Protestantische Kirche zwischen Kaiserreich und Drittem Reich
aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 101-103
J. R. C. Wright: „Above Parties” – The Political Attitudes of the German Protestant Church Leadership 1918-1933. Oxford University Press, London 1974, 197 Seiten, 5 Pfund.
Ernst Troeltsch sagt in seinem kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen großen Werk über „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen”: „In der großen Angriffsstellung, welche nach der Auswirkung des 18. Jahrhunderts in der französischen Revolution die älteren Geistesmächte gegen die moderne Welt wieder einnahmen und in der sie unter Vereinigung ideologischer und praktischer politisch-sozialer Mächte siegreich gegen die neue Welt vorrückten, ist die Restauration des preußisch-deutschen Luthertums eines der sozialgeschichtlich wichtigsten Ereignisse. Es verband sich mit der Reaktion des monarchischen Gedankens, des agrarischen Patriarchalismus, der militärischen Machtinstinkte, gab der Restauration den ideellen und ethischen Rückhalt, wurde darum wieder von den sozial und politisch reaktionären Mächten mit allen Gewaltmitteln gestützt, heiligte den realistischen Machtsinn und die dem preußischen Militarismus unentbehrlichen ethischen Tugenden des Gehorsams, der Pietät und des Autoritätsgefühls. So wurde Christentum und konservative Staatsgesinnung identisch, verschwisterten sich Gläubigkeit und realistischer Machtsinn, reine Lehre und Verherrlichung des Krieges und des Herrenstandpunktes. So wurden die kirchlichen Reformbestrebungen gleichzeitig mit der liberalen Ideenwelt unterdrückt, die Anhänger der modernen sozialen und geistigen Tendenzen in eine schroffe Kirchenfeindschaft hineingetrieben und dem gegenüber dann alle christlich und religiös Fühlenden für den Konservativismus in Beschlag genommen. Als wesentliches Element in den Kräften der Restauration hat es seinen wichtigen Anteil an der aus den restaurativen Kräften hervorgegangenen politisch-militärischen Entwicklung Preußen-Deutschlands und findet es sich in schroffstem Gegensatz zu den andern Elementen, die an der Entstehung des neuen Deutschland gearbeitet haben, den demokratisch-unitarischen und modern-sozialen und wirtschaftlichen Bewegungen“ (Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912. Nachdruck Aalen 1961, Seite 603f).
So war das Luthertum ein Ferment jener gesellschaftlich-politischen Ordnung, die den Übergang Deutschlands zur modernen liberalen Demokratie bis 1918 hartnäckig blockierte. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches aber verlor die protestantische Kirche den Rückhalt, den sie bis dahin an den herrschenden konservativen Mächten gehabt hatte.
Wie reagierte die protestantische Kirchenführung auf diese „Systemveränderung” von 1918? Wie weit trug sie zur Stabilisierung oder zur Aushöhlung der Weimarer Republik bei? Und wie verhielt sie sich 1933 angesichts der „Machtergreifung” des Nationalsozialismus? Differenzierte Antworten auf diese Fragen findet man in der 1974 erschienenen Untersuchung des englischen Historikers J. R. C. Wright. Der Verfasser knüpft an die schon vorliegende Literatur an (nicht zuletzt an die in der Bundesrepublik publizierten Arbeiten), er hat darüber hinaus aber auch aufschlußreiches kirchliches Quellenmaterial neu erschlossen und überdies eine Reihe von Kirchenführern der 20er und 30er Jahre persönlich interviewt. Zu den Vorzügen des auf relativ knappem Raum außerordentlich informativen Buches gehört die Sachlichkeit des Autors, der auf pauschale Anklage und Polemik verzichtet. Um so mehr Gewicht hat sein sehr kritisches Gesamturteil über die Haltung der protestantischen Kirchenführung zwischen 1918 und 1933.
Mit den November-Ereignissen 1918 war für die Kirche zunächst eine Zeit der Ungewißheit gekommen, die durch die neue Reichsverfassung beendet wurde. Die Kirche hatte, wie Wright betont, „allen Grund, mit der Weimarer Verfassung zufrieden zu sein. Die Befürchtungen des November hinsichtlich eines feindlichen Trennungsprogramms waren zerstreut. Kirchliche Privilegien wurden bestätigt, während die staatliche Kontrolle über die Kirche reduziert war. Die SPD hatte recht, wenn sie geltend machte, das habe eine Situation geschaffen, in der die Kirche vom Staat frei war, der Staat aber nicht frei von der Kirche” (19).
Diese für die Kirche durchaus günstige Entwicklung wurde von ihr nicht durch ein unzweideutiges Bekenntnis zur Republik honoriert. Sie erleichterte allerdings den gemäßigt-konservativen Kirchenführern das Bemühen um einen Modus vivendi mit dem Staat von Weimar; eine pragmatische Politik, die schließlich zum Preußischen Kirchenvertrag von 1931 führte. Wright bezeichnet ihn als „die größte Errungenschaft der Kirchenführung in der Zeit der Weimarer Republik”; der Vertrag „markierte einen bedeutenden Schritt in Richtung auf eine Anerkennung der Republik durch die Kirche” (33).
Die protestantische Kirchenführung akzeptierte in ihrer Mehrheit die Republik, solange es keine Alternative zu ihr gab. Die liberalen und demokratischen Grundprinzipien der Republik aber akzeptierte sie nicht. Sie beteuerte wiederholt die „Überparteilichkeit” der Kirche, nahm jedoch in weltanschaulichen und politischen Fragen eindeutig für die konservativen Parteien Stellung. Wright sagt treffend: „Die Vorstellung eines erhabenen Bereichs des nationalen Lebens oberhalb der Parteipolitik war … ein Grundzug r e c h t e r politischer Einstellung. Sie entsprach dem Mythos vom Kaiser als dem unparteilichen Diener der ganzen Nation.” Und: „Die Situation wurde bündig zusammengefaßt in dem Reim: ,Die Kirche ist politisch neutral, aber sie wählt deutschnational!” (49).
Auch in den Jahren der Republik blieb der deutsche Protestantismus, von Ausnahmen abgesehen, einem traditionalistischen antiliberalen und prononciert „nationalen” Ordnungs-Denken verhaftet. Die Kirchenführung identifizierte sich im allgemeinen nicht mit der aggressiven antirepublikanischen Rechten der späten 20er und frühen 30er Jahre. Die Zahl der protestantischen Pastoren, die vor 1933 Mitglieder der NSDAP wurden, hielt sich in engen Grenzen. Und es fehlte nicht an innerkirchlichen Warnungen vor dem erklärten Rassismus der Hitlerbewegung. Doch die meisten Kirchenführer waren, um wieder Wright zu zitieren, „gegenüber der ,nationalen Opposition` nicht so feindlich wie gegenüber der sozialistischen Bewegung. Die Kirchenführer betrachteten die ,nationale Opposition` als in ihren Grundlagen gesund und machten für ihre ,Fehler` die Art und Weise verantwortlich, wie die früheren Gegner Deutschland hatten leiden lassen” (74). Die NSDAP ihrerseits taktierte vor 1933 durchaus geschickt: sie betonte – ungeachtet der aggressiven Kirchenfeindschaft, wie sie Alfred Rosenberg und andere proklamierten – die nationale Bedeutung des positiven Christentums und versicherte der Kirche ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Die positiven Reaktionen der protestantischen Kirchenführung auf die Ereignisse von 1933 standen in deutlichem Gegensatz zu ihrer distanzierten Haltung gegenüber der Republik 1918/19. Sie begrüßte die „Machtergreifung” der „nationalen Opposition” und bot dieser – im Vertrauen auf die Beteuerungen der Hitlerpartei selbst – ihre loyale Mitarbeit beim Aufbau eines „neuen Deutschland” an. Das war nicht bloßer Oppor- tunismus, nicht einfach taktische Anpassung an neue politische Realitäten, es entsprach vielmehr den politischen Grundüberzeugungen der Kirchenführung. Diese sah keine grundsätzlichen Hindernisse für eine vertrauensvolle Kooperation mit den neuen Machthabern, deren Programm einer „nationalen Erneuerung” sie im Prinzip durchaus zustimmte.
Wright bezeichnet die Grundhaltung der Kirchenführung gegenüber der Hitlerbewegung als .,,kritische Sympathie“ (96). In einer Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse stellt er fest: „Durch die NSDAP wurde das Ideal eines autoritären Staates das Programm einer Massenbewegung, und es schien möglich, daß die Hohenzollern-Dynastie wiedereingesetzt würde. Als Reichskanzler erklärte Hitler, er messe den beiden Kirchen größte Bedeutung bei und fordere ihre Mitarbeit. Die Kirchenführer antworteten, indem sie das Dritte Reich als ein Geschenk Gottes willkommen hießen” (147).
So sanktionierte die Führung der protestantischen Kirche das neue Regime und nahm stillschweigend hin, was bereits in der Anfangsphase des Dritten Reiches geschah: „Trotz ihrer Versicherung, der ganzen Nation zu dienen, opponierte die protestantische Führung keinem Aspekt der von den Nazis zwischen März und Juli 1933 durchgeführten politischen Revolution – außer da, wo die Unabhängigkeit der Kirche direkt bedroht war. Sie ignorierten die Zerstörung der Gewerkschaften und politischen Parteien und die Säuberung von katholischen, sozialistischen und jüdischen Beamten. Sie versuchten nicht einmal protestantische Theologieprofessoren zu schützen, die liberale oder sozialistische Sympathien hatten. Sie schlossen auch die Augen vor der Gewalttätigkeit, die die Revolution begleitete. Selbst da, wo protestantische Führer über Reformmaßnahmen der Regierung unglücklich waren – so waren sie zum Beispiel besorgt, das Ermächtigungs- gesetz könne dazu benutzt werden, die religiösen Garantien der Weimarer Verfassung zu annullieren – fühlten sie sich zu schwach, eine Intervention zu riskieren. Sie akzeptierten auch die Aufhebung der Länderautonomie ohne Protest” (112).
Protest und Widerstand regten sich erst, als dieneuen Machthaber seit Sommer 1933 die Kirche unter ihre unmittelbare ideologisch-politische . Kontrolle zu bringen suchten – mit Hilfe er sogenannten „Deutschen Christen” innerhalb der protestantischen Kirchen. Dieser Gleichschaltungsversuch, dem indes kein voller Erfolg beschieden war, bildete den Auftakt zum „Kirchenkampf” . Im darauffolgenden Jahr konstituierte sich die „Bekennende Kirche”.
Wie Wright zeigt, war auch die Opposition der „Bekennenden Kirche” gegen das NS-Regime durchweg eine partielle, keine prinzipielle, eine theologisch und kirchlich, nicht aber politisch motivierte Opposition. „In den ersten Jahren des Kirchenkampf es versicherte die Bekennende Kirche wiederholt ihre Loyalität gegenüber dem Staat. Martin Niemöller sandte Hitler ein Glückwunschtelegramm als Deutschland 1933 den Völkerbund verließ, und die Führer der Bekennenden Kirche wiederum gratulierten Hitler zum Ergebnis der Volksabstimmung an der Saar 1935” (168), im letzteren Falle allerdings gegen den Willen Niemöllers. Auch die „Bekennende Kirche” blieb, nach Wright, „in den Einstellungen befangen, die die protestantische Führung dazu gebracht hatten, der ,nationalen Revolution` von 1933 Beifall zu spenden” (170). Am Arierparagraphen und später an der Euthanasie schieden sich dann freilich die Geister.
Wright rückt bei der skizzenhaften Darstellung der Anfänge des Kirchenkampfes die Proportionen zurecht :„Es wird gewöhnlich angenommen, das Dritte Reich sei eine Zeit der Kirchenverfolgung und des Kirchenkampfes gewesen. Keine dieser beiden Beschreibungen gibt adäquat wieder, was geschah. Die christlichen Kirchen wurden nicht in der Weise verfolgt, wie deutsche Kommunisten, Juden oder Zeugen Jehovas“ (148). Es wird deutlich, daß der „Kirchenkampf” keine prinzipielle Konfrontation zwischen NS-Regime und Kirche war, sondern ein begrenzter Konflikt, in dem es primär um die Unab- hängigkeit der Kirche im Dritten Reich ging. Es gab weder eine totale Kirchenfeindschaft des Regimes noch eine unzweideutige Regime-Kritik seitens der Kirche. Die Verfolgung der Kirche blieb ebenso partiell wie umgekehrt der kirchliche Protest gegen bestimmte Maßnahmen des Regimes. Wright spricht von einem „unsicheren Modus vivendi” von Drittem Reich und protestantischer Kirche bis in den Krieg hinein.
Eine baldige Übersetzung des Buches ins Deutsche wäre verdienstlich.