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Verfas­sungs­schutz statt Rechts­schutz?

Zur Stellung des Individuums in der „streitbaren Demokratie”

aus: vorgänge Nr. 55 (Heft 1/1982), S. 38-46

1. Zur Entstehung des fdGO-­Syn­droms

Die veröffentlichten Verfassungsschutzberichte über Gruppenaktivitäten sowie die „Auskünfte” (insbesondere) über Einzelpersonen durch die Verfassungsschutzämter an öffentliche Dienststellen (vor allem in Einstellungsverfahren) aber auch gegenüber interessierten privaten Stellen („Sicherheitsbereich“) sind nur dann politisch und rechtlich einzuordnen, wenn man sie in den Kontext des fdGO-Syndroms (fdGO = freiheitlich demokratische Grundordnung) stellt: Sie sind charakterisiert durch eine eigenartige Mischung von „amtlichen”, durch das Ziel einer rechtlichen Entscheidung bestimmten rechtsstaatlichen Verfahrenselementen und politisch meinungsmäßigen Bewertungen, die sich teils einer im emphatischen Sinne öffentlich-rechtlichen Zuordnung (insbesondere durch Geheimhaltung) überhaupt widersetzen oder aber sich der Qualifizierung als öffentlich-rechtlich dadurch entziehen, daß sie sich in der steten Wiederholung eines rechtlich folgenlosen öffentlichen Verdachts erschöpfen.
Bürgerlich-liberales Legalitätsdenken war idealtypisch zentriert um die administrative, justizielle oder legislative Rechtsentscheidung über äußerliches Verhalten. Die Relevanz der Ermittlung von Absichten, Zielen, Motiven etc war über die Funktion der Verhaltenskontrolle durch Entscheidung relativ eng begrenzt. Auf das Gesetz bezogen bedeutete das Legalitätsdenken, daß kein Bürger verpflichtet war, ein Gesetz als politisch legitim hinzunehmen, wenn er es nur in seinem Verhalten beachtete. Dem liegt eine Relativität der Legalität als Verfahren zugrunde, die ihre Legitimität für die Zukunft stets infragestellen lassen muß und den Bürger infolgedessen nicht zur Unterwerfung unter ihre jeweiligen Absichten zwingt (vgl. z. B. die Trennung von Gesetz und Gesetzesbegründung etc). In der rechtsstaatlichen Verwaltung wurde die Relativität der Verfahrensrationalität u. a. abgestützt durch die Verselbständigung der je fragmentierten Entscheidungsverfahren gegeneinander. Prinzipiell wurde ein Sachverhalt nur unter dem Aspekt einer besonderen Entscheidung untersucht (vgl. das sogenannte Koppelungsverbot: Daß jemand seine Steuern nicht bezahlt hat, kann prinzipiell nicht einem begründeten Anspruch auf staatliche Leistungen etc entgegengehalten werden). In der Bundesrepublik ist bekanntlich diese hier nur grob skizzierte Relativität des Geltungsanspruchs der Legalität vom Legitimitätsbedarf der als fdGO kanonisierten Grundstruktur des politischen Systems überlagert worden. [1]
Diese Entwicklung ist als ein „großer Wandel der Volksstaatlichkeit unseres Staatswesens von einer wertneutralen, geradezu selbstmörderischen Demokratie zu einer wertgebundenen, ihren Gegnern gegenüber wachsamen und militanten Demokratie“ [2] gefeiert worden. Die „Erfahrungen von Weimar” haben danach gelehrt, daß auch unterhalb der Grenze des formal-illegalen Verhaltens Meinungsäußerungen etc, die gegen grundlegende politische Überzeugungen gerichtet sind, verfolgt werden müssen. Der Weimarer Staat habe in seinem „Relativismus” zu große Toleranz gegenüber seinen Feinden von rechts und links gezeigt. [3]

2. Das Konzept der „streit­baren Demokratie”

Daß „Weimar” kein Argument ist, ist schon vielfach belegt worden und soll in Zusammenhang dieser Untersuchung nicht noch einmal wiederholt werden. (Interessant ist aber, daß auch der NS von Weimar die gleiche Lektion gelernt hat: Insbesondere bei dem Polizeirechtsexperten des NS, W. Best, kann man immer wieder lesen, daß der Weimarer Staat keine ausreichende vorbeugende Abwehr von natürlich linken – Staatsfeinden gekannt habe.)
Hier kommt es nur darauf an, festzuhalten, daß auch die Weimarer Demokratie im Grunde die formal-,,relativistische“ Trennung von Meinung und Verhalten in einem erheblichen Umfang keineswegs blind praktiziert hat, sondern vielfach nur die rechtsradikale Propaganda, auch soweit sie in unverhohlenen Ankündigungen von Gewalt gegen Personen bestand (nach dem Endsieg werden „Köpfe rollen” – so Hitler in seinem berühmten „Legalitätseid” vor dem Reichsgericht), durchaus (auch im Zusammenhang mit der Aufnahme in den öffentlichen Dienst) als rechtlich unbeachtliche Meinungsaktivität angesehen hat, während umgekehrt kommunistische Propaganda zur unmittelbaren Vorstufe eines hochverräterischen Umsturzversuches stilisiert und damit als rechtlich relevantes Verhalten qualifiziert wurde. Das zynische, augenzwinkernde Spiel mit durchsichtigen „Formalismen” ist schließlich vom Reichsgericht auf die Spitze getrieben worden, als im Ulmer Offiziersprozeß die Legalität der NS-Absichten durch „Beeidigung” einer programmatischen Propagandarede des „Zeugen” Hitler vor Gericht „bewiesen” werden konnte. Daß solche politischen Absichten mangels eines tatsächlichen Substrats nicht Gegenstand eines Zeugeneids sein können, ist schon damals eine juristische Binsenweisheit gewesen. Dieses Beispiel mag hier zunächst als Beleg dafür genügen, daß die „Relativität” des Weimarer Staates jedenfalls in zentralen Entscheidungssituationen von Bürokratien durchaus politisch fungibel „relativiert” worden ist. 
Das gleiche läßt sich übrigens für die frühe Nachkriegszeit behaupten: Die politischen „Säuberungsaktionen”, mit denen auch solche Angehörige ehemaliger NS-Organisationen aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet werden sollten, die sich nicht individuell strafbar gemacht hatten, wurden gerade von Konservativen (so einem großen Teil der CDU) häufig mit dem Argument bekämpft, man dürfe nicht den Teufel mit Beelzebub austreiben und die von den Nazis mit Füßen getretene Rechtsstaatlichkeit erneut politisch relativieren.
Das Entstehen der „militanten Demokratie” war politisch erst möglich, als die KPD und nicht mehr wie zuvor die ehemaligen NS-Organisationen als „Hauptfeind” identifiziert werden konnte. Das Konzept der „militanten Demokratie” beruht auf einer historisch äußerst fragwürdigen Faktenbasis; dies ist umso problematischer, als es sich nicht einfach als eine wissenschaftliche Position neben anderen darstellt, sondern als eine quasi-offizielle Staatsdoktrin fungiert, deren „Richtigkeit” in den verschiedenen Institutionen des Verfassungsschutzes und nicht zuletzt der Ämter für Verfassungsschutz institutionalisiert ist. Und auf genau dieser Grundlage politisch institutionalisierter Wahrheitsansprüche entwickelt sich die Praxis der „militanten Demokratie” durch aktiven Verfassungsschutz. Von Anfang an gibt es diese charakteristische Vermischung von politischer und rechtlicher Wertung: Sie institutionalisiert immer aufs neue den Verdacht, nicht eines rechtswidrigen Verhaltens, sondern einer „illegitimen” Meinungsaktivität, einen Verdacht, der sich gegenüber einem möglichen Entscheidungsverfahren (Partei- oder Vereinigungsverbot) gänzlich verselbständigen kann. Dies ist eine Konsequenz, die in den Parteiverbotsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (SRP, KPD) selbst schon angelegt ist.

3. Verfas­sungs­schutz als „Gedan­ken­po­li­zei”

Im SRP-Urteil [4] hatte das BVerfG den verhängnisvollen Satz formuliert, daß mit der verfassungswidrigen Organisation auch die von ihr verfolgten „Ideen selbst” aus dem politischen Prozeß ausgeschaltet werden sollten. Und im KPD-Urteil [5] heißt es zwar noch, „das Bekenntnis zu einer wissenschaftlichen Lehre wird der KPD nicht zum Vorwurf gemacht”. Soweit es um „wissenschaftliche Erkenntnis” gehe, sei die Lehre des Marxismus-Leninismus „nicht Gegenstand dieses Verfahrens”. Andererseits sind für das Parteiverbotsverfahren „maßgebend immer die Ziele, d. h. die Vorstellungsbilder (!) von dem, was die Partei sich in ihrer politischen Wirksamkeit im Staate vorgenommen hat.” Sie sind es, die sich „letztlich im praktischen Handeln niederschlagen sollen”. Das Verdikt über die KPD wird stark von deren „Vorstellungsbildern” bestimmt. Dementsprechend heißt es immer wieder: „die freiheitliche Demokratie lehnt die Auffassung ab, daß . . .”; die „freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß . . .”; sie „verwirft es, wenn . . .”; sie „muß sich ihrem Wesen nach zu der Auffassung bekennen, daß . . .”; sie lehnt „bestimmte Begriffsbildungen ab” usw, usw. Die für traditionell liberales Denken fundamentale Unterscheidung zwischen Meinen und Verhalten wird damit auf eine gefährliche Weise durchbrochen. Verfassungswidrig können danach „Vorstellungsbilder”, „Ziele”, „Auffassungen” sein, umgekehrt gibt es Auffassungen, die als solche verfassungsrechtlich legitimiert werden.
Auch dies hat in Deutschland durchaus Tradition. Es handelt sich hier nur um eine neue Variante des Schutzes von „Anschauungskomplexen”, die „nach der allgemeinen Überzeugung als lebenswichtige Grundlage des Gemeinschaftslebens angesehen werden” und die im preußischen Polizeirecht noch Bestandteil der „öffentlichen Ordnung” waren [6].
Solche unprätentiös illiberale Reverenz vor der Staatsräson entspricht dem hohlen fdGO-Triumphalismus natürlich in keiner Weise. Letzten Endes geht es aber trotz aller demokratischer Rhetorik um eine moderne Umschrift dieser „öffentlichen Ordnung”. Die fdGO-Militanz verleiht dem früher von der liberalen Tradition stets als Gefahrenherd für die Grundrechte apostrophierten Staat eine neue Aura, die den Gegensatz von Freiheit und Eingriff in einem Maße aufzuheben tendiert, daß schließlich gar der Staat als der eigentliche Grundrechtsträger erscheint, der die Freiheit der Bürger gegen die Eingriffe der Verfassungsfeinde in Anspruch nimmt und verteidigt.
Davon wird auch die Aufgabe des Verfassungsschutzes maßgeblich bestimmt. In der offiziösen Schrift „Innere Sicherheit” (verantwortlich H. H. Merk, Bundesinnenministerium, 1977) heißt es: Charakteristisch für die Verfassungsfeinde sei der „Kampf unter Täuschung der Bürger” oder die „Unterwanderung und Täuschung gesellschaftlicher Gruppen”. Als weitere gefährliche Strategien der Subversion werden genannt der „Versuch von Unterwanderung des öffentlichen Dienstes durch Extremisten mit Hilfe sogenannter Berufsverbotsgegner (!)” (20), oder die „Beeinflussung der Jugend an Schulen, Universitäten und in Betrieben gegen ihren (!) Staat” (21) durch falsche Informationen „unter Ausnutzung jugendlicher Ideale”. Der Verfassungsschutz muß deshalb dafür sorgen, daß die „Öffentlichkeit früh genug informiert und damit problembewußt” wird (21). Im liberalen Staats- und Gesellschaftsverständnis war die öffentliche Meinungsbildung noch eine ausschließlich gesellschaftliche Funktion, eben der Presse und der Pressefreiheit. Doch je stärker die fdGO von bestimmten Auffassungen „durchdrungen” ist, desto bedeutsamer wird auch die spezifisch staatliche Funktion des Verfassungsschutzes, über täuschende Gegen-Auffassungen zu „informieren”. Dabei kommt es bei den veröffentlichten VS-Berichten weniger auf die mitgeteilten Daten an, die im allgemeinen wenig aufschlußreich sind, als auf die „amtliche” Qualifizierung von Parteien, Gruppen, Individuen, die außerhalb des „Konsenses der Demokraten” gestellt werden. Es ist die öffentliche Verkündung des Verdachts, der Kontakte zu den derart abgestempelten Gruppen als „gefährlich” und damit potentiell überwachungsbedürftig kennzeichnet. Wer sich auf solche Kontakte einläßt, muß damit rechnen, daß er überwacht wird.

4. Datenschutz und Persön­lich­keits­recht

In der Diskussion um den Datenschutz wird häufig ein „Recht am Persönlichkeitsprofil” gegenüber staatlicher Ausforschung von Daten aus dem privaten Bereich geltend gemacht [7]. Ob und wieweit ein solches Recht angesichts der Realität der sozialstaatlichen Erfassung und Bewertung von ehemals privaten Problemen (Krankheit, Arbeitsunfähigkeit etc) überhaupt noch sinnvoll nach dem Modell des negatorischen Abwehrrechts konstruiert werden kann, muß hier offenbleiben.
Wenn man aber die privaten und öffentlichen Wirkungsfelder einer Person insgesamt thematisiert, erscheint es sinnvoller, gegen Ausforschung ein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung und                  –entwicklung im emphatischen Sinne zu reklamieren: Ein Staat darf sich nicht anmaßen, die Entfaltung komplexer Verhaltens-, Denk-, Empfindungsweisen, Qualifikationen etc und ihre Entwicklung in der Zeit zu reduzieren auf das Krankheits-, Berufs-, Feind- oder ein sonstiges „wahres” Persönlichkeitsbild eines Menschen. Es ist charakteristisch für einen großen Teil der Datenschutz-Literatur, daß die Kritik an Tendenzen zur Ausforschung des privaten „Persönlichkeitsprofils” durch Datenerhebung vielfach die Sensibilisierung für die Gefahren, die der „öffentlichen Persönlichkeit” drohen, vermissen läßt [8].
Durch die Tätigkeiten des Verfassungsschutzes und andere öffentliche Stigmatisierungen wird die komplexe Persönlichkeit festgelegt auf offiziell sanktionierte (Feind)bilder, die durch ihre Unvollständigkeit, Grobheit, Vorurteilsbestimmtheit etc als politische Bedrohung wirken. Gerade darin liegt die besondere Gefahr auch der „Auswertung” von öffentlichen Äußerungen. Es ist nicht so sehr ein Recht auf Selbstdarstellung, das hier gefährdet würde (niemand hat ein Recht darauf, daß andere sich ein „richtiges Bild” von ihm machen), sondern die spezifische, vom Verfassungsschutz ausgehende Gefahr besteht in der Tendenz zu systematisch betriebenen staatlichen Zuschreibungen bzw staatlichen Verstärkungen von fixierten „Vorstellungsbildern”. Es verstößt gegen die Menschenwürde und gegen Persönlichkeitsrechte, wenn von einem Individuum sozusagen ein staatlich authentifiziertes „Persönlichkeitsbild” hergestellt wird und die Offenheit und Differenziertheit von Entwicklungsprozessen durch offizielle Lesarten fixiert wird.

5. Wie man den Rechtsweg zum Holzweg macht

Eine erhebliche Beschränkung des Rechtsschutzes gegen VS-Überwachung und Registrierung ergibt sich zunächst daraus, daß der individuelle Anspruch auf Auskunft über die bei einer datenspeichernden Stelle aufbewahrten persönlichen Daten (§ 13 Abs. 1 des Bundesdatenschutzgesetzes) nicht gegen die Ämter für Verfassungsschutz geltend gemacht werden kann (§§ 13 Abs. 2 i. V. m.12 Abs. 2 Nr. 1 BDschG). Dies wird damit begründet, daß sonst die Arbeit des VS dadurch unmöglich gemacht werden könnte, daß Informationsquellen oder Arbeitsweise des Verfassungsschutzes (VS) offengelegt würden. Dies ist zumindest dann rechtlich zweifelhaft, wenn der VS offenes Material auswertet. Für diesen Fall können keine rechtlich relevanten Bedenken gegen einen beschränkten Auskunftsanspruch erhoben werden, zumal solche Unterlagen in Berufsverbotsprozessen ohnehin offengelegt werden müssen [9].
Symptomatisch für das Verfassungsschutz-Syndrom in der Bundesrepublik und die Wirkungsweise manipulativer Verrechtlichung politischer Diskriminierung und Einschüchterung ist schon die verdrehte Darstellungsform der Rechtsschutzproblematik: Anscheinend geht es darum, daß ein vom Staat im allgemeinen generös gewährter Auskunfts- gleich Leistungsanspruch ausnahmsweise im höheren Interesse der Allgemeinheit zurückgehalten wird. In Wirklichkeit geht es jedoch um etwas ganz anderes: Die staatliche Speicherung jedenfalls von nicht neutralen, also gegen den Bürger verwendbaren Daten, ebenso wie ein Teil der zu ihrer Gewinnung eingesetzten Methoden (Observierung, Fotografieren etc) ist ein Eingriff in Freiheitsrechte (Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs.1, Meinungsfreiheit nach Art. S Abs. l, Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs.1). Deshalb ist dafür auch nach herrschender Meinung eine gesetzliche Grundlage erforderlich.
Unabhängig von der – hier bezweifelten – Frage nach der Rechtmäßigkeit solcher Überwachungs- und Registrierungsverfahren stellt sich aber die Frage des formellen Rechtsschutzes, der nach Art. 19 Abs. 4 GG gegen jede belastende Maßnahme der öffentlichen Gewalt gewährleistet sein muß. Die Beschränkung des „Auskunftsanspruchs” gegen die Verfassungsschutzämter ist nun nichts anderes als eine verfassungswidrige Rechtsschutzverweigerung, da den betroffenen Individuen und Gruppen mangels Information der Rechtsschutz gegen falsche und unzulässig erlangte Daten faktisch abgeschnitten wird. Daß die faktische Ausschließung des formellen Rechtsschutzes durch Informationsverweigerung von Art. 19 Abs. 4 ausgeschlossen wird, ist in der Literatur unstreitig. Rechtsschutzbeschränkungen sind – nach dem seinerseits problematischen Art. 10 Abs. 2 GG n. F. (i. V. G 10) – nur für Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis unter den relativ engen Voraussetzungen des G 10 zulässig. Die Verweigerung des Rechtsschutzes gegen andere Maßnahmen des VS durch Informationsverweigerung entbehrt daher einer verfassungsrechtlichen Grundlage.
Für diese Konstellation gilt allgemein nichts anderes als das, was Dürig seinerzeit zur Beschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses durch Art. 10 Abs. 2 n. F. und das G 10 ausgeführt hat: „Da die Pflicht des Staates, dem Bürger Gelegenheit zu geben, sich zur Wehr setzen zu können, aus dem Rechtsstaatsgedanken abgeleitet wird, verletzt eine Bestimmung, die jegliche Benachrichtigung ausschließt, einen jener Grundsätze, an die auch der verfassungsändernde Gesetzgeber gebunden ist … Die vorhandene Regelung nimmt den Bürger, in dessen Rechte eingegriffen wird, einfach nicht zur Kenntnis; sie macht den Bürger des Grundgesetzes, der doch ,personaler Träger‘ der höchsten Werte, nämlich der Freiheit und der Menschenwürde ist …, zur quantite negligeable. Sie verfährt mit ihm derart, daß er in ein Verfahren überhaupt nicht einbezogen wird.“ Als „indiskutabel” wird auch die damals schon erhobene Einwendung bezeichnet, es sei unbedingt erforderlich, die vorzeitige Warnung des Täters oder Störers zu verhindern, denn: „Eine derartige Argumentation sieht in jedem Bürger, der einmal in die Mühle‘ des Abhörungsverfahrens geraten ist, lebenslang einen potentiellen Verfassungsfeind, dem man nur nichts nachweisen kann” [10].

6. „ Verfassungsschutz” setzt den Rechtsschutz außer Kraft

Bei der Regelung über die Sammlung von Daten durch den VS ist allerdings der Verfall rechtsstaatlicher Formen noch weiter fortgeschritten als bei der Abhörregelung nach dem G 10. Hier erfolgt die Außerkraftsetzung des (Verfassungs-)Rechtsschutzes durch den „Verfassungsschutz” sogar selbst in der Form eines – dem Gegenstandsbereich angepaßten -„geheimen Vorbehalts“: Indem der VS zum Einsatz von „nachrichtendienstlichen Mitteln” ermächtigt wird, wird schlicht vorausgesetzt, daß der VS auch formell – soweit er es für notwendig hält – außerhalb der Rechtssphäre agieren darf. Der Ausschluß des Rechtsweges ist dem Gesetzgeber nicht einmal ein offenes (allerdings verfassungswidriges) Wort wert. Er erlaubt sich vielmehr den Zynismus, dem Bürger (offen) vollen Rechtsschutz zu gewähren und zugleich bestimmte Rechtsverletzungen geheimzuhalten.
Was der gesetzliche Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung von Auskunft über gespeicherte Daten wirklich wert ist, hat das Verwaltungsgericht Bremen in seinem Urteil vom 6. 2.1981 in aller Deutlichkeit gesagt, nämlich nichts. Die „Argumentation, wonach die Bekanntgabe gespeicherter Daten die Tätigkeit des VS ‚ad absurdum‘ führen würde, (läßt) erkennen, daß die Beklagte (das Land Bremen-KHL) im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens durchaus eine Interessenabwägung getroffen hat”. Die an diesen Bescheid zu stellenden Anforderungen dürfen eben nicht „überspannt” werden, Deshalb soll es auch unbedenklich sein, wenn das Ermessen im Einzelfall ohne nähere Begründung grundsätzlich zu Lasten des Antragstellers ausgeübt wird. „Würde sie nämlich von Fall zu Fall Auskunft erteilen, wäre jede Auskunftsverweigerung schon ein Indiz dafür, daß dem LIV Erkenntnisse vorliegen.” Das heißt im Klartext: Zwar muß das LIV, weil das Ermessen stets gebunden ist, eine Abwägung der kollidierenden Interessen vornehmen. Da aber in jedem Einzelfall die Interessen des VS den Vorrang erhalten müssen, kann der Auskunftsanspruch faktisch nie realisiert werden. Das rechtsstaatliche Institut der Ermessensentscheidung wird – wie andere Formen der Pseudo-Verrechtlichung des VS – letztlich nur zum Nachteil oder hier zur Düpierung der Betroffenen eingesetzt: Aus Gründen der Geheimhaltung kann und darf der VS sein Interesse im einzelnen nicht mitteilen: Die Reduzierung des Ermessens „auf Null” ist hier nicht einmal abstrakt denkbar, man kann deshalb eher von einer Ermessenssteigerung bis ins Unendliche sprechen. Wenn man die Begründung des VG Bremen ernst nimmt, darf der VS – entgegen der Formulierung des Gesetzes – niemals Auskunft erteilen.
Anders ist dies natürlich dann, wenn der VS selbst „Erkenntnisse” zum Zwecke des Kampfes gegen „Verfassungsfeinde” an andere Behörden (bei der Einstellungsüberprüfung) oder an die Öffentlichkeit weitergibt.

Vor allem bei Auskünften über die aus öffentlich zugänglichen Quellen gespeicherten Daten bestehen die von der Bundesregierung und den Gerichten befürchteten „schweren Beeinträchtigungen“ der VS-Arbeit nicht so sehr darin, daß „Träger verfassungsfeindlicher Bestrebungen oder . . . Mitarbeiter fremder Nachrichtendienste” sich über die Observierungsmaßnahmen informieren lassen und sie dadurch konterkarieren könnten. Es ist schließlich allgemein bekannt, daß der VS Zeitungen, Flugblätter, öffentliche Diskussionen etc „auswertet”. Hier geht es vielmehr einzig und allein darum, das Ansehen des VS nicht dadurch zu beeinträchtigen, daß das Ausmaß der Überwachung öffentlich bekannt wird. Dies ist das einzige Interesse, das der VS an der freien Verfügung über öffentlich zugängliche Daten haben kann: Die Verselbständigung des institutionalisierten Staatsschutzes gegenüber dem von den Bürgern zu veranstaltenden demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß läßt auch die kritische Öffentlichkeit zur Gefahr für die fdGO werden.
Gerade weil jede kritische öffentliche Regung von der „Infiltration und Unterwanderung … durch Mitglieder verfassungsfeindlicher Gruppierungen” bedroht ist [12], muß das Ausmaß der Observierung durch den VS geheimgehalten werden. Über die Bekanntgabe von Daten zum Zwecke der „politischen Ächtung” soll allein der VS unter strategischen Gesichtspunkten entscheiden. Die Veröffentlichung von Daten gegen den Willen des VS kann aber nur gegen ihn verwendet werden, weil die Bürger vielfach nicht einsehen können, daß jeder (auch der Verfassungsfreund), der in irgendeinem – natürlich vom VS zu bestimmenden -„Zusammenhang“ mit „verfassungsfeindlichen Bestrebungen” steht, seine Observierung durch den VS hinnehmen muß – natürlich nicht zuletzt zu seinem eigenen Schutz, wenn „berechtigte Aktivitäten für die Zwecke verfassungsfeindlicher Bestrebungen mißbraucht (zu) werden (drohen)” [13].
Konsequenterweise muß der Bürger auch hinnehmen, daß der VS darüber entscheidet, wie seine „berechtigten Aktivitäten” am besten geschützt werden: Ob dies besser durch Veröffentlichung oder durch Geheimhaltung geschieht. Die Tätigkeit des VS würde aber ad absurdum geführt, wenn die für den Schutz der fdGO gewidmeten Daten ihrem eigentlichen Zweck entfremdet und gegen den VS gewendet werden könnten. Dem „Grundsatz der Effektivität” des VS 14 haben die Grundrechte der Bürger zu weichen, oder besser gesagt: sie finden darin erst ihre Erfüllung, weil geringere Effektivität des VS gleichbedeutend wäre mit größerer Gefährdung der fdGO und damit auch der Grundrechte.

7. Verfas­sungs­schutz durch politische Ächtung? – oder die Würde des Menschen…

Bekanntlich ist Bernt Engelmann in den vom Bayerischen Staatsminister des Innern herausgegebenen Berichten zur „Politischen Sicherheitslage in Bayern” (unter der Rubrik „A. Linksextreme Aktivitäten und Kampagnen: 1. Orthodoxe Kommunisten, 1.6. Kampagne gegen den CDU/CSU-Kanzlerkandidaten”) „erkannt” worden. Diese Qualifizierung hat das VG München zwar für rechtswidrig erklärt [15], doch bleibt das Urteil in seiner Wirkung – wie fast die gesamte liberale Rechtsprechung in Staatsschutzsachen – sehr begrenzt, weil nur im Einzelfall die mangelnde Exaktheit der Klassifizierung gerügt wird : Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, daß jemand deshalb zum Verfassungsfeind erklärt werden solle, weil seine politische Meinung auch von Verfassungsfeinden geteilt werde. Zulässig sei dagegen die Einordnung in eine „gesonderte Rubrik . . . etwa unter der Überschrift ‚Infiltration und Unterwanderung von Organisationen durch Mitglieder verfassungsfeindlicher Gruppierungen’”.
Unter einer solchen oder ähnlichen Überschrift wäre es nach Auffassung des Gerichts durchaus zulässig, auch nicht als Verfassungsfeinde anzusehende Personen namentlich aufzuführen, wenn z. B. deren Bekanntheit „von in der Öffentlichkeit weniger bekannten Mitgliedern verfassungsfeindlicher Organisationen für verfassungswidrige Bestrebungen ausgenützt wird” (698). Damit wird die Berechtigung des VS, alle „Nachrichten . . .‚ die im Zusammenhang mit der Entwicklung einer verfassungsfeindlichen Partei, Organisation oder Gruppierung stehen…, zu einem wirklichkeitsgetreuen (!) Bild für die Öffentlichkeit zusammenzufügen”, nicht wesentlich beschränkt.
In dem dieses Urteil kommentierenden Aufsatz von Klein/Grabowski kommt überdies deutlich zum Ausdruck, daß die „regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit . . . als Alternative (milderes Mittel) zur Möglichkeit des Verbots verfassungswidriger Organisationen” zugleich das Arbeitsfeld des VS wesentlich erweitert: Klein/Grabowski wollen nämlich diese „Milderung” der demokratischen „Militanz” dadurch kompensiert wissen, daß „nicht nur über ‚in sich‘ verfassungsfeindliche Aktivitäten, sondern über die gesamte ‚Entwicklung‘ eines als verfassungsfeindlich erkannten Beobachtungsobjekts” (!) berichtet wird: „Wer in den Bannkreis (!) der Agitation verfassungsfeindlicher Bestrebungen gerät und sich ihrer nicht erwehrt, wird mindestens objektiv zu ihrem Förderer.” Zumal diese Förderung sich „vor den Augen der Öffentlichkeit” abspielt, soll in der „Mitteilung von Namen” solcher Personen eine „wesentliche Beeinträchtigung von deren Ehre, Ruf und Privatsphäre nicht gesehen werden” können. Das VG München hat durchaus gesehen, daß die mit den Aufgaben des Verfassungsschutzes „betrauten Behörden” politische Meinungsäußerung dadurch „faktisch unterdrücken” können, daß sie Personen zu Verfassungsfeinden erklären und sie damit „praktisch der allgemeinen politischen Ächtung preisgeben” (698). Dennoch hat es dieser Fähigkeit des VS keine effektiven Grenzen gesetzt, weil die Stilisierung des „Schutzes der öffentlichen gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildung” zur staatlichen Kompetenz im Kontext der politischen Geschichte der Bundesrepublik schon derart selbstverständlich ist, daß das primäre Recht der Bürger, ihre eigene Meinung zu äußern und sich, ohne daß der VS seine amtlichen Warnschilder aufstellt, über die Meinungen anderer zu informieren, in den Hintergrund tritt.
So ist es nicht verwunderlich, daß auch Klein/Grabowski (267) davon ausgehen, daß die Frage, inwieweit auch selbst nicht „verfassungsfeindliche” Personen „infolge des auf sie ausgeübten Einflusses zu Trägern verfassungsfeindlicher Bestrebungen werden”, der „Wertung des Verfassungsschutzes” unterliege. Hier gibt es nur eine „Vertretbarkeitskontrolle” durch die Verwaltungsgerichte, zumal „es sich um Fälle des politischen Geltendmachens” der Verfassungsfeindlichkeit handelt. Auch hier zeigt sich wieder die charakteristische Ambivalenz von Meinungs- und Handlungselementen: Der Öffentlichkeit gegenüber wird der Anspruch erhoben, ein „wirklichkeitsgetreues Bild” des Verfassungsfeindes zu zeichnen, doch vor Gericht wird stets das politische Moment der VS-Tätigkeit reklamiert.
Aber auch wenn diese Beurteilung vom Gericht in vollem Umfang überprüft werden kann, ändert sich für den Betroffenen dann nichts, wenn das Gericht eben die Aufgaben des VS weit interpretiert. Was soll man schon von einer gerichtlichen Formulierung halten, wonach Personen dann observiert – und entsprechende Observierungen wohl auch ausgewertet werden können – ‚ „sofern tatsächliche Anhaltspunkte die Erwartung begründen, daß ihre Beobachtung zu Erkenntnissen für die Aufgaben des VS führt” (so VG Bremen 2 A 294/79 v. 6. 2. 1981, 5.11)?

Verweise

1  Vgl. Bad.-Württ. VGH 1978, 523ff.
2  Ule DVB1 1963, 1
3  Verfassungstreue im öffentlichen Dienst. Argumente – Dokumente, (hg. v. Bad.-Württ. Innenministerium, o. J., S. 6)
4  BVerfGE 2,1
5  BVerfGE 5,85
6  prOVG 89, 238; 241
7  Vgl. dazu nur Steinmüller u. a., in: BT-Dr V1/3826
8  Vgl. aber W. Schmidt JZ 1974, 243
9  Vgl. VGH Kassel NJW 1977, 1844 m. Anm. Scherer NJW 1978, 237
10 Vgl. Dürig/Evers, Zur verfassungsändernden Beschränkung von Post-, Telefon- und Fernmeldegeheimnis. Zwei Rechtsgutachten, 1969, S. lbff.
11 Erscheint in DuR 4/1981
12 Vgl. VG München BayVBI 1980, 696
13 Vgl. Klein/Grabowski BayVBI 1981, 265f.
14 Vgl. Klein/Grabowski a. a. 0.
15 Vgl. BayVBI 1980, 696

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