Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 236: Der Streit um die Anleihekäufe der EZB

REZENSION - Erklär- und Nachschla­ge­werk zur Europä­i­schen Zentralbank

Michael Heine und Hansjörg Herr: Die Europäische Zentralbank, Marburg: Metropolis-Verlag 2022, 318 Seiten, 24,80 Euro [ISBN 978-3-7316-1495-1]

Die Europäische Zentralbank (EZB) wurde 1998 auf der Grundlage des Vertrages von Maastricht eingerichtet und ist heute neben dem Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat, dem (Minister*innen-) Rat der Europäischen Union, dem Gerichtshof der EU und dem Europäischen Rechnungshof eine von sieben EU-Institutionen. Ihre Einrichtung war eine zentrale institutionelle Voraussetzung für die Etablierung des Euro als gemeinsame Währung von inzwischen 19 EU-Staaten, mit Kroatien folgt 2023 das 20. Land mit dem Euro als Währung. Seit ihrer Gründung waren Rolle und Strategien der EZB stets politisch, rechtlich und wissenschaftlich umstritten. Die Phase seit 1998 ist zudem durch zahlreiche Krisen geprägt, die auch und gerade für das Konstrukt EZB zu einer großen Herausforderung wurden.

Das Buch von Michael Heine und Hansjörg Herr erschien 2021 zuerst in einer englischen Ausgabe (The European Central Bank, Newcastle upon Tyne: agenda publishing, 2021), die deutsche Ausgabe wurde von den beiden Autoren auf der Basis der englischen Ausgabe geschrieben und auf den neuesten Stand gebracht. Das Buch basiert in Teilen auf einem erfolgreichen Vorläufer-Band, der zuletzt 2008 in dritter Auflage erschien. Beide Autoren sind Professoren (im Ruhestand) für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin bzw. an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und verstehen es, auf der Basis ihrer langjährigen Lehrtätigkeit die manchmal komplexen Zusammenhänge so anschaulich darzustellen, dass sie auch für Nicht-Volkswirt*innen gut nachvollziehbar sind.

Das Buch bietet eigentlich wesentlich mehr als der Titel verspricht, denn es befasst sich nicht nur mit der EZB, sondern stellt sie in den Kontext der internationalen Währungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik und analysiert ihre Rolle bei der Entstehung und Bewältigung der diversen Krisen, die diese Politikfelder seit den 2000er Jahren geprägt haben. Zudem lassen die Autoren immer wieder interessante Vergleiche mit den jeweiligen Strategien der US-amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve (auch unter dem Kürzel Fed bekannt), einfließen. Auch die bundesdeutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik wird immer wieder in den Blick genommen, u. a. die „Schuldenbremse“.

In seiner Grundstruktur ist das Buch chronologisch aufgebaut. Damit wird besonders deutlich, wie experimentell – oder negativer ausgedrückt: unausgereift – die Strategien und Vorgehensweisen der EZB in ihren Anfangsjahren waren und welche konzeptionellen Probleme ihre Handlungsmöglichkeiten bis heute beschränken. Nach einem Kurzüberblick über die Entwicklung der europäischen Integration (S. 15 ff.) und der internationalen Währungsordnung seit den 1950er Jahren (S. 27 ff.) widmet sich das Buch ausführlich dem 1992 beschlossenen Unionsvertrag von Maastricht und dem damit begründeten Stabilitäts- und Wachstumspakt. Übereinstimmend mit den meisten kritischen Autor*innen zu diesem Thema, sehen Heine und Herr im Stabilitäts- und Wachstumspakt viele Probleme angelegt, die eine Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrisen seit den 2000er Jahren erheblich erschwerten. Kritisch sehen die Autoren insbesondere die strengen Verschuldungsobergrenzen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), die in den 1990er Jahren insbesondere von der deutschen Regierung befürwortet wurden und die noch heute in Art. 126 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) angelegt sind. Im Zentrum ihrer Kritik steht auch das Fehlen wirksamer politischer Steuerung der EZB durch EU-Institutionen, da in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nach wie vor ein großer Teil der Entscheidungsbefugnisse bei den Mitgliedstaaten und ihren Regierungen liegt. Dies führt dazu, dass die EZB – jedenfalls offiziell – nicht als Kreditgeber letzter Instanz (Lender of Last Ressort) fungieren kann, der in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Finanzierung der EU und ihrer Mitgliedstaaten sichert.

Der zweite Teil des Buches (Abschnitte 8 ff., S. 137 ff.) widmet sich ausführlich den schweren Krisen, mit denen die EZB seit 2007 konfrontiert war, beginnend mit der Subprime Crisis infolge des Zusammenbruchs des Immobilienbooms in den USA mit globalen Auswirkungen. Die „Rettung“ zahlreicher insolvenzgefährdeter Banken und die Wirtschaftsförderung durch „Konjunkturpakete“ der mitglied­staatlichen Regierungen erforderten umfangreiche Ausnahmen von den Zielen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Ausführlich fassen die Autoren hier Defizite der Finanzmarktregulierung zusammen, die maßgeblich zu dieser großen Krise beitrugen. Daneben stehen auch hier die Auswirkungen der strikten Verschuldungsobergrenzen im Zentrum der Kritik, die in der Zeit bis 2012 zu weitreichenden haushalts- und wirtschaftspolitischen Auflagen für die besonders hoch verschuldeten Euro-Staaten führten, insbesondere für Griechenland. Die Autoren bewerten diese Auflagen – wiederum übereinstimmend mit einem breiten Konsens in der kritischen Fachliteratur – als kontraproduktiv, da sie die Krisen für die betroffenen Staaten und ihre Bevölkerung weiter verschärften.

Ernsthafte Schritte zur Bewältigung der Krisen wurden erst unternommen, als sich Mario Draghi 2012, zu Beginn seiner Amtszeit als EZB-Präsident, dazu bekannte, die Euro-Währung um jeden Preis zu retten („whatever it takes“). Niedrige Zinsen und der Kauf von Anleihen, insbesondere der Mitgliedstaaten, wurden seither zu den zentralen Stabilisierungsmechanismen. Auch wenn die Folgen der Krisen damit wesentlich abgemildert werden konnten, weisen die Autoren auf die verbleibenden Risiken aufgrund einer in Teilbereichen weiterhin unzulänglichen Finanzmarktregulierung hin (S. 230 ff.).

Schließlich widmen sich die Autoren auch den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Eurozone und die EZB (S. 257 ff.). Mitgliedstaatliche Alleingänge und insbesondere umfangreiche Hilfsprogramme für das Gesundheitswesen, die Wirtschaft und die gesamte Bevölkerung machten die Pandemie zu einer Herausforderung für den Euro, die EZB und die EU insgesamt. Positiv bewerten die Autoren hier, dass die EU im Rahmen des Wiederaufbaufonds Next Generation EU erstmals die Verantwortung auch für die Beschaffung der nötigen Finanzmittel übernahm.

Die neuesten Turbulenzen, die seit Februar 2022 durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verursacht wurden, traten ein, nachdem das Buch bereits erschienen war (siehe dazu aber das Streitgespräch unter Mitwirkung von Hansjörg Herr in diesem Heft). Der Anstieg der Energiepreise und die Auswirkungen auf die Inflationsrate im Euroraum und darüber hinaus sowie die daraufhin eingeleitete „Zinswende“ der EZB (und noch stärker der US-amerikanischen Federal Reserve) zeigen, dass die Eurozone und die EZB auch in Zukunft mit weitreichenden Krisen und Turbulenzen konfrontiert werden dürften. Umso relevanter sind daher die Perspektiven, die im Ausblick am Schluss des Buches (S. 281 ff.) aufgezeigt werden. Ihre stabilisierende Rolle wird die EZB mittelfristig kaum ohne eine stärkere institutionelle Absicherung durch mehr Entscheidungskompetenzen der EU-Institutionen fortführen können, insbesondere wenn die Zinsen im Rahmen der Inflationsbekämpfung angehoben werden. Das Next Generation EU-Programm könnte dafür ein Anfang sein. Eigene Steuerquellen der EU und mehr wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenzen der EU-Institutionen würden Macht und Einfluss wirtschaftlich starker Mitgliedstaaten wie Deutschland schwächen. Sie sind eine notwendige Voraussetzung für eine stabile EU und eine krisenresistentere Währung.

Mit seinem chronologischen Abriss und seinen fundierten, auch für Nicht-Ökonom*innen gut verständlichen Hintergrundinformationen, ist dieses Buch eine spannende Lektüre und ein nützliches Nachschlagewerk zugleich. Für Nutzer*innen der gedruckten Ausgabe wäre dabei ein Stichwortregister hilfreich, wie es im Vorläuferwerk zu finden war.

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