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Auch für die Kirchen gelten die Grundrechte – jedenfalls manchmal

19. März 2003

Grundrechte-Report 2003, S. 190-193

Dass die Kirche sich nicht um die Grundrechte zu kümmern braucht, gilt weithin als selbstverständlich: Frauen können unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Artikel 3 GG in der Katholischen Kirche weder Priester noch Bischof werden, katholische Pastoren dürfen – ein Verstoß gegen Artikel 6 GG (Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung) – keine Ehe schließen, Gewerkschaften dürfen unter Verstoß gegen Artikel 9 Abs. 3 GG (das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.) weder innerhalb der Katholischen noch der Protestantischen Kirche tätig werden. All dies wird damit gerechtfertigt, dass nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Weimarer Verfassung die Freiheit der Religionsgesellschaften gewährleistet ist und jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet. Mit Beschluss vom 19. August 2002 (Az. 2 BvR 453/01) hat das Bundesverfassungsgericht aber nun wenigstens für einen Teilbereich der kirchlichen Tätigkeit die Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes festgestellt: Im Jahr 1977 hatten sich fünf evangelisch-lutherische Kirchen zur Nordelbischen evangelischlutherischen Kirche zusammengeschlossen (NEK), die das Gebiet von Hamburg und Schleswig-Holstein abdeckt. Und da in Hamburg vorher ein Kirchensteuersatz von 8 Prozent galt, in Schleswig- Holstein von 9 Prozent, sieht das Kirchensteuergesetz der NEK weiterhin unterschiedliche Kirchensteuersätze vor. Ein Mitglied der NEK in Schleswig-Holstein wollte nicht einsehen, dass es 9 Prozent Kirchensteuer zahlen musste, während seine Brüder und Schwestern in Hamburg nur 8 Prozent zahlten. Es klagte wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz gegen den Steuerbescheid, verlor vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht und gewann vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht.

Dagegen legte die NEK, nachdem ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vom Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen worden war, Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe mit der Begründung ein, dass sie das Recht nach Art. 137 Weimarer Verfassung habe, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, und dass sie dabei folglich nicht an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden sei. Die Differenzierung des Kirchensteuersatzes sei im Übrigen auch berechtigt, da das Durchschnittseinkommen der Kirchenmitglieder in Hamburg höher sei als in Schleswig-Holstein und deshalb dort ein niedrigerer Kirchensteuersatz zur Finanzierung der kirchlichen Aufgaben ausreichend sei.

Das Bundesverfassungsgericht ist dem entgegengetreten. Zwar können die Kirchen grundsätzlich ihre Angelegenheiten selbständig regeln, aber innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Und wenn die Kirchen nach der Verfassung das Privileg in Anspruch nehmen, öffentlich-rechtliche Körperschaften – und damit Teil des Staates – sein zu wollen, und wenn sie als solche staatliche Hoheitsgewalt auch zur Durchsetzung ihrer Steuern in Anspruch nehmen wollen, dann sind sie an die grundgesetzliche Ordnung, vor allem an die Grundrechte, gebunden. «Die Religionsgemeinschaften können nicht erwarten, dass der Staat ihnen seine Hoheitsgewalt zur Verfügung stellt oder sie bei der Durchsetzung von Maßnahmen unterstützt, wenn hierauf gerichtete staatliche Akte zu einer Grundrechtsverletzung führen müssten. Andernfalls würden staatliche Stellen entgegen Artikel 1 Abs. 3 Grundgesetz von ihrer strikten Bindung an die Grundrechtsordnung
befreit.»

Mit anderen Worten: Man kann nicht alles gleichzeitig haben – die Privilegien einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und staatlicher Hoheitsgewalt und gleichzeitig von öffentlich-rechtlichen Bindungen – den Grundrechten – befreit zu sein. Den «Ausweg» zeigt das Bundesverfassungsgericht den christlichen Kirchen auch auf: «Wollen sie diese Bindung vermeiden, müssen sie sich der Finanzierung durch private Mitgliedsbeiträge bedienen » – wie jede sonstige gesellschaftliche Gruppierung oder Vereinigung.

Kühn war unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes des Artikel 3 Grundgesetz die Argumentation der Kirche, der niedrigere Steuersatz in Hamburg sei gerechtfertigt, weil die Kirchenmitglieder dort mehr verdienen und deshalb auch ein niedrigerer Steuersatz höhere Steuereinnahmen bringt. Diese Argumentation gerät gemäß Bundesverfassungsgericht «in Konflikt mit Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz, der im Steuerrecht eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen gebietet.» Dass die Kirche die Richtungsbestimmung des staatlichen Bundesverfassungsgerichts benötigte, um zu erkennen, dass weniger verdienende Mitbürger nicht mit einer höheren Steuer bestraft werden dürfen, ist angesichts der Aussagen der Bibel erstaunlich.

Mittlerweile hat die NEK einen einheitlichen Steuersatz von 9 Prozent für Hamburg und Schleswig-Holstein beschlossen.

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