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Kopftuch­de­batten – und kein Ende

04. Mai 2017

Sabine Berghahn

in: vorgänge Nr. 217 (Heft 1/2017), S. 31-46

Die Frage, wie Beschäftigte ihr Äußeres gestalten dürfen, war schon vor der Kopftuchdebatte ein Thema (lange Haare, Tätowierungen etc.). Aber erst mit dem Kopftuch erlangte die Diskussion verfassungsrechtliche Brisanz. In der Bundesrepublik schien die Frage nach der Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahre 2015 beantwortet. Kürzlich hat aber der Europäische Gerichtshof das Thema erneut auf die Tagesordnung gebracht. Der Beitrag zeichnet die Entscheidungen kritisch nach und lotet aus, wie mit den jüngsten Urteilen umgegangen werden könnte.

1. Einleitung

Das islamische Kopftuch ist eine Alltagserscheinung. Überall in Deutschland und Europa – in manchen Städten mehr, in anderen weniger – sind Frauen und Mädchen im öffentlichen Raum zu sehen, die ihr Haar, den Hals und die Ohren bedecken. Bei erwachsenen Frauen lässt sich – trotz der Vielfalt möglicher Motive – zumindest schließen, dass sie sich zur Bedeckung verpflichtet fühlen und als gläubige Musliminnen erkennbar sein wollen.(1) Muslimische Studentinnen, Referendarinnen, Lehrerinnen, Rechtsanwältinnen und andere Frauen mit Kopftuch symbolisieren die Qualifikations- und Aufstiegsorientierung junger Muslimas in akademischen Ausbildungen oder Berufspositionen. Aber diese Frauen dürften sich des beruflichen und gesellschaftlichen Diskriminierungsrisikos bewusst sein. Am Beispiel angehender Lehrerinnen, die allein wegen ihres Kopftuchs auf Ablehnung bei staatlichen Einstellungsbehörden stießen, wird das Stigma anschaulich. Es droht ihnen eine Art Berufsverbot (Berghahn 2013; Boos-Niazy 2011), wie das Beispiel Fereshta Ludins bereits vor 20 Jahren zeigte, die in Baden-Württemberg nicht Lehrerin an einer staatlichen Schule werden durfte (Ludin 2015).

Hoffnungen setzten Musliminnen mit Hijab, wie das Kopftuch auch genannt wird, jahrelang in die europäische Antidiskriminierungspolitik und -rechtsprechung, namentlich in den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, der als Hüter der europäischen Verträge und Richtlinien, also auch der Antidiskriminierungsrichtlinien (2) gilt. Jedoch blieben Vorlagen nationaler Gerichte gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zum Thema Kopftuch lange aus, statt dessen wendete in Deutschland der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Januar 2015 das Blatt und revidierte die pauschale gesetzliche Verbotsmöglichkeit für das „Kopftuch der Lehrerin“, die der Zweite Senat im September 2003 eröffnet hatte (ausführlich: Berghahn 2008; 2017).(3) Im Vergleich zum Kopftuch von Lehrerinnen und anderen Staatsbediensteten galt das Kopftuchtragen von Arbeitnehmerinnen in der Privatwirtschaft juristisch als unproblematischer, zumal seit August 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Deutschland gilt und für das Arbeits- und Teile des Zivilrechts ein Verbot der Benachteiligung u.a. wegen der Religion ausspricht. Das AGG setzte die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht um und verbietet sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen. Verschiedene Gerichte, auch das Bundesarbeitsgericht (BAG), haben daher – zum Teil vor Inkrafttreten des AGG – zugunsten einer grundsätzlichen Tolerierung des islamischen Kopftuchs von Beschäftigten in privaten Unternehmen entschieden (s. 5.).

Aus aktuellem Anlass werden zunächst die am 14. März 2017 ergangenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu privatwirtschaftlichen Vorlagefällen aus Belgien und Frankreich vorgestellt (2). Danach sollen die deutschen Rechtsprechungsergebnisse zu anderen Facetten des Kopftuchs betrachtet werden: Ein Merkmal der deutschen Debatte war es in der Vergangenheit, dass sie hauptsächlich vom Streit um das „Kopftuch der Lehrerin“ beherrscht wurde (3). In jüngerer Zeit schiebt sich nun das „Kopftuch der Richterin“ in den Mittelpunkt der politischen und juristischen Aufmerksamkeit (4). Anschließend kehrt das Kopftuch in der Privatwirtschaft noch einmal in den Fokus dieses Beitrags zurück; mit aller Vorsicht soll ausgelotet werden, wie in Deutschland mit den jüngsten Luxemburger Urteilen umgegangen werden könnte (5).

2. Neues aus Luxemburg: Der Europäische Gerichtshof entscheidet zugunsten einer unter­neh­me­ri­schen Verbots­mög­lich­keit

Während die Kopftuchproblematik aus deutscher Sicht als (nahezu) ausdiskutiert und durch Rechtsprechung sowohl im staatlichen Schulbereich als auch in der Privatwirtschaft als weitgehend geklärt gilt, hat nun der Europäische Gerichtshof das zweifelhafte Kunststück vollbracht, mit seinen Entscheidungen vom 14. März 2017 die Karten noch einmal neu zu mischen. Vordergründig beschränkt sich der Entscheidungssatz, mit dem die Pressemitteilung des Gerichtshofs(4) und die Entscheidung zum belgischen Vorlagefall selbst(5) überschrieben sind, auf einen Teilaspekt der juristischen Problematik: „Eine unternehmerische Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar.“ Entscheidend für die Möglichkeit, das islamische Kopftuch am Arbeitsplatz zu verbieten, soll demnach sein, ob es in dem konkreten Unternehmen eine interne Regelung gibt, die den Beschäftigten, „insbesondere“ wenn sie im Kontakt mit Kunden stehen, wirksam untersagt, sichtbare religiöse, weltanschauliche oder politische Bekenntnisse oder rituelle Bekundungen abzugeben. Eine solche Möglichkeit zu schaffen erwachse aus dem unternehmerischen Recht, die Außendarstellung gegenüber Kunden und Öffentlichkeit zu gestalten und den Beschäftigten im Rahmen des sog. Direktionsrechts Vorgaben zu deren Verhalten und Outfit zu machen.

Im belgischen Vorlagefall(6) ging es um die Frage, ob ein Unternehmen durch ein pauschales Verbot für die Beschäftigten, sichtbare religiöse, weltanschauliche oder politische Zeichen am Körper zu tragen, das Kopftuchtragen wirksam verbieten kann. Die Klägerin, Samira Achbita, war Rezeptionistin einer Sicherheitsfirma (G4S Secure Solutions), die auch Empfangsdienste anbietet. Sie wurde schließlich gekündigt wegen ihrer Weigerung, das Kopftuch abzunehmen. Auch im französischen Fall(7) erhielt eine Frau als Software-Designingenieurin am Ende die Kündigung. Ein Kunde der IT-Firma Micropole AS hatte sich beschwert, nachdem deren Mitarbeiterin Asma Bougnaoui mit Kopftuch zur Beratung erschienen war. In Zukunft wollte der Kunde dies nicht mehr akzeptieren, Frau Bougnaoui jedoch auch in Zukunft nicht auf ihre Kopfbedeckung verzichten, worauf ihr die IT-Firma kündigte.

Interessanterweise plädierten die beiden Generalanwältinnen am EuGH gegensätzlich: Die deutsche Generalanwältin, Juliane Kokott, hielt eine pauschale betriebliche Regelung, mit der sichtbare religiöse Zeichen oder Kleidungsstücke verboten werden, für eine nur mittelbare Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG und im Ergebnis für gerechtfertigt.(8) Als Begründung führte sie ein Recht des Unternehmers an (gemäß Art. 16 EU-GR-Ch), der im Rahmen seines sog. Direktionsrechts(9) eben auch ein „neutrales“ Unternehmensprofil durchsetzen dürfe, so wie andere Unternehmen ein Profil der „Vielfalt“ realisieren dürften. Dieses Recht des Unternehmers sei gegenüber dem Recht der Angestellten auf Nichtdiskriminierung wegen der Religion als gewichtiger einzuschätzen, weil das Kopftuchtragen lediglich eine Art „Brauch“ und auf die Freizeit beschränkbar sei. Im Gegensatz dazu seien unabänderliche Merkmale wie das Geschlecht, die Hautfarbe oder die sexuelle Orientierung untrennbar mit der Person verbunden und könnten daher nicht „an der Garderobe abgegeben werden“.(10) Jedenfalls müssten sich Beschäftigte „im Verhalten“ zurückhalten, und das Nichtbedecken der Haare könne als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie interpretiert werden.

Dagegen stufte die britische Generalanwältin Eleanor Sharpston im französischen Fall die Kündigung als unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion ein und lehnte im Einklang mit der Richtlinie eine Rechtfertigungsmöglichkeit ab. Auch betonte sie, dass das Kopftuch für seine Trägerinnen in der Regel als bindende religiöse Pflicht angesehen werde, so dass auch das Kopftuch – anders als es die deutsche Generalanwältin behauptet hatte – nicht „an der Garderobe abgegeben“ werden könne. Die Antidiskriminierungsrichtlinien der EG bzw. EU seien gerade dazu geschaffen worden, um solche Benachteiligungen zu verhindern; nicht dazu, unternehmerische Rechte aus wirtschaftlicher Rücksichtnahme auf Kunden (und ihre Vorurteile) auszudehnen und die Rechte potenziell diskriminierter Arbeitnehmer_innen einzuschränken.(11) Im Ergebnis folgte der Gerichtshof im französischen Fall der Einschätzung der britischen Generalanwältin und stufte die Kündigung von Frau Bougnaoui als verbotene unmittelbare Diskriminierung ein, da das IT-Unternehmen kein internes Verbot sichtbarer Zeichen besaß und der Verweis auf Kundenwünsche für ein Kopftuchverbot nicht ausreiche.(12) Der EuGH hatte bereits 2008 im Fall Feryn eine Rechtfertigung der Diskriminierung von Arbeitskräften einer bestimmten ethnischen Herkunft aufgrund von Kundenaversionen abgelehnt.(13)

2.1 Kopftuch­verbot lediglich mittelbare Diskri­mi­nie­rung, bei „interner Regel“ leichter zu recht­fer­ti­gen?

In der Privatwirtschaft – das beweisen Untersuchungen über Bewerbungschancen, Testingverfahren und Befragungen Betroffener – gibt es noch immer viel antimuslimische Diskriminierung. Mit Kopftuch eine qualifizierte Stelle zu finden ist besonders schwer, weil die Sichtbarkeit des religiösen Bekenntnisses meist negativ ins Gewicht fällt. Zudem werden Bewerberinnen wegen der zugeschriebenen Symbolik des Kopftuchs rückständige und gleichberechtigungswidrige Einstellungen zum Geschlechterverhältnis, politischer Fundamentalismus oder noch Schlimmeres unterstellt. Zum Beweis des Gegenteils erhalten die Betroffenen meist keine Chance. Aber auch konservative Ansichten wären nicht unbedingt ein legitimer Grund, eine Kopftuchträgerin zu diskriminieren, wenn gewährleistet ist, dass sie ihren Job ordnungsgemäß und im Einklang mit den beruflichen Anforderungen ausübt (vgl. Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG sowie § 8 AGG).

Der EuGH hat nun am 14. März 2017 – zwar mit gewissen Einschränkungen, aber doch im Ergebnis klar – zugunsten einer vom jeweiligen Willen des Unternehmers abhängigen Möglichkeit zum Verbot sichtbarer religiöser, philosophischer (weltanschaulicher) oder politischer Zeichen entschieden. Gegenüber dem Schlussantrag der Generalanwältin Kokott nahm der Gerichtshof kleine Einschränkungen vor. Eine Begrenzung der Verbotsmöglichkeit besteht darin, dass das Verbot „insbesondere“ für Arbeitsplätze mit Sichtkontakt zu Kunden gelten darf.(14) Die beklagte Firma des belgischen Ausgangsverfahrens wird daher aufgefordert zu prüfen, ob sie Samira Achbita einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt zu Kunden anbieten kann. Eine andere Einschränkung hatte auch schon die Generalanwältin betont, dass nämlich das von ihr als „generelle betriebliche Regelung“ und vom EuGH als „interne Regel“ bezeichnete Verbot seinerseits diskriminierungsfrei sein müsse, ohne dass spezifische Vorurteile gegen Musliminnen beim Zustandekommen oder bei der Durchführung eine Rolle spielen dürften.(15) Hier ergibt sich allerdings ein schwerwiegender materiell-rechtlicher Selbstwiderspruch, wenn man mit guten Gründen der Ansicht ist, dass bereits das Kriterium der „Sichtbarkeit“ religiöser Zeichen oder Kleidungsstücke die Diskriminierung von Angehörigen solcher Religionen ausmacht, die äußerlich sichtbare Bedeckungs- oder Bekenntnisformen fordern.

Die „interne Regel“ im Betrieb oder Unternehmen, die neben sichtbaren religiösen auch sichtbare philosophische (weltanschauliche) oder politische Bekenntnisse und Riten erfasst, muss entsprechend den Vorgaben der Generalanwältin und des Gerichtshofs so beschaffen sein, dass sie keine gezielte Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen darstellt. Der zu beurteilende Wortlaut im Fall der Sicherheitsfirma erfülle die Anforderung der Diskriminierungsfreiheit schon deshalb, weil es nicht allein um die Religion als solche gehe, sondern nur um eine Sichtbarmachung von religiösem oder sonstigem Bekenntnis. Das sei allenfalls eine mittelbare Diskriminierung, also eine Benachteiligung als Folge neutraler Kriterien und faktischer Umstände. Diese mittelbare Diskriminierung könne aber im Regelfall durch die unternehmerische „Neutralitätspolitik“ gerechtfertigt werden. Der Gerichtshof formulierte zusätzlich zu den Anforderungen der Generalanwältin, dass sich die Anforderung eines neutralen Erscheinungsbildes der Beschäftigten aus dem unternehmerischen Verhältnis zu seinen Kunden sachlich rechtfertigen lassen müsse.(16) Nur dann könne sich die Anforderung, kein Kopftuch oder andere Bekenntniszeichen zu tragen, als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung verstehen lassen.

Es liegt auf der Hand, dass gläubige muslimische Frauen, die sich durch die islamische Bedeckungsregel verpflichtet fühlen, ein Kopftuch zu tragen, durch eine solche interne Regelung von Firmen gravierend benachteiligt werden; und es ist auch offenkundig, dass sich eine solche „Neutralitätspolitik“ faktisch durchaus vor allem gegen muslimische Bewerberinnen und Beschäftigte mit Kopftuch richtet, denn Angehörige anderer Religionen, die sich dazu verpflichtet fühlen, sichtbare Attribute ihres Glaubens zu tragen, gibt es in der europäischen Arbeitswelt eher selten. Allenfalls wären es Angehörige einer anderen religiösen Minderheit, wie z.B. männliche Sikhs mit Turban oder Juden mit Kippa. Musliminnen mit Kopftuch gibt es demgegenüber deutlich öfter, und es ist kein Geheimnis, dass sie – je nach Umgebung – ohnehin angefeindet und diskriminiert werden (vgl. Cetin 2016; Boos-Niazy 2016a; Weichselbaumer 2016). Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, den Arbeitsplatz zu verlieren bzw. aus dem Kundenbereich entfernt zu werden oder ihr Kopftuch abzulegen, geraten sie in einen inneren Konflikt, dem sie nicht ohne persönlichen Nachteil entgehen können. Dass hier ein unmittelbarer Bezug zu ihrer Religion besteht, wurde von der deutschen Generalanwältin bestritten, auch wenn sie einräumte, dass die Einstufung eines Kopftuchverbots als unmittelbare Diskriminierung in Europa von vielen Expert_innen, Gerichten und beteiligten Staaten bejaht wird. Der EuGH folgte dennoch der deutschen Generalanwältin und stufte das Verbot sichtbarer religiöser Zeichen oder Kleidung als lediglich mittelbare Diskriminierung ein, während er das individuelle Kopftuchverbot wie im französischen Fall als unmittelbare Diskriminierung ansah. Die Differenzierung bringt es mit sich, dass für die mittelbare Diskriminierung eine Rechtfertigung zugelassen wird, die bei unmittelbaren Diskriminierungen praktisch ausgeschlossen ist. Die Rechtfertigung durch ein rechtmäßiges Ziel soll im Fall einer „internen Regel“ eben jene „Neutralitätspolitik“ des Unternehmens gegenüber Kunden sein. Jedoch müssten die Mittel zur Erreichung des Ziels angemessen und erforderlich sein.

2.2 Spielräume für nationale Recht­spre­chung

Die Entscheidung darüber, ob dies im konkreten Fall zutrifft, weist der Gerichtshof ausdrücklich den vorlegenden nationalen Gerichten und konkret dem belgischen Kassationshof zu. Für die nationalen Gerichte ist das eine neue Situation. Bislang ging man davon aus, dass Unternehmen sogar Uniformen für ihre Beschäftigten verordnen können, gläubigen Musliminnen in diesem Fall aber ermöglichen müssen, eine Kopfbedeckung im Design der Jobuniform zu tragen.(17) Nun ist zu befürchten, dass Unternehmen im allgemeinen Klima antimuslimischer Ressentiments, wenn sie das Kopftuchtragen und die Anstellung von bedeckten Musliminnen vermeiden wollen, sich eine generell gemeinte, interne unternehmerische Verbotsregelung für sichtbare u.a. religiöse Bekenntnisse geben und möglichst für jede Tätigkeit – schon in der Stellenausschreibung – Kundenkontakt ankündigen. Das dürfte Musliminnen mit Kopftuch bereits abschrecken, sich zu bewerben. Auf diese Weise könnten Unternehmen leicht das Diskriminierungsverbot wegen der Religion und auch wegen des Geschlechts unterlaufen. Ein gerichtliches Vorgehen dagegen wäre relativ anspruchsvoll. Gibt es gar keine Musliminnen mit Kopftuch im Betrieb oder Unternehmen und auch keine klagenden Bewerberinnen, so sind den Gerichten in Rechtssystemen mit lediglich individueller Klagebefugnis – wie in Deutschland gemäß dem AGG – ohnehin die Hände gebunden. Ein Gerichtsverfahren ohne konkret benachteiligte Klägerin käme nicht zustande. Ohne eine echte Verbandsklage oder eine staatliche Stelle mit Klagebefugnis gegen die Praktik an sich könnte eine solche mittelbare Diskriminierung also gar nicht geprüft werden. Ob die nationalen Gerichte in den Mitgliedstaaten somit in der Lage sein werden, solchen faktischen Ausschlussregelungen und antimuslimischen Abschottungsmanövern überzeugend zu begegnen, ist äußerst fraglich.

3. Nach zwei Entschei­dungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zum „Kopftuch der Lehrerin“: grund­sätz­liche Klarheit, aber partielle Obstruktion!

In die umgekehrte Richtung verlief die Entwicklung bei Lehrerinnen mit Kopftuch in Deutschland. Fereshta Ludin, die 1998 in Baden-Württemberg nicht Lehrerin werden durfte, fand 2003 beim Bundesverfassungsgericht zwar Gehör, errang aber nur einen „halben Sieg“. Das Gericht attestierte ihr eine Verletzung ihres Grundrechts auf Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG), denn es gab damals keine gesetzliche Grundlage für ein Verbot religiös motivierter Kleidung im Schuldienst des Landes. Die andere Hälfte des Urteils aber erlaubte den Bundesländern pauschale schulgesetzliche Verbote für religiös oder weltanschaulich motivierte Kleidung oder am Körper getragene Symbole.(18) Damit dürfe die „abstrakte Gefahr“, die im Kopftuch gesehen werden könne, gebannt werden. Die abstrakte Gefahr des Kopftuches – so das Gericht – könne angesichts der zunehmenden religiösen Vielfalt für den Schulfrieden und/oder die staatliche Neutralität gesehen werden sowie für die „negative“ Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler oder Eltern. Mit Letzterem ist das Recht gemeint, nicht missioniert oder indoktriniert zu werden, insbesondere nicht in der Schule, wo Schulpflicht herrscht und ein Ausweichen nicht möglich ist.(19)

Auf der Grundlage dieser Entscheidung verabschiedeten acht Landesparlamente in den Jahren 2004 bis 2006 pauschale Verbotsregelungen für den Schulbereich, in Berlin und Hessen auch darüber hinaus für einige hoheitliche und sichtbare Staatsberufe (Berlin) bzw. für Beamte generell (Hessen). In manchen Ländern wurde auch Erzieherinnen in Kindertagesstätten das Kopftuchtragen verboten oder erschwert. Die folgende Zeit wurde für die wenigen Lehramtsbewerberinnen und praktizierenden Lehrerinnen, die das Kopftuch nicht ablegen wollten, zu einer Zeit der beruflichen Exklusion, nicht nur in den acht Bundesländern mit Verbotsgesetzen. Für Bewerberinnen mit Kopftuch bedeutete die Gesetzeslage in der Hälfte der Länder eine Art Berufsverbot in staatlichen Schulen, und für die Wenigen, die schon oder noch als Lehrerinnen oder Schulsozialpädagoginnen arbeiteten, eine ständige Bedrohung. In etlichen Fällen kam es zu Entlassungen bzw. Kündigungen. Der Weg vor die Fachgerichte erbrachte für die meisten Klägerinnen keinen Erfolg, aber zwei Musliminnen aus Nordrhein-Westfalen (NRW) erhoben 2010 erneut Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe. Damit kam im Januar 2015 die Wende: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts revidierte am Beispiel des Schulgesetzes von NRW das Urteil des Zweiten Senats von 2003. Fortan galt, dass eine „konkrete“ Gefahr für Grundrechte von Schüler_innen oder Eltern oder die gefährdeten Allgemeingüter Schulfrieden und staatliche Neutralität vorliegen und nachgewiesen werden muss, damit ein individuelles Kopftuchverbot ausgesprochen werden darf. Grundsätzlich sei das Kopftuchtragen für eine Lehrerin im Unterricht zulässig. Entsprechendes gelte natürlich auch für andere Bekenntnisformen wie die jüdische Kippa oder das christliche Kreuz an der Halskette.(20)

Das pauschale gesetzliche bzw. administrative Verbot, äußerliche Zeichen eines religiösen Bekenntnisses zu tragen, wurde als Grundrechtsverletzung gewertet. Eine Gesetzesänderung hielt der Erste Senat aber nicht für unbedingt erforderlich, denn das Schulgesetz von NRW (§ 57) könne „verfassungskonform“ interpretiert werden. Bei Einwänden und Vorwürfen gegen eine Lehrerin sei eine Einzelfallabwägung stets erforderlich, wobei dem Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG), auf das sich Kopftuchträgerinnen berufen, großes Gewicht beigemessen werden müsse. Der Erste Senat erklärte allerdings für extreme Ausnahmefälle, wenn es in größerem Umfang zu ernsten Konflikten und Konfrontationen an einer Schule kommen sollte, eine – zumindest vorübergehende – Untersagung des Kopftuchtragens als ultima ratio für zulässig. Gleichwohl kehrte der Erste Senat die Entscheidungsrichtung gegenüber dem problematischen Kompromiss des Zweiten Senats von 2003 um und stellte die Rechtslage sozusagen „vom Kopf wieder auf die Füße“.(21)

Für Erzieherinnen in öffentlichen Kindertagesstätten (Kitas) hat das Bundesverfassungsgericht mit einer Kammerentscheidung vom 18. Oktober 2016(22) noch einmal die Grundsätze der zweiten Kopftuchentscheidung vom 27. Januar 2015 bekräftigt. Es ging um eine Erzieherin in einer Stuttgarter Kita in kommunaler Trägerschaft, die wegen ihrer islamischen Kopfbedeckung eine Abmahnung erhielt. Dagegen ging sie gerichtlich vor, verlor aber in den drei Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die zweite Kammer des Ersten Senats gab ihr nun erstmals Recht: Ihr Grundrecht aus Art. 4 GG sei verletzt worden. Das baden-württembergische Kita-Gesetz mit seiner Verbotsklausel (§ 7), die der 2004 eingeführten Verbotsklausel im Schulgesetz nachgebildet war, sei wegen des pauschalen Charakters der Norm verfassungswidrig und müsse im Einzelfall verfassungskonform angewandt werden.

Die im Anschluss an die zweite Karlsruher Senatsentscheidung von 2015 vorgenommenen Anpassungen der Schul-, Kita- oder Beamtengesetze bestanden außer in NRW meist nur in administrativen Runderlassen. In einzelnen Bundesländern mit Verbotsgesetzen änderte sich gar nichts, und es blieb bisweilen unklar, wie z.B. in Bayern und im Saarland, ob Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürfen oder nicht (Boos-Niazy 2016b, S. 6, 9; Follmar-Otto 2015). Gleichwohl sollen aber in den meisten der acht Länder mit Verbotsgesetzen inzwischen einige Bewerberinnen mit Kopftuch eingestellt worden sein. Hartnäckiger Widerstand gegen deren Zulassung kommt erstaunlicher Weise aus dem Land Berlin, wo sich der Senat bislang einer Liberalisierung des Verbots „sichtbarer“ religiöser oder weltanschaulicher Zeichen im sog. Neutralitätsgesetz verweigert, obwohl der Wissenschaftliche Dienst des Berliner Abgeordnetenhauses dringenden Änderungsbedarf feststellte (Wissenschaftlicher Dienst 2015). Nach dem Wechsel von der großen (rot-schwarzen) Koalition zur rot-rot-grünen Koalition 2016 sperrt sich nur noch die SPD gegen eine Anpassung an den verfassungsgerichtlichen Beschluss.(23) Und so gibt es in unseren Tagen wieder eine ausgebildete Pädagogin mit Kopftuch, die allein wegen ihrer Kopfbedeckung nicht Grundschullehrerin werden darf. Unter Berufung auf das AGG klagt sich diese Bewerberin durch die Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit. In erster Instanz verlor sie,24 in zweiter Instanz gewann sie den Prozess und bekam eine Entschädigung in Höhe von zwei Monatsgehältern zugesprochen.(25) Wenn das Land Berlin Revision beim Bundesarbeitsgericht einlegt, geht der Prozess weiter. Für betroffene Bewerberinnen verzögert sich so die Klärung der Rechtslage und verbaut ihnen u.U. eine berufliche Zukunft als Lehrkraft.

Auch Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch machen von sich reden: Wiederum in Berlin stellte Betül Ulusoy 2015 die Praxis des Berliner Bezirksamts Neukölln in Frage, welches über das sog. Neutralitätsgesetz hinaus zunächst kategorisch keine Kopftuchträgerin, nicht einmal als kurzzeitige Referendarin für die Verwaltungsstation, einstellen wollte.(26) 2016 wurde außerdem der Fall einer Rechtsreferendarin in Bayern publik, der das Verwaltungsgericht Augsburg Recht gab, ihr Kopftuch im Dienst zu tragen.(27)

4. Das Kopftuch der Richterin, Staats­an­wältin oder Polizistin

Aktuelle juristische Debatten drehen sich zunehmend um die Frage, ob Richterinnen, Staatsanwältinnen und andere Vertreterinnen von Staatsberufen, die mit deutlich hoheitlichen Funktionen und Insignien des Gewaltmonopols ausgestattet sind, nach den vom BVerfG liberalisierten Grundsätzen ein Kopftuch tragen und ihr religiöses Bekenntnis sichtbar zum Ausdruck bringen dürfen.

Die Diskussion ist bislang nur eine hypothetische. Aber die erwähnte Rechtsreferendarin, die einen Erfolg beim Verwaltungsgericht Augsburg erzielte (s.o.), hat sozusagen im Vorhof des Richteramtes ihren Anspruch deutlich gemacht, ihr Kopftuch auch im Gerichtssaal zu tragen. Das Oberlandesgericht München, welches die Rechtsreferendarausbildung in Bayern leitet und anleitet, verfügte 2008, dass Rechtsreferendarinnen im Gerichtssaal ihr Kopftuch ablegen müssen, wenn sie in richterlicher oder staatsanwaltlicher Funktion auftreten, z.B. Zeugen vernehmen. Das Verwaltungsgericht Augsburg verneinte jedoch eine solche Obliegenheit, weil es an einer gesetzlichen Grundlage fehle. Auch hier wurde eine Entschädigung wegen der Diskriminierung zugesprochen.

Rechtsreferendar_innen befinden sich in einer praktischen Ausbildung, die monopolartig unter staatlicher Verantwortung durchgeführt wird, das gleiche gilt für Studienreferendar_innen. Für diese haben die entsprechenden Verbotsgesetze und auch verschiedene Gerichte bereits vor der normativen Wende des Bundesverfassungsgerichts von 2015 Ausnahmen zugelassen, denn bei dem Vorbereitungsdienst für das zweite Staatsexamen geht es auch um die Gewährleistung des Grundrechts auf Berufswahl und Berufsausbildung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG. Referendar_innen agieren jedoch nicht auf Dauer im Staatsdienst und werden zudem engmaschig von ihren Ausbildern überwacht.

Strenger sehen manche Vertreter des Staates und der Justiz, aber auch viele andere Meinungsträger daher die Frage, ob auch auf Lebenszeit bestallte Richterinnen, Staatsanwältinnen oder Polizistinnen, d.h. Amtsträgerinnen, die die Hoheitlichkeit der Staatsgewalt nach außen symbolisieren, ein Kopftuch oder andere religiöse Zeichen tragen dürfen. Zwar gibt es bislang keinen Fall dieser Art, in juristischen Publikationen und rechtswissenschaftlichen Internet-Blogs entbrannte aber dennoch eine Grundsatzdiskussion über dieses Thema.

Gegenüber stehen sich die Ansicht, einfach den Grundsätzen des BVerfG vom Januar 2015 zu folgen, sowie die Gegenansicht, die eine „striktere“ und „distanzierende“ Neutralität für derart herausgehobene hoheitliche Funktionen fordert.(28) Der staatliche und der weltanschaulich-religiöse Verhaltensbereich sollen nach dieser Ansicht beim persönlichen Auftritt einer Richter_in strikt getrennt sein. Ein solches Verständnis wird zum Teil in der juristischen Literatur gefordert (Überblick vgl. Wiese 2008), zum Teil wird sogar eine „personale Nichtidentifikation“(29) gefordert. Für eine Übertragung der liberalen Grundsätze des Ersten Senats auf Justiz, Polizei und weitere Bereiche spricht allerdings die Grundsätzlichkeit der in Karlsruhe herausgearbeiteten Kriterien (individuelle Einzelfallprüfung, konkrete Gefahr, Verhältnismäßigkeit) und die Bindungskraft des Beschlusses (vgl. § 31 BVerfGG), der somit Geltung für alle Staatsdiener_innen beanspruchen kann. Die Kriterien der Einzelfallabwägung und der konkreten Gefahr stellen eigentlich Kernelemente der liberalen Rechtsstaatlichkeit dar, waren aber aus Gründen der Mehrheitsbeschaffung im Zweiten Senat mit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung von 2003 kompromissartig modifiziert worden. 

Die Gegner der Übertragung der liberalen Grundsätze der zweiten verfassungsgerichtlichen Entscheidung auf den Justizbetrieb fürchten um die Akzeptanz und das Ansehen der Justiz, insbesondere der Richterschaft. Sie meinen, dass sich die staatliche Neutralität und die Unabhängigkeit der Gerichte auch im äußerlichen Erscheinungsbild der Richter_innen und Staatsanwält_innen ausdrücken sollten, wenn schon bei ehrenamtlichen Richter_innen (Schöffinnen) (Wiese 2017) ein Kopftuch meist geduldet wird und Rechtsanwältinnen, die zwar „Organe der Rechtspflege“ sind, aber einen „freien Beruf“ ausüben, das Kopftuch nicht verboten werden kann. Dies werde von den Bürger_innen erwartet. So begründet z.B. Tatjana Hörnle, Rechtsprofessorin an der Berliner Humboldt-Universität, „warum Vertrauen in die Neutralität der Justiz ein schützenswertes Verfassungsgut ist“ (Hörnle 2017). Aqilah Sandhu, die als Rechtsreferendarin das Augsburger Urteil erstritt, kontert kritisch, dass es höchst zweifelhaft sei, ob der bloß äußerliche „Anschein der Neutralität“ als schützenswertes Verfassungsgut definiert werden könne (Sandhu 2017). Vielmehr drücke sich Neutralität im Agieren, d.h. Reden und Handeln der Person aus.

Neutralität bedeutet – gemäß der Definition des BVerfGs – im Wesentlichen die Nicht-Identifikation des Staates mit partikularen Bekenntnissen oder Bindungen sowie die Pflicht der Amtsträger_innen zur Gleichbehandlung der Bürger_innen als Rechtsunterworfene. Allerdings ist die Befolgung kaum kontrollierbar, denn die innere Einstellung der Amtsträger_innen ist in der Regel nicht erkennbar, und Entscheidungen oder Handlungen der Personen lassen sich auf vielfältige Weise begründen. Deshalb sind Diskriminierungen aus unsachlichen Motiven nicht unbedingt nachweisbar. Beamte, Richter und sonstige Staatsdiener sollen sich gemäß den Beamten- und Richtergesetzen „mäßigen“, sich also zurückhalten mit entsprechenden Meinungsäußerungen. Staatsdiener_innen sollen sich selbst an den Zügel der religiösen, weltanschaulichen und politischen Neutralität und speziell als Richter_innen an den Zügel der Unabhängigkeit nehmen. Natürlich sollen sie ihre Neutralität bzw. Unabhängigkeit dem jeweiligen Gegenüber, d.h. den Beteiligten der amtlichen oder justiziellen Verfahren, vermitteln. Das gilt für Lehrkräfte mit Kopftuch im Prinzip genauso wie für andere Staatsdiener_innen, aber Lehrkräfte haben ein anderes Publikum, nämlich Schüler_innen sowie ggf. aufmerksame Eltern. Für beide Gruppen besteht bisweilen die kommunikative Herausforderung, ihr Kopftuchtragen zu erklären und Missverständnisse und Vorurteile auszuräumen.

Diese „Selbsterklärung“ ist in der offeneren und nicht von Formalien und Zeitdruck reglementierten Atmosphäre des schulischen Unterrichts meist leichter möglich als im Justiz- oder Polizeibereich. Im Gerichtssaal ist vieles formalisiert und ritualisiert, und es herrscht Zeitdruck und kommunikative Beschränkung. Wer sich als Partei oder Angeklagter schlecht behandelt fühlt, ist häufig geneigt, auf eine Befangenheit der Amtsperson zu schließen, nicht nur wenn diese ein Kopftuch trägt. Legitime subjektive Aversionen gegen das Kopftuch können insbesondere Menschen zugebilligt werden, die leidvolle Erfahrungen mit Verhüllungspflicht und Sanktionen bei Verstoß z.B. in islamistischen „Gottesstaaten“ gemacht haben; tritt eine solche Person – z.B. als Asylbewerberin – in Deutschland einer Richterin mit Kopftuch gegenüber, dürfte das Gefühl des Misstrauens in Bezug auf Neutralität und Unabhängigkeit kaum auszuräumen sein (Wiese 2008).

Andererseits gibt es bei Indizien von Befangenheit formalisierte Verfahren, und Justiz sowie Verwaltung haben ausreichend legitime rechtlich festgelegte Mittel, Verdachtsmomente ordnungsgemäß zu prüfen und darüber zu entscheiden. Es gehört auch zur professionellen Qualifikation der Amtsträgerin, sich mit persönlichen Irritationsquellen, die die eigene Person und ihr Auftreten darstellen können, auseinanderzusetzen und selbst angemessene und verständigungsorientierte Verhaltensweisen zu entwickeln. Das mag im aufgeheizten antimuslimischen Klima gerade für Richterinnen besonders schwer sein, aber sie müssten es auf sich nehmen, wenn es auf die Substanz ihrer Neutralität und Unabhängigkeit ankommen soll. Die praktische Ausübung von staatlicher Neutralität ist dann tatsächlich eine Sache von Reden und Handeln. Kleidung und Äußerlichkeiten, auch die richterliche Robe, sind nur Hilfsmittel bei der Darstellung von staatlicher Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.

Andererseits müssen auch die Beteiligten vor Gericht und die Öffentlichkeit von platten Vorurteilen gegen den Islam, gegen muslimische Frauen oder eine migrantische Herkunft Abschied nehmen. Das jeweilige Bürgerpublikum könnte sich also über kurz oder lang an den Anblick kopftuchtragender Amtspersonen, sogar Richterinnen oder Polizistinnen gewöhnen. Wenn das islamische Kopftuch als persönliches Attribut nicht über lange Zeit so politisiert und stigmatisiert worden wäre, ließe sich schon heute vermutlich undramatischer damit umgehen, und es gäbe weniger Angst und weniger „Abwehr von Putativgefahren“ (Sandhu 2017), d.h. von nur vermuteten Gefahren.

5. Nationale Entschei­dungen zum Kopftuch in der Privat­wirt­schaft und die möglichen Folgen der jüngsten EuGH-Ent­schei­dungen

In Deutschland entschied 2002 das Bundesarbeitsgericht (BAG) in dritter Instanz zugunsten einer Verkäuferin in der Parfümerieabteilung eines Kaufhauses.(30) Sie hatte ihr Kopftuch nach der Rückkehr aus der Elternzeit im Job angelegt und wurde gekündigt. Sie verlor in den unteren Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit und erhielt erst beim BAG Recht. Die Begründung: Ihre Fähigkeit, den Job anforderungsgemäß auszuüben, habe sich durch das Kopftuch nicht verändert.(31) Die Abwägung des sog. Direktionsrechts des Arbeitgebers gegen das Recht auf Bekenntnisfreiheit der Arbeitnehmerin schlage beim Kopftuch zugunsten des letzteren aus. Denn das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist ohne ausdrückliche Gesetzesschranken (Gesetzesvorbehalt) ausgestattet und wirkt laut ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung durch bestimmte Generalklauseln des Arbeitsrechts mittelbar und durch die Brille des Verhältnismäßigkeitsprinzips gesehen auch gegenüber dem Arbeitgeber. Das unternehmerische Recht aus Art. 16 der EU-Grundrechte-Charta, welches die deutsche Generalanwältin und mit ihr nun auch der Europäische Gerichtshof als dominantes Recht ansehen, muss nach der vorherrschenden deutschen Rechtsdogmatik gerade dann bei einer Kollision mit einem Grundrecht der Arbeitnehmerin, das den Persönlichkeitskern betrifft, zurücktreten – was beim Kopftuch regelmäßig der Fall ist. Das gilt jedoch nur, soweit die Religionsausübung oder das Bekenntnis nicht den Betriebsablauf oder die Rechte anderer Angehöriger im Unternehmen beeinträchtigt. Unternehmer haben ihre Beschäftigten in der Regel so hinzunehmen, wie sie sind. Für das Geschlecht, das Alter, die sexuelle Ausrichtung gilt dies nicht anders als für eine religiöse Gläubigkeit, die sich nach außen sichtbar manifestiert. Beispielhaft sind daher weitere Entscheidungen, die sich für einen toleranten Umgang des Unternehmens mit dem Kopftuch von beschäftigten Musliminnen aussprechen. So wurde z.B. einer Bewerberin für eine Ausbildungsstelle als Zahnarzthelferin in Berlin eine Entschädigung nach dem AGG zugesprochen(32), und eine Verwaltungsinspektorin bekam in NRW beim Verwaltungsgericht Düsseldorf(33) 2013 Recht, weil sie wegen ihres Kopftuchs nach erfolgreicher Ausbildung und Erprobung nicht wie andere Absolventen unbefristet übernommen worden war.

Tatsächlich haben Arbeitsgerichte aber nicht immer Musliminnen mit Hijab Recht gegeben, ohnehin kommen nur wenige Fälle vor Gericht. So bestätigte sogar das BAG die Kündigung einer kopftuchtragenden Krankenschwester in einem Evangelischen Krankenhaus.(34) Hier wurde vom Arbeitgeber die sog. Kirchenklausel des § 9 AGG geltend gemacht, das Kopftuchtragen wurde als Verletzung der Obliegenheit zur religiösen Zurückhaltung als Andersgläubige angesehen. Jedoch stellt sich die Frage, warum eine bereits als Muslima eingestellte Person ihr Bekenntnis in einem religiös geprägten Krankenhaus nicht äußerlich zeigen darf.

Von solchen Sonderfällen abgesehen haben sich Rechtsprechung und Literatur in Deutschland in letzter Zeit eher für die Abkehr von Kopftuchverboten ausgesprochen (Berghahn/Klapp/Tischbirek 2016, S. 87-90). Wird sich das nun ändern? Könnte die Entscheidung des EuGH im belgischen Vorlagefall (s. 2.) die Rechtslage und Praxis auch in Deutschland erneut umkehren? Aus verfassungsrechtlichen Gründen, die mit der grundsätzlich schrankenlosen Garantie der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit im Grundgesetz zusammenhängen, könnte sich die deutsche Rechtsprechung, insbesondere das BVerfG, auf die notwendige grundrechtliche Einzelabwägung zurückziehen und vorgelegte „interne Regeln“ wegen allzu pauschaler Normierung für nicht rechtfertigungsfähig im Hinblick auf Diskriminierungen wegen des Kopftuchs erklären. Der EuGH hat dafür – je nach Interpretation – den nötigen Spielraum gelassen. Für Deutschland wäre es besonders problematisch und widersprüchlich, wenn sich private Unternehmen mit Kundenkontakt durch Aufstellung einer „internen Regel“ eine Rechtslage schaffen könnten, in der sie leichter Kopftuchverbote aussprechen und gläubige Musliminnen ausschließen können, als dies in staatlichen Schulen oder im öffentlichen Dienst möglich ist. Die dem strengeren Regime untergeordneten Staatsdiener_innen (vgl. § 24 AGG) dürften nach deutscher Rechtsprechung ihr Bekenntnis zeigen, den insoweit weniger pflichtgebundenen Arbeitnehmerinnen in der Privatwirtschaft könnte dagegen nach den neuesten Entscheidungen des EuGH u.U. vom Unternehmen ein pauschales Verbot eines sichtbaren religiösen Bekenntnisses auferlegt werden. Die Anforderung der religiösen Neutralität existiert für die Privatwirtschaft im Prinzip gar nicht, weil Beschäftigte im Betrieb nicht handelnde Organe des Unternehmens sind – im Gegenteil, das Arbeitsrecht ist Schutzrecht für Arbeitnehmer_innen. Also dürfte nicht die Gefahr bestehen, dass das Unternehmen ernsthaft mit einzelnen Kopftuch, Kippa oder Turban tragenden Beschäftigten identifiziert wird. Sie sind weisungsabhängige Arbeitnehmer_innen, die durch das Direktionsrecht des Unternehmers bzw. der Vorgesetzten zu einem bestimmten Verhalten, auch in äußerlicher Hinsicht, angeleitet werden. Diese Vorgaben haben jedoch Grenzen, wenn es um den Persönlichkeitskern geht. Der Glaube bleibt etwas Persönliches, genauso wie etwa die ethnische Herkunft, das Alter oder eine Behinderung. Wenn schon bei den Staatsbediensteten zwischen der Person der Amtsträgerin und ihrer Funktion für das Handeln des Staates zu unterscheiden ist, so muss dies erst recht für abhängig Beschäftigte eines privaten Unternehmens gelten.

Wenn man vernünftigerweise den innerpersönlichen Bindungscharakter der religiösen Verpflichtung und die geschlechtsspezifischen Aspekte der Genese solcher Bedeckungspflichten in der Religionsgeschichte des Islam und anderer Religionen betrachtet, lässt sich auch die Sichtbarkeit des Bekenntnisses zum Islam nicht als Differenzierungskriterium zwischen erlaubten und nicht erlaubten Bekenntnisformen interpretieren. Hierin liegt wohl der größte Irrtum der Generalanwältin Kokott und des Gerichtshofs. Ob Bedeckungen als obligatorisch gelten, ob Bekenntnisse sichtbar sein sollen, hängt mit den Inhalten einer Religion, Konfession oder mit bestimmten Interpretationen zusammen. Der Staat und auch die Europäische Union dürfen solche Inhalte und Interpretationen von Lehren grundsätzlich nicht bewerten, sofern nicht kollidierende Grundrechte dagegen stehen. Religionen haben fast immer starke geschlechtsspezifische Leitbilder und Pflichtenkataloge. Dass sich in Europa ein liberalisiertes Christentum entwickelt und in weiten Teilen der Bevölkerungen sogar Religionslosigkeit oder Atheismus herrscht, gilt global gesehen als Besonderheit Europas. Daraus lassen sich bei fairer Betrachtung von Sinn und Zweck der individuellen Religionsfreiheit keine Argumente für die Unterdrückung sichtbarer Bekenntnisse ableiten. Das jeweilige Gegenüber sollte so aufgeklärt sein um zu wissen, dass das Kopftuch aus vielen Motiven heraus getragen wird und jedenfalls hierzulande keine einheitliche Botschaft über die Gläubigkeit hinaus symbolisiert.

SABINE BERGHAHN   Dr. iur., Juristin und Politikwissenschaftlerin, tätig als Rechtsanwältin und freischaffende Wissenschaftlerin, Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Langjährige Beschäftigung mit der Kopftuchproblematik, u.a. im Rahmen eines vergleichenden EU-Forschungsprojekts über Debatten und Regulierungen in acht europäischen Ländern (VEIL).

Bibliographie

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Anmerkungen

1 Eine religiöse Pflicht für Frauen, ihre weiblichen „Reize“ zu bedecken, wird aus bestimmten Versen des Korans abgeleitet.

2 Insbesondere nach der RL 2000/78/EG (Rahmenrichtlinie für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf) sind Diskriminierungen u.a. aus Gründen der Religion und Weltanschauung verboten.

3 BVerfG vom 24.09.2003, 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282; BVerfG vom 27.01.2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, BVerfGE 138, 296.

4 Pressemitteilung des EuGH Nr. 30/17 vom 14.03.2017, abrufbar unter: curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2017-03/cp170030de.pdf, 16.03.17.

5 Urteil des EuGH vom 14.03.2017, Große Kammer, Rs. C-157/15, Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding v. G4S Secure Solutions NV.

6 EuGH, Rs. C-157/15, Rn. 10 ff.

7 Urteil des EuGH, Große Kammer, Rs. C-188/15, Asma Bougnaoui und Association de defense des droits de l’homme (ADDH) v. Micropole SA.

8 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott im Verfahren Rs. C-157/15 vom 31.05.2016; Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston im Verfahren Rs. C-188/15 vom 13.07.2016. (Kritisch zur Argumentation von Kokott: Berghahn 2016, Boos-Niazy 2016a sowie Cetin 2016).

9 Direktionsrecht ist das Recht des Unternehmers, den Betriebsablauf zu gestalten und die Grundsätze für das Auftreten und Verhalten der Beschäftigten festzulegen.

10 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott im Verfahren Rs. C-157/15 vom 31.05.2016, Rn. 116.

11 Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston im Verfahren Rs. C-188/15 vom 13.07.2016, Rn. 118, 133.

12 Urteil des EuGH, Große Kammer, Rs. C-188/15, Asma Bougnaoui und Association de defense des droits de l’homme (ADDH) v. Micropole SA.

13 EuGH, Urteil vom 10.07.2008, Rs. C-54/07, Firma Feryn NV.

14 Urteil des EuGH vom 14.03.2017, Große Kammer, Rs. C-157/15, Rn. 38. Auffällig ist, dass der Gerichtshof hinsichtlich des unternehmerischen Verbots sichtbarer Zeichen nur von „interner Regel“ spricht, während die deutsche Generalanwältin die erforderliche Regelung noch als „generelle betriebliche Regelung“ bezeichnete. Daraus lässt sich vermutlich ablesen, dass der Gerichtshof mit seiner Maßgabe in Rn. 40, dass die Politik der Neutralität „kohärent und systematisch“ verfolgt, aber nach Rn. 42 auch auf das „unbedingt Erforderliche beschränkt“ werden müsse, dem Hinweis auf die Kundenbezogenheit besonderes Gewicht gibt. Ob sich das Verbot nur an die mit Kunden in Sichtkontakt tretenden Arbeitnehmer im Ausgangsfall richtet, sei zu klären. Dann aber sei das Verbot laut Rn. 42 auch als erforderlich anzusehen.

15 Urteil des EuGH vom 14.03.2017, Große Kammer, Rs. C-157/15, Rn. 40.

16 Siehe zweiten Entscheidungssatz am Schluss von Rs. C-157/15.

17 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston im Verfahren Rs. C-188/15 vom 13.07.2016, Rn. 123 mit Beispielen.

18 BVerfG vom 24.09.2003, Az. 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 ff.

19 Dieses Recht hatte das Bundesverfassungsgericht vom 16.05.1995 im „Kruzifixbeschluss“ bekräftigt (BVerfGE 85, 94); dieser betraf allerdings die staatliche Anordnung in Bayern, Kreuze in den Klassenräumen aufzuhängen.

20 Ganz anders verhält es sich, wenn Personen ihr Gesicht ganz oder zum Teil verhüllen, wie es bei der Burka (Stoffgitter vor dem Gesicht) oder dem Niqab (nur freier Sehschlitz für die Augen) der Fall ist. Bei dieser hermetischen Bedeckung sehen Rechtsprechung und Literatur die unverstellte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht auch unter Kolleg_innen im Betrieb beeinträchtigt, so dass eine Arbeitnehmerin mit dieser Verhüllung in der Regel nicht mehr den wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderungen ihres Jobs entspricht (§ 8 Abs. 1 AGG).

21 Der Erste Senat hob auch die „Ausnahmeklausel“ auf, mit der in NRW und in vier anderen Bundesländern „christlich-abendländische“ Symbole, Werte und Traditionen vom Verbot ausgenommen worden waren, was nach der Absicht der jeweiligen Gesetzgebung Lehrkräften das Tragen des Nonnenhabits und der jüdischen Kippa gestatten sollte.

22 BVerfG, 2. Kammer d. 1. Senats, vom 18.10.2016, 1 BvR 354/11.

23 Bericht in: Der Tagesspiegel vom 8.02.2017: Unerwünschter Schulstoff (Veronika Völlinger).

24 ArbG Berlin vom 14.04.20116, 58 Ca 13376/15.

25 LArbG Berlin-Brandenburg vom 9.02.2017, 14 Sa 1038/14.

26 Später gab das Bezirksamt nach, Ulusoy sollte die Verwaltungsstation dort absolvieren können, aber mit Kopftuch keine hoheitlichen Akte vollziehen dürfen. Die Referendarin trat diese Stelle am Ende jedoch nicht an und zog eine andere Verwaltungsstelle vor. Darauf war die Empörung im Bezirksamt und in Teilen der Politik groß. Bericht im Tagesspiegel vom 15.015: „Im Prinzip hat Betül Ulusoy Recht“ (Bodo Straub). www.tagesspiegel.de/berlin/kopftuch-debatte-in-berlin-imprinzip-hat-betuel-ulusoy-recht/11916732.html, 18.3.17.

27 VG Augsburg vom 30.06.2016, Az. Au 2 K 15.457.

28 Die Distanzierung bezieht sich auf die Definition der staatlichen Neutralität in religiösen Fragen, wie sie das BVerfG versteht, nämlich als „offene“, „umfassende“ und „kooperative“ Neutralität. D.h. der Staat arbeitet mit Kirchen und Religionsgemeinschaften zusammen, und auch die einzelnen Staatsdiener_innen dürfen ihre religiösen Bindungen zum Ausdruck bringen, solange sie nicht den Staat mit ihrer Religion oder mit Religion überhaupt identifizieren, missionieren oder indoktrinieren. Für Justizpersonal erwarten manche Interpreten demgegenüber eine distanzierende Haltung zur eigenen oder fremden Religion (vgl. Wiese 2008, 2017 m.w.N.).

29 Diese Ansicht geht auf Herbert Krüger zurück (Krüger 1964, 160, 179, vgl. Wiese 2008, 2017).

30 BAG vom 10.10.2002, 2 AZR 472/01.

31 Dass negative Kund_innenreaktionen zu wirtschaftlichen Einbußen geführt hätten, wurde als nicht substantiierte Behauptung angesehen.

32 ArbG Berlin vom 28.03.2012, 55 Ca 2426/12 (Zahnarzthelferin).

33 VG Düsseldorf vom 8.11.2013, 26 K 5907/12 (Verwaltungsinspektorin).

34 BAG vom 24.09.2014, 5 AZR 611/12 (Krankenschwester mit Kopftuch in evangelischem Krankenhaus).

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