Die Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes: — eine Sternstunde des Parlaments
Die Verabschiedung des Stasi-Unterlagengesetzes im Bundestag am späten Abend des 5. Juli 2002 hat eine lange und in vielfacher Hinsicht sehr aufschlussreiche Vorgeschichte. Sie sagt einiges über den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit aus und führt uns zugleich die Macht jener vor, die mit ihren schwarzen Stiften in der Luft herumfuchteln, um endlich den ersehnten Schlussstrich zu ziehen. Die bunt zusammen gewürfelte Interessensallianz von Anhängern des Alt-Kanzlers Kohl und denen des SED-Regimes stand kurz vor einem bemerkenswerten politischen Teilerfolg. Doch durch eine in letzter Minute erfolgte Initiative aus der Mitte des Bundestags heraus geriet die Gesetzesnovelle über ihren eigentlichen Inhalt hinaus zu einem eindrucksvollen Lehrstück darüber, was der Bundestag als Parlament kann, wenn er denn wirklich will.
Zur Vorgeschichte: Eine neues Stasi-Unterlagengesetz war nötig geworden, nachdem die Aufarbeitung der SED-Diktatur auf Grundlage der MfS-Akten durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. März 2002 (3 C 46.01) de facto untersagt wurde. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte sich in Berlin mit seiner persönlich motivierten Klage gegen die Herausgabe personenbezogener Informationen über Personen der Zeitgeschichte und Inhaber hoher politischer Ämter durchsetzen können. In der Folge gab das oberste Gericht eine mehr als restriktive Auslegung des bestehenden Stasi-Unterlagengesetzes vor. Hätte diese Interpretation des Gesetzes Bestand gehabt, wäre die Herausgabe von Informationen über Personen der Zeitgeschichte ohne deren Zustimmung zukünftig unzulässig gewesen. Informationen zu Verstorbenen wären völlig gesperrt worden. Weite Bereiche der politischen und historischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte wären damit zum Erliegen gekommen — eine beinahe unerträgliche Situation. Deswegen musste der Gesetzgeber handeln, um auch weiterhin öffentlichen Zugang zu historisch relevanten Stasi-Unter-lagen sicher zu stellen.
Zur Geschichte des Stasi-Unterlagengesetzes
Bei den „Stasi-Akten“ handelt es um 185 Kilometer Akten, von denen allein 139 Kilometer in Papierform vorhanden sind. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR war „Schild und Schwert“ der Staatspartei SED und damit fast vierzig Jahre lang das Rückgrat des totalitären Staates. Die überlieferten Akten dieses Ministeriums bilden der Kernbestand der schriftlichen Hinterlassenschaft der DDR. Vor allem die Unterlagen über die Wirtschaft, die Kultur, die Kirchen und die Einrichtungen des öffentlichen Lebens erlauben einen weit gehenden Einblick in die Arbeit eines Repressionsapparates. Sie vermitteln ein umfängliches Bild langjähriger Verfolgungen und Einschüchterungen tatsächlicher oder angenommener Gegner des Systems. Auch zehn Jahre nach dem Ende der DDR ist die historische, juristische und persönliche Aufarbeitung der Zeit von 1949 bis 1989 ohne den Zugang zu diesen Beständen unmöglich. Historiker und Archivare sind sich hierin völlig einig.
Trotzdem wird regelmäßig die Validität der Stasi-Akten als Quelle für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte bezweifelt. Implizit wird daraus abgeleitet, dass eine Schließung dieser Akten eben aufgrund ihrer zweifelhaften Glaubwürdigkeit kein Drama sei. Dies verkennt aber die grundsätzliche Funktion der Institution Staatssicherheit für das Herrschaftssystem der DDR: Stasi-Offiziere haben — bei aller moralischen Verwerflichkeit ihres Handelns — der Führungsspitze ihres Hauses und der politischen Führung der DDR ein Bild der Wirklichkeit zu zeichnen versucht. Offensichtliche Verfälschungen mit dem Ziel der Täuschung der Vorgesetzten waren verpönt und auch strafbar. Wer in diesem Zusammenhang wider besseres Wissen behauptet, bei Abhörprotokollen, wie sie im Falle Kohl im Mittelpunkt der Auseinandersetzung standen, handele es sich schon allein deshalb um Fälschungen und manipuliertes Material, weil es von der Stasi kommt, verkennt den Charakter dieser Aufzeichnungen. Wären diese durchgehend unglaubwürdig, würde es zum Beispiel keinen Sinn machen, dass sich alle Abgeordneten des Bundestages nach Paragraf 44 b des Abgeordnetengesetzes auf Stasi-Mitarbeit überprüfen lassen müssen. Die Abgeordnetenüberprüfung müsste sofort eingestellt und alle aufgrund ihrer inoffiziellen Tätigkeit entlassenen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes rehabilitiert werden. Wer zum Schutz von Helmut Kohl und anderen von vornherein die Beweiskraft der Akten in Frage stellt, unterminiert das gesamte Gesetz als wichtiges Erbe der DDR-Bürgerbewegung.
Denn das Stasi-Unterlagengesetz ist entgegen mancher interessengeleiteter Legendenbildung keine Erfindung der Bundesrepublik. Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte, war schon von der letzten demokratisch gewählten Volkskammer der DDR mit der Sicherung der Archivbestände des aufgelösten Staatssicherheitsdienstes betraut worden. Hierfür musste eine eigene gesetzliche Regelung geschaffen werden, die selbstverständlich der erheblichen Grundrechtsrelevanz der Stasi-Unterlagen gerecht werden musste. Es waren nicht westdeutsche Politiker, sondern im Wesentlichen die DDR-Bürgerkomitees, die eine Auflösung des MfS verlangt und durchgesetzt hatten. Vertreter der Bürgerkomitees waren auch maßgeblich an der Ausarbeitung des Volkskammergesetzes zur Regelung der Aufbewahrung, Nutzung und Sicherung der Akten vom 24. August 1990 beteiligt. Joachim Gauck als Sonderbeauftragter der Bundesregierung arbeitete zunächst nach den Vorgaben des Einigungsvertrages mit einer vorläufigen Benutzerordnung. An deren Stelle trat dann das gesamtdeutsche Stasi-Unterlagengesetz, das am 20. Dezember 1991 auf breiter parlamentarischer Grundlage beschlossen wurde (vgl. Stoltenberg 1992: 65ff.).
Der westdeutschen Bürokratie war dieses Stück Akteneinsichtsrecht allerdings nie ganz geheuer. Viele Verantwortliche hätten liebend gerne die Stasi-Akten an das Bundesarchiv übergeben und damit den westdeutschen Archivgesetzen unterworfen. Es waren auch hier die Bürgerrechtler der DDR, die nach der von ihnen betriebenen Auflösung des MfS den Aktenbestand zusammengehalten und der systematischen Aufarbeitung überantwortet haben. Die Akten werden nun von einem Bundesbeauftragten als Leiter einer Obersten Bundesbehörde verwaltet, der vom Parlament gewählt wird und weisungsunabhängig arbeitet.
Der Umgang mit der schriftlichen Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes ist eine bleibende Herausforderung für die gesamte Republik. Ob beim Rücktritt von Heinrich Lübke oder beim gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt 1972 — die Stasi hatte stets ihre Hände im Spiel. Wilhelm Knabe, ehemaliger Bundestagsabgeordneter von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, fand in mühseliger Forschungsarbeit heraus, dass die Stasi allein auf seine Partei über 360 inoffizielle Mitarbeiter angesetzt hatte. In deutscher Gründlichkeit schrieben diese in den Jahren von 1983 bis 1987 nicht weniger als 2.500 Berichte an die Zentrale der Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit (Knabe 2002: 176). Zwei dieser Spitzel, in der 11. Wahlperiode Büronachbarn des Autors, sind heute hauptamtlich für die Bundestagsfraktion der PDS tätig.
Die Klage des einzig wahren Stasi-Opfers Helmut Kohl
Diese Herausforderung, die sich auch für den Westen aus dem Vorhandensein der Stasi-Akten ergibt, haben bedauerlicherweise nicht alle verstanden. Das querulantische und selbstgerechte Verhalten von Helmut Kohl im Streit um die Offenlegung seiner Stasi-Akten ist nur aus einer groben Verkennung der historischen Tatsachen erklärbar: Der „Kanzler der Einheit“ ist unbeirrt der Auffassung, es gehe beim Stasi-Unterlagengesetz nur um Staatsfunktionäre der DDR, deren Persönlichkeitsrechte im Interesse der historischen Aufarbeitung legitimerweise eingeschränkt worden seien. Auf die Idee, dass sich die Akten auch zur Klärung der Arbeit der Stasi im Westen und ihr Einwirken auf historische Sachverhalte dort benutzen lassen, ist er offenbar erst gekommen, als es um die Herausgabe seiner eigenen Akten ging. Die von Kohl vertretene Rechtsauffassung konnte sich aber in der parlamentarischen Diskussion, die dem Kohls Argumentation stützenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts folgte, nicht durchsetzen. Dem Bundesinnenminister, der im Wesentlichen die Kohl-Linie vertrat, gelang es nicht, seine eigene Fraktion zu überzeugen. Letztlich wurde der verabschiedete Gesetzentwurf von den Regierungsfraktionen eingebracht und zum Schluss mit den Stimmen der FDP beschlossen. Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit des Kompromisses vom 28. Juni 2002 (Drucksache 14/9641) bestätigte der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 6. Juli 2002.
Dieser Beschluss bescherte dem ehemaligen Kanzler Kohl eine für ihn ungewohnte Erfahrung: Geltendes Recht wurde plötzlich auch für ihn verbindlich. Gegen die alte Fassung des StuG konnte er sich noch erfolgreich wehren. Der im Dezember 2000 erhobenen vorbeugenden Unterlassungsklage des Altkanzlers gab das Verwaltungsgericht Berlin am 4. Juli 2001 statt. Dieses Urteil wurde vom Bundesverwaltungsgericht am 8. April 2002 (BVerwG 3 C 46.01) bestätigt. Die beiden Gerichtsentscheidungen konnten indes nur diesen Einzelfall regeln — den Gesetzgeber daran zu hindern, in Reaktion auf die Urteile seinen politischen Willen klarzustellen, vermochten sie nicht. Diese wäre nach Art. 100 Abs.1 GG höchstens durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglich gewesen.
Die Birthler-Behörde war zudem gut beraten, rechtzeitig die Grundlagen für die jetzt erfolgte Gesetzesänderung zu legen. Marianne Birthler erließ nach dem erstinstanzlichen Urteil in Sachen Kohl Richtlinien, nach denen die Herausgabe der personenbezogenen Informationen und die Konsultation der Betroffenen neu geregelt wurden. Die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes wurden seitdem auch de jure gemäß § 32 StUG nicht für Wissenschaft und Medien schlechthin, sondern nur zweckgebunden für die politische und historische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS, die politische Bildung und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zur Verfügung gestellt. Nur wenn Antragsteller aus Medien oder Wissenschaft einen dieser Verwendungszwecke darlegen können, haben sie einen Anspruch auf Aktenzugang. Anträge, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, sind unzulässig und werden abgelehnt.
Die Verfahrensregelungen der Behörde und in deren Gefolge die gesetzliche Neuregelung sind darauf ausgerichtet, die Persönlichkeitsrechte der hier in Rede stehenden Personen zu schützen. Vor der Herausgabe von Unterlagen anlässlich eines Forschungs- oder Medienantrages wird künftig festgestellt, ob ein Akteneinsichtsantrag zu einer Person vorliegt, die durch eine Herausgabe betroffen sein könnte. Ist das der Fall, wird dem Betroffenen vorab die Gelegenheit zur Akteneinsicht gegeben. Auch Kohl hat davon Gebrauch gemacht. Diese Praxis führt dazu, dass jeder vorher genau weiß, dass die Behörde seine Unterlagen herausgeben will. Jeder kann dann auch dagegen klagen. Diese Vorrangregelung für den Verfahrensablauf wird zwar vom Gesetzgeber nicht vorgeschrieben. Sie ist aber im Interesse des Bürgerschutzes behördenintern entwickelt worden und hat breite Akzeptanz gefunden. Sie bildet die Grundlage für die jetzt erfolgte Gesetzesänderung. Denn die gesetzliche Neuregelung ist – vereinfacht gesagt – ein Destillat der Richtlinien der Birthler-Behörde.
Die geschilderte neue Praxis der Birthler-Behörde fand nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. März allerdings zunächst ein jähes Ende. Die Akten wurden für Anfragen aus Wissenschaft und Medien ausnahmslos geschlossen. Viele Forschungsvorhaben, beispielsweise im Zusammenhang mit dem fünfzigsten Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 lagen auf Eis. Damit stand die Erforschung der Arbeit des DDR-Unterdrückungsapparates auf dem Spiel, was anhand einiger Beispiele deutlich gemacht werden soll:
Auf dem Themenfeld „politische Strafjustiz der DDR“ wäre – obwohl das MfS hier eine zentrale Rolle innehatte – eine Aufarbeitung kaum noch möglich gewesen, weil nur Informationen, die das öffentliche, nach außen gerichtete Handeln von Richtern, Staatsanwälten und Justizfunktionären betreffen, herausgegeben werden dürften. Damit könnten politische Geheimprozesse gar nicht mehr aufgearbeitet und bei den politischen Schauprozessen nur noch die propagandistisch motivierte Inszenierung nachgezeichnet werden. Die entscheidenden Sachverhalte, die mit solchen Strafverfahren im Zusammenhang stehen, etwa die Divergenz zwischen den Beschuldigungen der Strafverfolgungsorgane und den wirklichen Sachverhalten, die Präjudizierung des Urteils durch außerjustitielle Instanzen, die Inszenierung der Verfahren zu propagandistischen Zwecken, die Instrumentalisierung der Verteidigung oder ihre schlichte Untätigkeit usw., könnten unter diesen Umständen nicht mehr im Einzelnen rekonstruiert werden.
Probleme ergeben hätten sich auch bei zahlreichen anderen, für die MfS-Aufarbeitung bedeutsamen Themen wie Widerstand und Opposition, Kirche, Kalter Krieg, „Kommerzielle Koordinierung“ und internationaler Terrorismus.
Sogar Ausstellungen und Publikationen über die SED-Justizministerin Hilde Benjamin wären gefährdet gewesen. Die Stalinistin war keine Mitarbeiterin der Stasi und auch keine „Begünstigte“ im Sinne des Gesetzes. Ihre Nachfahren hätten gefragt werden müssen, ob sie mit der Erwähnung ihrer blutigen Ahnherrin einverstanden gewesen wären.
In der Debatte drohte unterzugehen, dass sich im Bestand der BStU auch Unterlagen aus der und über die NS-Zeit befinden. Auch hier wären massive Schwierigkeiten bei der Herausgabe von Informationen absehbar gewesen. Wenn die Herausgabe dieser Akten an die Zustimmung von ehemals führenden Personen der NS-Zeit bzw. ihrer Erben geknüpft worden wäre, wäre ein großer Teil dieser Akten für die Forschung verloren gewesen. Die durch die Novellierung von 1996 erfolgte Erweiterung der Zweckbestimmung des StUG auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit (Einfügungdes § 32 Abs. 4 StUG) wäre dann fast vollständig wieder aufgehoben worden.
Die kleine Koalition der Vernunft handelte
Die Situation war also nach den Kohl-Urteilen unhaltbar geworden. Wenige Stunden vor der im Bundestag angesetzten zweiten und dritten Beratung des Gesetzes am 28. Juni 2002 gelang es dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion und dem innenpolitischen Sprecher von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem ehemaligen Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) einen Konsens zu erzielen. Diese Verständigung war erforderlich, um noch in der 14. Legislaturperiode das Gesetz novellieren zu können und so die Kontinuität der DDR-Aufarbeitung zu sichern. Die Union hatte mit Rücksicht auf Helmut Kohl trotz monatelanger Verhandlungen eine Einigung verhindert. Zur systematischen Verschleppung des Verfahrens hatte sie sogar noch eine zweite Anhörung im Innenausschuss des Bundestages durchgesetzt. Obwohl die Neuregelung nur ein Einspruchsgesetz war, hätte der Bundesrat durch die Anrufung des Vermittlungsausschusses nach Artikel 77 Absatz 2 und einen späteren Einspruch nach Absatz 3 das Verfahren so lange verzögern können, bis die Legislaturperiode abgelaufen war. Genau dieses Ziel verfolgte die Union.
Die Union war sich darüber klar, dass ehemalige Zuträger des SED-Systems das Kohl-Urteil nutzen würden, um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu behindern bzw. zum Erliegen zu bringen. Daher stellten CDU/CSU im Innenausschuss (Ausschussdrucksache 14/867) einen Antrag, „politische Funktionsträger“ der DDR wie Begünstige zu behandeln und ihnen ein Widerspruchsrecht gegen die Herausgabe ihrer Akten zu verwehren. Dies hätte eine neuerliche Diskriminierung von Ost-Biografien impliziert. Der Vorschlag wurde aber auch von der Union nicht ernsthaft verfolgt. Er sollte wohl auch eher eine Alibifunktion erfüllen.
Nach der Einigung der Regierungskoalition mit der FDP verkündete als erstes der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, dass sein Bundesland einen Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses im Bundesrat ablehnen werde. Damit war die erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen für die unionsregierten „B-Länder“ dahin. In der entscheidenden Sitzung des Bundesrates am 12. Juli fand ein Antrag von Bayern, Sachsen und Thüringen auf Anrufung des Vermittlungsausschusses keine Mehrheit. Bemerkenswert an diesem Vorgang war, dass ausgerechnet der Justizminister des Freistaats Sachsen noch kürzlich die Einigung von Regierungskoalition und FDP ausdrücklich gelobt hatte.
Der jetzt beschlossene Gesetzestext lässt die Herausgabe von Prominentenakten unter Beachtung des Persönlichkeitsschutzes nach der Unterbrechung seit März endlich wieder zu. Abwegig sind Interpretationen des Gesetzes, die letztlich doch wieder auf eine von Kohl und anderen favorisierte „Zustimmungslösung“ hinauslaufen. Diese ist vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewollt. Dessen klarer Wille ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Artikel 1 Nr. 11 Absatz 1 Satz 3 (Änderungsantrag der Abgeordneten Stiegler, Özdemir, Schmidt-Jortzig zur zweiten Beratung des Gesetzentwurfs/Drucksache 14/96241 vom 28. Juni 2002). Dort heißt es ausdrücklich: „Soweit kein Einvernehmen erzielt wird [zwischen Behörde und Betroffenem; J.Roth.], dürfen Unterlagen erst zwei Wochen nach Mitteilung […] zugänglich gemacht werden“. Diese Fassung würde keinen Sinn machen, wenn die Zustimmung konstitutive Voraussetzung für die Herausgabe wäre. Es bleibt beim Letzt-entscheidungsrecht der Behörde. Im Gesetz wird nunmehr sichergestellt, dass auch in Zukunft die Herausgabe von personenbezogenen Informationen über Personen der Zeitgeschichte und Inhaber politischer Funktionen möglich bleibt. Gleichzeitig werden die Rechte der Betroffenen gestärkt, weil bei der Herausgabe der Informationen die Menschenrechtswidrigkeit ihrer Erhebung zu berücksichtigen ist. Diese Neuregelung ist am besten als Stufenmodell darstellbar: Je schwerer die Stasi die Menschenrechte des Betroffenen verletzt hat, um so höher sind die Hürden bei der Herausgabe dieser Informationen gegen den Willen des Betroffenen. Als Beispiel für eine Menschenrechtsverletzung, die das Ermessen der Behörde für eine Herausgabe bis auf Null reduziert, verweist die Begründung auf die Folter. Diese Verletzung der Menschenrechte des Betroffenen muss aber gemäß Paragraf 32 Absatz 3 Nr. 4 S. 3 (neu) erkennbar sein. Eine Beweislastumkehr zu Lasten der Behörde, der zufolge beispielsweise Helmut Kohl oder andere die Menschenrechtswidrigkeit der Informationsbeschaffung behaupten können, gibt es nicht.
Bei der im Einzelfall durchaus schwierigen Abwägung wird auch zu berücksichtigen sein, in welchem Zusammenhang die Stasi gegen den Betroffenen vorgegangen ist. Der Grund für die Untauglichkeit des Begriffs „Opfer“, der dem Gesetz fremd ist, liegt gerade in deren Vielschichtigkeit. Ob ein Spitzel lediglich auf seine Zuverlässigkeit überprüft, oder eine perfide Zersetzungsmaßnahme gegen einen Regimegegner unternommen wurde: all dies muss in den Abwägungsprozess einbezogen werden. Das Gesetz weist hier den richtigen Weg einer sorgfältigen Abwägung im Einzelfall. Helmut Kohl wird hier wie alle anderen auch seine Rechte im Verfahren wahrnehmen können. Mit seiner Sonderrolle ist es aber nun zu Ende.
1 Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass nach Schätzung der Bundesbeauftragten maximal zwei Prozent der Menschen im Osten dem MfS Zuträgerdienste geleistet hat. Unzählige Dokumente zeigen, wie sehr sich viele Menschen gegen die Zudringlichkeiten des MfS zur Wehr gesetzt haben. Auch das ist ein wichtiger Teil der Geschichte und ihrer Aufarbeitung. Die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter von damals versuchen heute — zu Lasten ihrer Opfer — die Menschen in den neuen Bundesländern in einer künstlich entwickelten „Schicksalsgemeinschaft“ haftbar zu machen für ihr eigenes Verhalten in der Vergangenheit. Ein Großteil der DDR-Bevölkerung war aber von den Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit (MfS/AfNS) als Opfer betroffen.
Literatur
Knabe, Wilhelm 2002: Schreiben an den Innenausschuss des Deutschen Bundestages vom 24. April 2002; veröffentlicht im Protokoll der Anhörung des Innenausschusses vom 25. April, S. 176.
Stoltenberg, Klaus 1992: Die historische Entscheidung für die Öffnung der Stasi-Akten —Anmerkungen zum Stasi-Unterlagengesetz; in: Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift 3/1992, S.65ff.