Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 236: Der Streit um die Anleihekäufe der EZB

Editorial

Es gibt Gerichtsentscheidungen, die Geschichte schreiben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 über die Zulässigkeit von Anleihekäufen durch die Europäische Zentralbank (EZB) ist eine solche Entscheidung. Das Verfassungsgericht wertete – im offenen Widerspruch zu einer vorangegangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs – den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB als eine Kompetenzüberschreitung, die mit dem deutschen Grundgesetz (Art. 23 Abs. 1 sowie Art. 20 Abs. 1 und 2) unvereinbar sei. Die Entscheidung führte nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu kontroversen Diskussionen; die Europäische Kommission reagierte mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland auf den Urteilsspruch. Mit dem Inhalt dieser Entscheidung, ihren rechtlichen, ökonomischen wie europapolitischen Dimensionen befasst sich der Schwerpunkt dieser Ausgabe der vorgänge.

Um die Schärfe jenes Streits zu verstehen, der sich an der Karlsruher EZB-Entscheidung entfacht, ist es zunächst einmal wichtig, die verschiedenen „Botschaften“ zu erkennen, die in dem Urteil angelegt sind. Wir dokumentieren dazu einen Kommentar von Franz C. Mayer, den jener kurz nach der Urteilsverkündung im Verfassungsblog publizierte. Mayer benennt darin zahlreiche problematische Aspekte der Entscheidung: etwa die schulmeisterliche Kommentierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) durch das deutsche Gericht; die argumentativen Schwächen der Entscheidung; oder die Steilvorlage für nationalistische und populistische Bestrebungen in Polen und Ungarn, sich aus den europäischen Rechtsstandards zu verabschieden; die ökonomischen Widersprüche, in die sich das Urteil mit seiner apodiktischen Trennung von Wirtschafts- und Währungspolitik verstrickt; schließlich die kompetenzrechtliche „Kampfansage“ an den EuGH. Mayer geht dabei auch auf die Vorgeschichte der Entscheidung ein, einen seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt um den Anwendungsvorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem (Verfassungs-)Recht.[1] Die Schärfe, mit der dieser Konflikt geführt wird, rührt nicht zuletzt daher, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in den letzten Jahren nicht nur vom deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG), sondern auch von den Regierungen Polens und Ungarns in Frage gestellt wurde. Dort ging es allerdings um Mindeststandards für die rechtsstaatliche Unabhängigkeit der Justiz gegenüber der Regierung. Aus Gleichbehandlungsgründen hatte deshalb die Europäische Kommission kaum eine andere Wahl, als nach der Anleihekaufentscheidung des BVerfG auch gegen Deutschland vorzugehen.

Aus einer bürgerrechtlichen Perspektive ist bemerkenswert, dass sich die Grundsatzkonflikte zwischen EuGH und BVerfG seit Anfang der 2010er Jahre in ihrem Schwerpunkt verändert haben. Zuvor, seit der „Solange I“-Entscheidung des BVerfGs aus dem Jahr 1974[2], ging es meist um die Frage, ob die deutschen Grundrechte bei der Anwendung des Europarechts hinreichend geschützt sind – und ob europarechtliche Vorschriften nicht angewendet werden dürfen, wenn sie mit deutschen Grundrechten in Konflikt stehen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde im Jahr 2009 auch die EU-Grundrechtecharta verbindlich, womit sich der alte Streit um das Schutzniveau für die Grundrechte weitgehend erledigt hatte.

Seither gibt es mit der Reichweite der finanz- und währungspolitischen Kompetenzen der EU und der EZB ein neues Streitthema. Gegen die wichtigsten EU-Entscheidungen hierzu wurden regelmäßig Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG erhoben – die Anleihekauf-Entscheidung vom 5. Mai 2020 ist nur der vorläufige Schlusspunkt einer ganzen Serie von Entscheidungen. Die Beschwerdeführer*innen kommen zumeist aus EU-skeptischen Kreisen, wobei die Motive von nostalgischer Sehnsucht nach der guten alten Deutschen Mark bis zu Sorgen vor inflationären Tendenzen oder der Haftung für Schulden ärmerer, insbesondere südeuropäischer Mitgliedstaaten reichen. Die vorgänge-Redaktion hat den Verfassungsrechtler Andreas Fisahn (Universität Bielefeld), den Volkswirt Hansjörg Herr (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) und den Politikwissenschaftler Martin Höpner (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln) zu einem Streitgespräch eingeladen, in dem die Entscheidung vor dem gegenwärtigen Stand der europäischen Integration, vor den aktuellen währungs- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen sowie den globalen Krisen diskutiert wurde. In dem Gespräch bemühen sich die Beteiligten um eine ausführliche und differenzierte Auseinandersetzung mit der Gerichtsentscheidung, die auch die rechtlichen Alternativen, wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten und die politischen Möglichkeiten im Blick behält. Denn zumindest aus ökonomischer Sicht ist längst klar, dass es zu einer aktiven Anleihe- und Zinspolitik der EZB angesichts der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in den Mitgliedstaaten, der stark gestiegenen Inflation seit Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine und globaler Krisen wie der Corona-Pandemie kaum eine Alternative gibt.

Auf die ökonomischen Bedingungen, unter denen die EZB sich in den letzten Jahren zu zahlreichen Interventionen in Form eines Ankaufs von Staatsanleihen gezwungen sah, geht der Beitrag von Rainer Land ausführlich ein. Die Anleihe-Programme seien aus ökonomischer Sicht unumgänglich gewesen, um einzelne Mitgliedsstaaten vor einer Staatspleite (und damit den Euro) zu retten. Eine wesentliche Ursache für diese sich wiederholenden Krisen im Euro-Raum sieht Land in den Vertragsgrundlagen der EU, die zwar eine gemeinsame Währungs-, aber keine abgestimmte Lohn-, Sozial- und Wirtschaftspolitik vorsehen. Land beschreibt detailliert, wie unter solchen Bedingungen immer wieder Produktivitäts- und Handelsbilanz-Ungleichgewichte entstehen müssen, die sich seit der Einführung des Euro nicht mehr mit währungspolitischen Maßnahmen ausgleichen lassen. Aus ökonomischer Sicht sei die strikte Trennung zwischen fiskal- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, wie sie das BVerfG in seiner Entscheidung eingefordert habe, deshalb nicht nur unsinnig, sondern blende die wirtschaftlichen Realitäten des europäischen Binnenmarktes aus.

Nach dieser umfassenden Kritik an der EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sollen auch die Befürworter*innen zu Wort kommen. Dafür steht stellvertretend der Beitrag von Ingeborg Schellmann im Heft. Sie verteidigt das Urteil als eine weitgehend maßvolle Reaktion des deutschen Verfassungsgerichts. Die Kritik an der Kompetenzübertretung durch die EZB füge sich nahtlos in die bisherige Rechtsprechung des BVerfG ein. Zugleich würden die Richter*innen durchaus den Anwendungsvorrang und die Einheitlichkeit des Unionsrechts anerkennen – dies geschehe aber nicht vorbehaltlos, sondern nur innerhalb der geltenden Kompetenzordnung und unter Einhaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Standards in der Gemeinschaft. Insgesamt bescheinigt Schellmann dem deutschen Verfassungsgericht, dass es rechtliche und politische Erwägungen in konsistenter Weise zum Ausgleich gebracht habe.

Mit der Entscheidung vom 5. Mai 2020 rückt einmal mehr die Rechtsprechung ins Zentrum der rechtspolitischen Aufmerksamkeit. Bemerkenswert ist dabei, wie unterschiedlich der EuGH in verschiedenen politischen Feldern wahrgenommen wird. Umweltverbände unterstützen durch gezielte Hinweise Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission beim EuGH bei der Missachtung europäischer Umweltstandards in den Mitgliedstaaten; oder sie initiieren Klageverfahren vor den nationalen Gerichten und versuchen, strittige Fragen im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH zu bringen. Damit konnten sie erfolgreich europäische Umweltstandards durchsetzen, etwa für die Verbesserung der Luftqualität. Dagegen stieß die arbeitsrechtliche Rechtsprechung des EuGH bei Gewerkschaften immer wieder auf Kritik, weil der Gerichtshof dazu tendierte, die EU-Grundfreiheiten der Arbeitgeber* innen mit den Grundrechten der Arbeitnehmer*innen abzuwägen – worauf der Beitrag von Reingard Zimmer in diesem Heft eingeht. Sie kommt nach der Auswertung der arbeitsrechtlichen Entscheidungen des EuGH aus den letzten 15 Jahren zu dem Ergebnis, dass die europäische Rechtsprechung viel zu einem besseren individuellen Grundrechtsschutz der Beschäftigten beigetragen habe, bei Kollektivfragen wie dem Koalitions- oder Streikrecht aber nach wie vor den wirtschaftlichen Grundfreiheiten ein (zu) hohes Gewicht beimesse.

Eine zu eindimensionale, nämlich auf wirtschaftliches Wachstum und Stabilität ausgerichtete Politik, wirft Jan Schulz in seinem Beitrag auch der EZB vor. Er befasst sich mit ihrer (möglichen) Rolle beim Umwelt- und Klimaschutz und fordert eine klare Ausrichtung der europäischen Währungs- und Finanzpolitik an Kriterien der Nachhaltigkeit. Diese Forderung reicht formal gesehen – genau wie die Anleihekäufe – weit über das in den bisherigen EU-Verträgen festgeschriebene Mandat der EZB hinaus. Sie ist nicht nur in Recht und Politik, sondern auch unter Ökonom*innen umstritten. Angesichts der drohenden globalen Klimakrise gibt es jedoch zunehmend Stimmen, darunter auch die amtierende Präsidentin der Zentralbank Christine Lagarde, die einen „grünen Umbau“ der EZB fordern.

Wie die EU angesichts der Herausforderungen der Klimakrise, aber auch der anderen globalen Konflikte, in Zukunft handlungsfähig bleiben bzw. werden kann, ist schließlich auch Thema des letzten Schwerpunktbeitrags von Karl-Martin Hentschel. Er sieht vielfältigen Reformbedarf in der EU – sowohl ihre demokratisch/rechtsstaatlichen Strukturen wie auch ihr Verhalten gegenüber den Ländern des globalen Südens und der Umwelt gäben kein Vorbild für eine gerechte und nachhaltige Wirtschaftsordnung ab. Er schlägt deshalb eine Neugründung der EU als Assoziation für Demokratie und Entwicklung vor, die sich nach innen wie außen neu konstituieren müsse. Mit diesem zugegebenermaßen utopischen Ausblick auf Europa beenden wir den Schwerpunkt der vorgänge.

Im Hintergrund finden Sie darüber hinaus Beiträge zu aktuellen Entwicklungen. Ute Finckh-Krämer kommentiert den nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine aufgekommenen Vorwurf, die deutsche Außenpolitik und die deutsche Friedensbewegung habe mit ihrer Arglosigkeit den russischen Angriff begünstigt. Ulrich Frey setzt sich mit der bevorstehenden Entscheidung über die Anschaffung von Kampfdrohnen durch die Bundeswehr auseinander und Till Müller-Heidelberg kommentiert eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Bayerische Verfassungsschutzgesetz.

 

Wir wünschen Ihnen wie stets eine anregende Lektüre mit diesem Heft und freuen uns über Ihre Rückmeldungen oder kritischen Kommentare.

Hartmut Aden, Rosemarie Will und Sven Lüders
für die Redaktion

 

 

 

 

Anmerkungen:

[1] S. dazu auch das Interview mit Dieter Grimm in vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017).

[2] BVerfGE 37, 271.

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