Die Renaissance normativer Sinnsuche: Das LER-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1995 traf die deutsche Öffentlichkeit völlig unvorbereitet. Die Reaktionen waren dementsprechend heftig: In beispielloser Intensität riefen Medien und Politiker der CDU/CSU zum zivilen Widerstand gegen den Beschluss auf. Authentische religiöse Empörung und politisches Kalkül — im Vorfeld der Entscheidung über den veränderten Asylparagraphen sollte offenbar Druck auf das Gericht ausgeübt werden (vgl. Vorländer 1999) — gingen eine Symbiose ein. Das Bundesverfassungsgericht erlebte eine ernsthafte Vertrauenskrise. Zweierlei wurde deutlich: Zum einen ist die Trennung zwischen Staat und Kirche, die staatliche Neutralität in religiösen Fragen als zentrales verfassungsrechtliches Ordnungsprinzip, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fest verankert — und damit auch in der politischen Realität der Bundesrepublik. Zum anderen zeigte sich, dass es immer noch eine starke Sehnsucht nach normativer Sinnstiftung bei den Bürgern gab, die empfindlich getroffen wurde. Die These, wonach das politische Gemeinwesen der Bundesrepublik besonders stark säkularisiert ist, bedarf offenbar einer Revision (vgl. Schaal 2000: 119-124).
Es ist die gleiche Sehnsucht, die aus der Einführung von „Lebensgestaltung-Ethik-Religion“ (LER) als ordentliches Schulfach in Brandenburg einen „Kulturkampf mitten in Deutschland“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Oktober 2001) werden ließ, der fast 10 Jahre dauerte. Der für jeden Kampf obligatorische Showdown blieb jedoch aus: Nach der Verkündung des Schlichtungsangebots des Bundesverfassungsgerichts am 11. Dezember 2001 regte sich keine öffentliche Empörung, und bis zum 31. Januar 2002 stimmten sowohl-die brandenburgische Landesregierung als auch die beiden großen Kirchen der Schlichtung zu. Es ist „eine gute Zeit für das Bundesverfassungsgericht“, resümierte Philipp Gessler (taz vom 31. Januar 2001), denn „weiser hätte auch König Salomo nicht entscheiden können“ (Stuttgarter Nachrichten vom 12. Dezember 2001). Doch letzteres geht am Kern der Sache vorbei: Das Gericht hat gerade nicht entschieden, sondern — erst zum zweiten Mal in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts — eine Schlichtung vorgelegt, die eine formal-juristische Entscheidung unnötig machen sollte.
Der Schlichtungsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts und die öffentlichen Reaktionen darauf sagen einiges über die politische Realität in der Bundesrepublik aus. Im folgenden wird die These vertreten, dass die Schlichtung paradigmatisch die Aufwertung von Religion für die individuelle und kollektive normative Sinnsuche anzeigt. Der Laizismus, den etliche Kritiker im Kruzifix-Beschluss entdekken wollten, hat seinen Zenit überschrittn —wenn er denn je ein Realphänomen in der unterstellten Intensität gewesen ist. Zugleich scheint die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts in letzter Zeit (Airbus-Vermittlung, Entscheidung zum Schächten, LER-Schlichtung, Entscheidung zur Verfassungskonformität der Wehrpflicht) ein neues Verhältnis zwischen Politik, Verfassungsgericht und Zivilgesellschaft zu indizieren. Nach Jahren der Entscheidungsdelegation, in denen Karlsruhe in schöner Regelmäßigkeit von der in politische Agonie verfallenen christlich-liberalen Bundesregierung angerufen wurde, um politische Probleme zu lösen, sind wir Zeugen einer Kompetenzredelegation durch das Bundesverfassungsgericht.[1]
Sinnsuche
Sinn ist für den Bürger der Postmoderne ein wertvolles, aber keineswegs knappes Gut. In einer Zeit, in der die Bürger „Patchwork-“ und „Bastelbiographien“ (Ulrich Beck) entwerfen und hierfür auf eine Vielzahl normativer Orientierungsangebote zurückgreifen können, wird die Wahl der angemessenen Orientierungshilfe zunehmend schwieriger. Die andere Seite des biographischen Freiheitsgewinns ist das steigende Risiko des selbstverschuldeten biographischen Scheiterns. Die zunehmende Pluralität von Einstellungen bleibt jedoch auch für den Staat nicht ohne Konsequenzen. Nicht nur in der kommunitaristischen Literatur mehren sich die Stimmen, die einen breiten normativen Grundkonsens der Bürger als Bestandsvoraussetzung der Demokratie auch in der Moderne ausmachen. Dieser Konsens darf jedoch nicht ausschließlich — gegen die Diskurstheorie argumentiert — rein prozeduraler Natur sein. Moderne Demokratien müssen ihren Sinn in der Immanenz suchen, da sich die Vorstellungen von transzendenter Legitimation und Sinn spätestens im Zuge der Aufklärung als diskreditiert erwiesen haben. Die auch aus den blutigen Erfahrungen der Religionskriege resultierende Trennung von Staat und Kirche erscheint uns heute geradezu als Signum staatlicher Modernität — und im Gegenzug die islamische Welt, die diese Trennung so nicht vollzogen hat, als prä-modern. Die so verstandene Modernität hinterlässt jedoch eine von den Bürgern mitunter als schmerzlich wahrgenommene Sinnlücke (Bellah et al. 1987). Gleichwohl ist auch der gegenteilige Fall — das Vorhandensein religiöser Einstellungen — für das Individuum in der neutralen Demokratie spannungsreich, da es laut Rawls (1993) die Aufsplittung in ein religiöses privates und ein a-religiöses öffentliches Ich notwendigerweise nach sich zieht. Eine Schizophrenie, die für Habermas (2001) die gläubigen Bürger in die Rolle von argumentativen Dolmetschern in Permanenz drängt: Da religiöse Argumente in der liberalen politischen Sphäre nicht stechen, müssen sie in solche transformiert werden, die dort akzeptiert werden.
Die Diskussion um LER und das Schlichtungsangebot zeigen paradigmatisch, welche Strategien im Umgang mit der — auch aus staatlicher Perspektive relevanten — Sinnressource Religion existieren. Als analytisches Instrumentarium, diese Strategien zu identifizieren, bietet sich eine Dreiertypologie des Theologen Ralf Schieder (2001: 14) an. Er differenziert zwischen a) einer laizistischen Perspektive, b) einem säkularisierungstheoretischen Beerbungsund c) einem wertvermittelnden Orientierungsmodell. Der „Frontverlauf“ im „Kulturkampf“ um LER verlief deshalb zwischen Ost- und Westdeutschland, weil in den fünf neuen Ländern die laizistische Perspektive dominiert, während im Westen — zumindest bis Mitte der 90er Jahre — das säkularisierungstheoretische Beerbungsmodell favorisiert wurde. Der neue Sinn für Sinnsuche hat die starke Position dieses Modells jedoch erodieren lassen.
Die ostdeutsche Sinnsuche: LER als Ausweis gesellschaftlicher Modernität
Die Idee, LER als ordentliches Schulfach einzuführen, speiste sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Die Stärke — oder wie im Fall der fünf neuen Länder — die Schwäche der Kirche und der religiösen Bindungen der Bürger spielt eine zentrale Rolle. Bereits vor der antiklerikalen Politik der SED waren die dominant evangelischen religiösen Bindungen der Menschen auf dem Territorium der späteren DDR weitaus schwächer als die stärker katholischen im westlichen Teil Deutschlands. Der religiöse Traditionsbestand, der als Reservoir für Sinndeutungen und dann auch für gesellschaftliche Widerstandsmomente gegen die Kirchenpolitik der SED dienen konnte, war dadurch im Osten a priori geringer ausgeprägt als im Westen. In einer Melange aus sozialistisch inspirierter antiklerikaler Politik und ideologisch überhöhtem säkularisierungstheoretischen Modernismus konnte sich die DDR vor diesem Hintergrund zu einem laizistischen Staat entwickeln, dessen normative Orientierungen den Jugendlichen im Fach Staatsbürgerkunde vermittelt wurden. Im Zuge der friedlichen Revolution und in der Perspektive der Wiedervereinigung wurde rasch deutlich, dass die ideologische Staatsbürgerkunde ersetzt werden musste. Da lag es theoretisch nahe, auf den Religionsunterricht als Ressource normativer Sinnorientierung zurückzugreifen. Darüber hinaus hätte damit eine Homogenität im schulischen Lehrangebot im vereinigten Deutschland erzielt werden können. Die idiosynkratische Entwicklung der Kirchen in der DDR führte jedoch zu der bemerkenswerten Entwicklung, dass nicht die Kirchen die Meinungsführerschaft in diesem diskursiven Feld übernahmen, sondern Überlegungen aus oppositionellen Bürgerrechtskreisen für einen Ethikunterricht besondere Bedeutung erlangten (Schlink/Poscher 2000). Die konservative westdeutsche Kritik, die eine unheilsame Traditionslinie von Staatsbürgerkunde zu LER sieht, greift daher ins Leere. Es war jedoch nur Brandenburg, das LER als ordentliches Schulfach einführte, unter dem Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, zu DDR-Zeiten Konsistorialpräsident der Ostregion der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg — was einer gewissen Pikanterie nicht entbehrt.
Die zumeist westdeutsche Kritik an dem brandenburgischen LER-Modell lautet, dass das laizistische Erbe der DDR in ihm weiterlebt und sogar noch säkularisierungstheoretisch geadelt wurde. Selbst diejenigen, die der Idee von LER prinzipiell positiv gegenüberstehen, monieren die Qualität des Curriculums. LER könne in der augenblicklichen didaktischen Ausrichtung keine Werte vermitteln, weder religiöse noch philosophische — doch gerade diese Sinnvermittlung werde zunehmend wichtiger (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 2001).
Die westdeutsche Sinnsuche: Über die Transformation von religiösen Werten in humanistische Orientierungen
Die Sinnsuche West sah gänzlich anders aus. Eine Ursache hierfür war die relativ hohe moralische Kompetenz der Kirchen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz besaßen die beiden Kirchen als einzige Gruppen eine exponierte Stellung. Juristisch manifestierte sich dies in der Übernahme des Weimarer Staatskirchenrechtes und faktisch in den engen Beziehungen zwischen Staat und Kirche (Feldkamp 1998). Gleichwohl galt und gilt für die Bundesrepublik das verfassungsrechtliche Prinzip der staatlichen Neutralität in religiösen Fragen — wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Kruzifix-Beschluss verdeutlicht hat —, ohne dabei laizistisch zu sein.
Das kooperative Verhältnis zwischen Staat und Kirche hat jedoch gerade für die evangelische Kirche zu einem so starken normativen Bedeutungsverlust geführt (Schieder 2001: 170-176), dass der ehemalige Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, diagnostizierte, dass wir in einem „gottlos gewordenen Nachkriegsdeutschland“ leben (Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 1999). Nur wenige Jahre vorher hatte Claus Leggewie jedoch festgestellt, dass der „kulturelle Code [der europäischen Demokratien, G.S.] offenbar weniger säkular ausgeprägt ist, als die Tendenz zur Entkirchlichung und eine weit verbreitete religiöse Indifferenz vermuten lassen.“ (Leggewie 1993: 277) Die beiden Aussagen widersprechen sich nur auf den ersten Blick, greifen sie doch beide — wenn auch unterschiedliche — Aspekte des säkularisierungstheoretischen Beerbungsmodells auf. Zwar entkoppelt dieses Modell Säkularisierung von Kirchenfeindlichkeit, doch mit fatalen Konsequenzen für die Kirchen: Sie werden irrelevant. Das Modell geht davon aus, dass die Kirchen über lange Zeit hinweg als institutionelle Träger religiöser Werte fungierten, die sowohl für die individuelle wie kollektive Sinnstiftung zentral waren. Der gesellschaftliche Wandel von Transzendenz zur Immanenz und die damit verbundenen nachhaltigen Verschiebungen in den gesellschaftlich akzeptierten Argumentationsmodi (Habermas 1981a,b) führen jedoch dazu, dass die Autorität dieser normativen Orientierungsangebote nachlässt. Doch welche Gestalt kann eine humanistische Beerbung annehmen und wie kann die Zivilgesellschaft eigenverantwortlich ihre Sinnressourcen, die z.T. religiöse Erbschaften sind, verwalten? Die Überführung von kollektiver Sinnorientierung auf religiöser Basis in zivilgesellschaftlich-demokratische manifestiert sich paradigmatisch im Konzept des Verfassungspatriotismus (Habermas 1992). Er ist die rational-aufgeklärte Variante der normativen Sinnstiftung.
Zwei allgemeine Zeitdiagnosen haben in jüngster Zeit ein kritisches Licht auf die Orientierungskapazität des Verfassungspatriotismus und der humanistischen Beerbung geworfen. Zum einen wird unter dem Stichwort „Integrationsprobleme des modernen demokratischen Verfassungsstaates“ in Zweifel gezogen, ob der kollektiv geteilte Wertfundus noch aus reichend ist (vgl. Heitmeyer 1997). Zum anderen rücken die negativen individuell-psychologischen Konsequenzen eines hypertrophen Individualisierungsprozesses in den Fokus des Interesses (Honneth 1994).
Nicht nur die beiden diagnostizierten Defizite in der Sinnorientierungskapazität des Beerbungsmodells lässt uns zu Zeitzeugen eines bemerkenswerten Prozesses werden: der Renaissance eines wertvermittelnden Orientierungsmodells, die alle teleologischen Vorstellungen einer zunehmenden Säkularisierung der Lebenswelt zumindest mit einem Fragezeichen versieht. Und so erheben sich die Kirchen als primäre Institutionen wertvermittelter Orientierung wie Phoenix aus der Asche. Es ist dabei besonders bemerkenswert, dass die intellektuelle Galionsfigur kommunikativ-rationaler Sinnorientierung, Jürgen Habermas, einer der Protagonisten dieses Reorientierungsprozesses ist. Habermas (2001a, b) geht davon aus, dass der säkularisierte Staat vom Fortbestand religiöser Gemeinschaften in seiner Mitte ausgehen muss, mehr noch, dass diese für den demokratischen Verfassungsstaat dann ein großer Gewinn sind, wenn sie drei Anforderungen erfüllen: „Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen (…) verarbeiten. Es muss sich zweites auf die Autorität von Wissenschaften einstellen (…). Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen (…).“ (Habermas 2001: 14). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so präjudiziert die Neutralität des Staates „im Streit zwischen Wissens- und Glaubensansprüchen (…) keineswegs zugunsten einer Seite.“ (Habermas 2001: 15). Eine bemerkenswerte Entwicklung im Vergleich zur Theorie des kommunikativen Handelns!
Das Bundesverfassungsgericht: Kompetenzdelegation, Kompetenzredelegation und Sinngeneration
Die skizzierten Veränderungen bei den Modi der Sinnsuche strahlen auf viele gesellschaftliche Felder aus, so dass es nicht verwunderlich ist, dass auch das Verhältnis von Staat und Kirche davon berührt wird. Wie viel Kirche sollte der Staat akzeptieren? So einfach diese Frage zu stellen ist, so schwer lässt sie sich beantworten, zumal für ganz Deutschland, da zwischen den Bürgern im Osten und Westen Deutschlands ein Graben in dieser Frage verläuft. Dieser hat sich — anders als viele andere Einstellungsunterschiede — auch nicht reduziert. Während das laizistische Modell in den fünf neuen Ländern dominant bleibt, verschiebt sich die Sinntektonik in den alten Bundesländern vom Beerbungszum (autoritativen) Wertvermittlungsmodell und damit auch der gewünschte Einfluss der Kirchen, die im Zuge dieser Entwicklung eine wichtigere Rolle spielen sollen.
Dies war die gesellschaftliche Situation, in der die Verfassungsbeschwerden und ein Normkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht eingereicht wurden. Obwohl das Gericht seine Entscheidungen nicht demoskopisch feinjustiert, ist der gesellschaftliche Kontext seiner Entscheidungen und Urteile nicht irrelevant: zum einen, weil das Gericht in langfristiger Perspektive auf die Akzeptanz seiner Entscheidungen angewiesen ist, da es über keine direkten Sanktionspotentiale bei ihrer Nicht-Beachtung verfügt (vgl. Vorländer/Schaal 2002); zum anderen, weil das Verfassungsgericht eine Scharnierstellung zwischen verfassungsrechtlichen Vorgaben und gesellschaftlicher Realität inne hat (Vorländer 1999a). Aus dieser Scharnierstellung resultiert ein Prozess der wechselseitigen Beeinflussung — das Gericht prägt durch seine Entscheidungen sein politisch-gesellschaftliches Umfeld ebenso wie es gesellschaftliche Dynamik verfassungsrechtlicht reflektiert und in seiner Urteilspraxis entsprechend berücksichtigt (Schaal 2002).
Sowohl die Kläger als auch die Medienöffentlichkeit haben eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erhofft — eine Erwartungshaltung, die angesichts der üblichen Praxis der Verfassungsrechtsprechung vollkommen selbstverständlich ist. Dass das Gericht jedoch ein Schlichtungsangebot unterbreitet hat, kam sowohl für die Prozessbeteiligten als auch für die Öffentlichkeit überraschend. Das Besondere dieser Schlichtung tritt jedoch erst dann zu Tage, wenn man drei weitere für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts relevanten Kontextfaktoren ins Auge fasst (vgl. Wahl 1998; Lietzmann 1998).
1.In der Bundesrepublik ist eine Juridifizierung der Politik zu diagnostizieren, die sich in der zunehmenden Externalisierung politischer Entscheidungen an das Bundesverfassungsgericht paradigmatisch zuspitzt.
2.Die Kompetenzdelegation der Politik hat die sozialwissenschaftlich motivierte Kritik der unangemessenen Macht- und Deutungsakkumulation des Bundesverfassungsgerichts provoziert. In Verbindung mit seiner „Kompetenz-Kompetenz“ sei der demokratische Prozess entmündigt worden und habe daher viel von seiner kreativen Energie verloren.
3.Das Bundesverfassungsgericht erlebte 1995/1996 eine Vertrauenskrise, die durch die öffentlichen Reaktionen u.a. auf den Kruzifix-Beschluss und die Soldaten sind Mörder/ Cannabis Entscheidungen ausgelöst wurde. Religion — dies zeigte der Kruzifix-Beschluss — ist sui generis ein verfassungsrechtlich vermintes Terrain, in dem zwischen Profanisierung und Überhöhung des Glaubens für eine profane Institution viele Fallstricke verborgen sind.
Dieser Kontext lässt die Schichtung noch positiver erscheinen, denn welche Gestalt hätte eine Entscheidung angenommen und welche negativen Konsequenzen hätte sie haben können? Ein Gutachten von Bernhard Schlink und Ralf Poscher (Schlink/Poscher 2000) kommt zu dem Schluss, dass das Brandenburgische Schulgesetz verfassungskonform ist, da Art. 141 GG greift. Auch die Mehrheit der Kommentare in den Medien tendierte in diese Richtung, da der Wortlaut des §1 der Schlichtung, „[d]ie Regelungen über das Fach Lebenskunde-Ethik-Religionskunde in § 11 Abs. 2 bis 4 des Brandenburgischen Schulgesetzes bleiben unberührt“ (BVerfG, 1BvF 1/96, Abs.11, §1), die Verfassungskonformität auch im Fall einer ordentlichen Entscheidung nahe legt. Hinzu kommt, dass etliche Verfahrensbeobachter für den Fall einer Entscheidung eine 4:4-Pattsituation erwartet haben; in diesem Fall hätte sich am rechtlichen Status quo ante nichts geändert. Die relative Aufwertung des Religionsunterrichtes im Vergleich zu LER konnte im Kontext dieser hypothetischen, aber durchaus realistischen Abstimmungssituation nur in Form einer Schlichtung erzielt werden! Nur eine Schlichtung konnte eine win-winSituation für alle am Prozess Beteiligten — das Land Brandenburg, die Kläger und das Bundesverfassungsgericht — ermöglichen. Eine ordentliche Entscheidung hätte indes die Gefahr heraufbeschworen, das Bundesverfassungsgericht in eine Vertrauenskrise zu führen, die jener durch den Kruzifix-Beschluss ausgelösten nicht unähnlich gewesen wäre.
Die Schlichtung war jedoch kein Opportunismus oder eine demoskopische Feinjustierung des Bundesverfassungsgerichts, sondern vielmehr ein erstes Indiz einer sich abzeichnenden Rejustierung seiner [2]Verfassungsrechtsprechung, die auch von den genannten drei Kontextvariablen beeinflusst ist und somit weit über die LER-Schlichtung hinaus weist.
Die Schlichtung hat den politischen Gestaltungsspielraum und den Einfluss der zivilgesellschaftlichen Akteure wieder erhöht, da die Frage nach den Instanzen der Sinnorientierung nicht primär eine verfassungsrechtliche, sondern eine zivilgesellschaftliche ist. Die Schlichtung hatte einen substantiellen Kern: Der Religionsunterricht wurde institutionell aufgewertet. Die Prozeduren der konkreten politischen Implementation überließ sie jedoch den involvierten Konfliktparteien. Zwar ist die Schlichtung im Rawlsschen Sinne keineswegs neutral, doch leistet sie trotz ihres Bias einen wichtigen Beitrag zur institutionell-prozeduralen Chancengleichheit für die Konkurrenz normativer Sinnangebote. Die Autorität der Zivilgesellschaft kommt genau dann ins Spiel, wenn die Bürger auf Basis dieser pluralen Sinnangebote, die jeweils keinen
Wahrheitsanspruch mehr für sich erheben können, über die Identität des politischen Gemeinwesens debattieren.[3]‚ Diese Einschränkung ist von erheblicher Bedeutung, da nur so die rechtsstaatlich-demokratischen Bänder der politischen Gemeinschaft intakt bleiben können, die für den aufgeklärten Verfassungspatriotismus notwendig sind.[4]
Fazit
Es war eine kluge Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nicht zu entscheiden, sondern zu schlichten. Angesichts der Renaissance des wertvermittelnden Orientierungsmodells hätte jede Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Dieser Gefährdung unterliegt die Schlichtung nicht, da sie als win-win-Strategie die divergenten normativen Sinnorientierungen in den alten und neuen Bundesländern sensibler berücksichtigen kann als eine ordentliche Entscheidung. Damit hat das Bundesverfassungsgericht zugleich einen besonderen Beitrag zur Integration geleistet, da die jeweiligen normativen Sinnorientierungen gleichermaßen berücksichtigt werden können.
Doch sind weder die bundesdeutschen Probleme noch deren verfassungsgerichtlichen Lösungsangebote einmalig, wie ein Blick auf die europäischen Nachbarländer zeigt. Die (Über-)Fülle normativer Orientierungsangebote in vielen westlichen Demokratien scheint aus der zunächst nur für die Bundesrepublik konstatierten Wertrenaissance eine breitere Entwicklungstendenz werden zu lassen, was sich auch in der Berichterstattung in den Medien wiederspiegelt. So titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. März 2002 etwas polemisch: „Man trägt wieder Kult. Glauben bildet. Der ,Fait religieux soll in Frankreich als Schulfach eingeführt werden“ (vgl. den Beitrag von Romy Messerschmidt zu Frankreich in diesem Heft). Eine andere allgemeine Tendenz scheint — auch mit Blick auf Frankreich — darin zu bestehen, dass Fragen der gesellschaftlichen Wertvermittlung und –orientierung zunehmend in den Kompetenzbereich der Zivilgesellschaft fallen. Auf ihr ruhen jetzt die Hoffnungen für einen friedlichen und den Idealen der wechselseitigen Anerkennung und Toleranz verpflichteten Umgang mit dem Glauben.
Literatur
Bellah, Robert N. u.a. 1987: Die Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Demokratie, Köln
Böckenförde, Ernst-Wolfgang 1991: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main
Feldkamp, Michael F. 1998: Der parlamentarische Rat. 1948-1949, Göttingen
Habermas, Jürgen 1981a,b: Eine Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1 u. 2, Frankurt/Main
Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main
Habermas, Jürgen 2001a: Ein Gespräch über Gott und die Welt; in: Ders.: Zeit der Übergänge, Frankfurt/Main, S. 173-196
Habermas, Jürgen 2001: Glauben und Wissen, Frankfurt/Main
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) 1997: Was treibt die Gesellschaft auseinander, Frankfurt/Main
Honneth, Axel 1994: Desintegration: Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt/Main
Lamprecht, Rolf 1996: Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, Baden-BLegg 1998: Reflexiver Konstitutionalismus und Demokratie. Die moderne Gesellschaft überholt die Verfassungsrechtsprechung; in: Guggenberger, Bernd/Würtenberger, Thomas (Hg.): Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, Baden-Baden, S. 233-261
Rawls, John 1993: Political Liberalism, Columbia
Schaal, Gary S. 2000: Integration durch Verfassung und Verfassungsrechtsprechung? Über den Zusammenhang von Demokratie, Verfassung und Integration, Berlin
Schaal, Gary S. 2002: Verfassungsrechtliche Nested Garnes; in: Müller, Stefan u.a. (Hg.): Dauer und Wandel, Wien, S. 163-178
Schieder, Rolf 2001: Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt/Main
Schlink, Bernhard/Poscher, Ralf 2000: Der Verfassungskompromiss zum Religionsunterricht, Baden-Baden
Vorländer, Hans 1999a: Die Verfassung. Idee und Geschichte, München
Vorländer, Hans 1999: Verfassung und politische Kultur. Anmerkungen aus aktuellem Anlass, in: Gebhardt, Jürgen (Hg.): Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden, S. 75-84
Vorländer, Hans/Schaal, Gary S. 2002: Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts. Institutionelles Vertrauen und Entscheidungsakzeptanz, Wiesbaden
Wahl, Rainer 1998: Quo Vadis — Bundesverfassungsgericht? Zür Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken; in: Guggenberger, Bernd/Würtenberger, Thomas (Hg.): Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Baden-Baden, S. 81-120
Anmerkungen
[1] Für hilfreiche Anregungen danke ich Roxana Kath.
[2] „So wäre denn noch – mit Hegel — zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glauben seinen Bürgern vermittelt.“ (Böckenförde 1991:112).
[3] Diese Vorstellung scheint auch Habermas vorzuschweben: „Die pluralisierte Vernunft des Staatsbürgertums folgt einer Dynamik der Säkularisierung nur insofern, als sie im Ergebnis zur gleichmäßigen Distanz von starken Traditionen und weltanschaulichen Inhalten nötigt. Lernbereit bleibt sie aber, ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben, osmotisch nach beiden Seiten hin geöffnet.“ (Habermas 2001: 15; Hervorh. i. Orig.).
[4] Dieses Argument verfolgt auch Böckenförde, wenn er zwar darauf hinweist, dass der säkularisierte demokratische Staat von Voraussetzungen zehrt, deren Ausbildung er selbst nicht steuern kann, was aber nicht bedeutet, dass „er zum christlichen Staat rückgebildet wird, sondern (…), dass die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben feindliches erkennen, sondern als Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.“ (Böckenförde 1991: 112).