeten Belarus mit geschickten Kampagnen bisher gelungen ist, die traditionelle Stimmung im Land gegen jeden Einsatz des belarussischen Militärs außerhalb des Landes zu mobilisieren, so dass der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko es – anders als von vielen Expert*innen vorausgesagt – nicht wagt, Soldat*innen in den Ukrainekrieg zu schicken. Wichtig ist zudem, dass diejenigen, die vor diesem Krieg fliehen, ob aus Russland, Belarus oder der Ukraine, hier aufgenommen werden und ein sicheres Bleiberecht bekommen. Dies gilt auch und gerade für diejenigen, die nach den Protesten gegen die Fälschung der Präsidentenwahl im August 2020 aus Belarus in die Ukraine geflohen sind und jetzt zum zweiten Mal fliehen müssen, sowie für alle Kriegsdienstverweigerer oder Reservisten aus allen drei Ländern. Die Behauptung, dass sämtliche Ukrainer, insbesondere alle Männer im wehrfähigen Alter, unter Einsatz ihres eigenen Lebens gegen die Invasionstruppen kämpfen wollen, kann übrigens nicht stimmen. Sonst gäbe es ja kein Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60, würden Männer dieser Altersgruppe nicht aus Zügen geholt und am Grenzübertritt gehindert.

Auch die Berichte über mutige Menschen in der Ukraine, die sich ohne Waffen den einrückenden russischen Truppen entgegenstellen und ähnlich wie die Tschech*innen 1968 zeigen, dass sie mitnichten wünschen, dass ihre aktuelle Regierung mit Gewalt von außen abgesetzt wird, sollten geteilt werden. Sie verdeutlichen, dass es nicht nur die Alternativen der militärischen Gegenwehr oder der Kapitulation gibt.

Am wichtigsten ist es aber, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es in diesem Krieg kaum Gewinner*innen, aber sehr viele Verlierer*innen, sehr viele Tote und Verletzte geben wird; Soldat*innen auf beiden Seiten, Zivilpersonen fast nur in der Ukraine. Umso mehr, je länger dieser Krieg dauert. Daher muss alles getan werden, um möglichst bald mit Verhandlungen zumindest einen stabilen Waffenstillstand zu erreichen. Deutschland sollte daher mit den anderen EU-Regierungen und der ukrainischen Regierung darüber beraten, wie Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unterstützt werden können.

 

Ute Finckh-Krämer   Diplom-Mathematikerin und Dr. rer. nat., war von 2013 bis 2017 SPD-Bundestagsabgeordnete und in dieser Zeit im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und in den Unterausschüssen für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln. Sie ist seit 45 Jahren in verschiedenen Organisationen friedenspolitisch aktiv.

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