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Die (un)heimliche Staats­ge­walt

Thesen und Forderungen zur Reform des Verfassungsschutzes mit einem begründenden Memorandum vorgelegt von der Humanistischen Union

aus: vorgänge Nr. 55 (Heft 1/1982), S. 75-78

(vg) Rechtsstaat und Demokratie fordern, dass staatliches Handeln prinzipiell öffentlich sein muss. Nur dann ist eine Kontrolle durch die Parlamente, die Öffentlichkeit, die Gerichte sowie durch den Bürger als Wähler möglich. Ein Geheimdienst jedoch arbeitet heimlich, nicht öffentlich, nicht kontrolliert. So ist es nicht verwunderlich, wenn angesichts der in letzter Zeit bekannt gewordenen zweifelhaften oder auch eindeutig rechtswidrigen Aktionen der deutschen Geheimdienste Kritik und Misstrauen gewachsen sind.
Die HUMANISTISCHE UNION legt daher ein Memorandum zur Reform des Verfassungsschutzes vor. Sollen die Verfassungsschutzämter die Verfassung schützen, so muss ihre Tätigkeit in erster Linie selbst rechts-staatlich ausgestaltet sein. Ein Vorrang der angeblichen Effektivität vor der Rechtsstaatlichkeit kann nicht akzeptiert werden.

Thesen und Forderungen

1. Die Tätigkeit der Verfassungsschutzämter wird nicht ausreichend kontrolliert. Sie findet in einem geheimnisvollen Dunkel statt. In mehreren bekannt gewordenen Fällen ist sie mit Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht in Einklang zu bringen. Diese Tätigkeit ruft deshalb der Bürger hervor. Sie hat – insbesondere bei der Jugend – zum Teil demokratiegefährdendes Duckmäusertum gefördert.
Eine solche Tätigkeit schützt nicht etwa die Verfassung, sondern schadet ihr. Die HU fordert deshalb eine konsequent rechtsstaatliche Gestaltung und Begrenzung dieses „Verfassungsschutzes“. 

Aufgaben

2. Hauptaufgaben sind Beobachtung und Analyse verfassungswidriger „Bestrebungen”. Darunter sind nur aktiv kämpferische und aggressiv tätige Organisationen zu verstehen.
Überprüfung Beobachtung von Einzelpersonen gehört nicht dazu, allein Spionageabwehr und, sicherheitsempfindlicher Bereiche ausgenommen. Bei der Beobachtung der „Bestrebungen” können Erkenntnisse über einzelne Bürger anfallen. Sie dürfen aber nicht zu deren Nachteil ausgewertet oder weitergegeben werden; die Anzeigepflicht aus § 138 StGB bleibt unberührt.

3. Durch Rechtsverordnung sind die sicherheitsempfindlichen Arbeitsplätze im einzelnen zu beschreiben, deren Inhaber sicherheitshalber überprüft werden dürfen. Die Verfassungsschutzbehörden dürfen das Ergebnis solcher Überprüfung erst dann dem Arbeitgeber mitteilen, nachdem der betroffene Bürger Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen oder seine Bewerbung zurückzuziehen. Ihm muss der Rechtsweg offenstehen.

4. Die von Verfassungsschutzgesetzen einiger Bundesländer den Verfassungsschutzämtern zugewiesene Aufgabe, bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst mitzuwirken, muss beseitigt werden.

Befugnisse

5. In einem Rechtsstaat kann nicht von den Aufgaben der vollziehenden Gewalt auf ihre Befugnisse geschlossen werden. Die Verfassungsschutzbehörden haben nur die Befugnisse, die ihnen ausdrücklich durch Gesetz eingeräumt sind. Diese dürfen nicht überschritten werden, auch nicht unter Berufung auf einen überverfassungsrechtlichen Notstand, einen Staatsnotstand, eine Güterabwägung gemäß § 34 StGB oder auf sonstige außer gesetzliche Legitimation.

6. Das die Verfassungsschutzämter „nachrichtendienstliche Mittel” einsetzen dürfen, erlaubt es ihnen, geheim aufzutreten. Diese Ämter dürfen tun, was auch ein Privatmann darf; ihnen bleibt verboten, was auch dem Privatmann verboten ist.

Amtshilfe

7. Im Wege der Amtshilfe dürfen nicht beliebige Aufgaben mit beliebigen Befugnissen gekoppelt werden. Durch die Amtshilfe dürfen die Befugnisse der vollziehenden Gewalt gegenüber dem Bürger insgesamt nicht über das gesetzliche Maß hinaus erweitert werden.

8. Den Verfassungsschutzämtern stehen keine polizeilichen Befugnisse zu; sie dürfen nicht organisatorisch mit Polizeibehörden verbunden werden. Deshalb ist es ihnen auch nicht erlaubt, sich im Wege der Amtshilfe die Befugnisse der Polizeibehörde zunutze zu machen oder mit ihnen einen Dateienverbund einzugehen.

9. Amtshilfe darf nur für einen konkreten Einzelfall geleistet werden,

10. Personenbezogene Informationen dürfen nach geltendem Recht nicht.zwischen Verfas-sungsschutzbehörden und dem Bundesnachrichtendienst oder dem Militärischen Abschirmdienst ausgetauscht werden.

Kontrolle

11. Die Nachrichtendienste werden nicht wirksam kontrolliert. Deshalb müssen die Parlamente von Bund und Ländern je zwei Beauftragte für die Nachrichtendienste bestellen. Das Vorschlagsrecht müssen die Fraktionen nach dem Höchstzahlverfahren haben. Diese Beauftragten müssen befugt werden, die Nachrichtendienste uneingeschränkt zu kontrollieren sowie gegen sie oder einzelne ihrer Bediensteten Klagen zu erheben und Strafanträge zu stellen. Die Beauftragten für die Nachrichtendienste müssen jährlich ihrem Parlament einen Tätigkeitsbericht vorlegen.

12. Öffentliche Diskussion und Kritik an den Nachrichtendiensten sind notwendig. Dies geht dem Geheimhaltungsinteresse der Nachrichtendienste vor. Die Etatmittel für die Nachrichtendienste müssen in den Haushaltsplänen detailliert und wahrheitsgetreu ausgewiesen werden. Allgemeine Verwaltungsvorschriften über die Tätigkeit der Nachrichtendienste sind zu veröffentlichen.

Rechtsschutz

13. Im Bereich der Verfassungsschutzämter fehlt wirksamer Rechtsschutz für den Bürger.

14. Wird Angehörigen von Geheimdiensten das Zeugnis vor Gerichten untersagt oder wird den Gerichten die Einsicht in Schriftstücke verweigert, so sind die Behauptungen des betroffenen Bürgers über den Inhalt dieser Zeugnisse oder Schriftstücke als wahr zu unterstellen.

15. Rechtswidrig erlangte oder rechtswidrig weitergegebene Informationen der Verfassungsschutzämter sind zu vernichten. In gerichtlichen Verfahren dürfen sie nicht verwertet werden.

16. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis darf nur aufgrund richterlicher Anordnung und Kontrolle beschränkt werden. Die 1968 beseitigte lückenlose Rechtsweggarantie ist wiederherzustellen. Überwachungsmaßnahmen sind dem Betroffenen spätestens nach fünf Jahren mitzuteilen.

17. Es muss sichergestellt werden, dass auch Bedienstete der Geheimdienste strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie in strafbarer Weise tätig geworden sind.

Datenschutz

18. Spezifisch für den Bereich des Verfassungsschutzes müssen Datenerfassung, -speicherung und -übermittlung gesetzlich beschränkt werden, muss insbesondere der Austausch zwischen den Datensammlungen der Verfassungsschutzämter und anderen Behörden durch Aufzählung der dafür einzuräumenden Ausnahmen eingegrenzt werden.

19. Personenbezogene Daten dürfen nur bei Sicherheitsüberprüfungen und bei der Spionageabwehr erfasst und gespeichert werden. Für Sicherheitsüberprüfungen sind in einer Rechtsverordnung die relevanten Merkmale festzulegen. Sammlung und Speicherung personenbezogener Daten für die Spionageabwehr sind abhängig von der Feststellung des Amtchefs, dass tatsächliche Anhaltspunkte für eine Agententätigkeit vorliegen.

20. Eine Übermittlung personenbezogener Daten ist nur im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen und bei der Spionageabwehr sowie bei Straftaten nach § 138 Strafgesetzbuch zulässig.

21. Gespeicherte Daten und sonstige Unterlagen sind nach bestimmten Fristen zu löschen. Sie sind auch vor Ablauf der Fristen zu löschen, wenn sie nicht mehr benötigt werden oder wenn die Gründe für ihre Aufbewahrung nicht mehr bestehen.

Auskunftsanspruch

22. Der Bürger muss einen Anspruch auf Auskunft darüber haben, welche Informationen die Verfassungsschutzämter über ihn gesammelt und an wen sie diese weitergegeben haben. Eine Ausnahme kann vorgesehen werden für den Quellenschutz und die Spionageabwehr.

Vefassungsschutzbericht

23. Den Parlamenten sind jährlich Verfassungsschutzberichte vorzulegen. An die Erwähnung oder Nichterwähnung in den Berichten dürfen rechtliche Auswirkungen nicht geknüpft werden.

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