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Staat – Gesell­schaft – Kirche

16. November 1975

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 35-50

Nachdem der Sturm, den das Kirchenpapier der FDP verursachte, sich gelegt hat und da und dort sachliche Diskussionen geführt worden sind, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Zu berücksichtigen sind verschiedene Faktoren: das Verhältnis von Staat und Kirche nach dem geltenden Verfassungsrecht unter besonderer Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der Stand der Meinungen im staatskirchenrechtlichen Schrifttum, sowie die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der Wirklichkeit, wobei je nach Auffassung von Verfassungswidrigkeit oder von Verfassungswirklichkeit gesprochen wird. Zur Terminologie ist vorweg zu bemerken, daß von Kirche meist im Sinne einer Sammelbezeichnung für alle Religionsgesellschaften gesprochen wird.

Die Rechtslage

Da die Anhänger einer Partnerschaft von Staat und Kirche — die seit einiger Zeit gängigste Auffassung — sich zur Rechtfertigung ihrer Auffassung auf die Tradition berufen, ist es unerläßlich, die staatskirchenrechtliche Entwicklung zu skizzieren, jedoch nur soweit dies zum Verständnis der gegenwärtigen Rechtslage nötig ist. Durch die Reichsverfassung von 1919 sind die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche, wie sie bei den evangelischen Landeskirchen vorhanden war — das sogenannte landesherrliche Kirchenregiment —, und die Staatskirchenhoheit beseitigt worden. In der Formulierung des Artikels 137 Abs 1: „Es besteht keine Staatskirche”, kommt dies deutlich zum Ausdruck. In dem gleichen Artikel wurde sämtlichen Religionsgesellschaften und den mit ihnen gleichgestellten Weltanschauungsgemeinschaften das Recht der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung zugebilligt. (Daß außer diesen Kernbestimmungen der Weimarer Reichsverfassung die gesamten Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 vierzig Jahre später zum Bestandteil des Grundgesetzes erklärt wurden, gehört zu den Besonderheiten der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage.)
Zu dem Abschnitt Religion und Religionsgesellschaften hat Ebers, Kommentator aus katholischer Sicht, bemerkt, Absicht des Verfassungsgebers sei es gewesen, das Programm „Chiesa libera in Stato libero” zu verwirklichen, und zwar in einem dreifachen Sinn: 1) Freiheit der Kirche vom Staat durch Vereinigungsfreiheit und Selbständigkeit in ihren eigenen Angelegenheiten; 2) Freiheit der Kirche im Staat, jedoch nicht im Sinne einer radikalen Trennung; 3) Freiheit des Staates von der Kirche. Sodann gelangte er zu der Schlußfolgerung: „Aber, und darin liegt der Gegensatz zu früher, sie” — die öffentlich-rechtliche und privilegierte Stellung —„ist jetzt auch anderen Religionsgesellschaften, ja selbst Weltanschauungsvereinigungen zugänglich; andererseits ist der Staat nicht nur wie bisher konfessionslos, er hat auch den christlichen Charakter abgestreift, er ist religiös neutral, indifferent geworden“ [1].

Der Kompromiß von 1949

Bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat einigte man sich rasch über die unverletzliche Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie über die ungestörte Religionsausübung. Da die Weimarer Reichsverfassung zwar volle Glaubens- und Gewissensfreiheit garantierte, aber hinzufügte, daß die allgemeinen Staatsgesetze hiervon unberührt bleiben, schloß Anschütz, Verfasser des Standardkommentars, daraus kurz und bündig: „Staatsgesetz geht vor Religionsgebot“ [2]. Aber nicht nur infolge der jetzt vorhandenen Unverletzlichkeitsklausel und der Ergänzung durch die Weltanschauungsfreiheit, sondern wegen der aufgewerteten Qualität der Grundrechte insgesamt ist eine verstärkte Geltungskraft der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu konstatieren. Die Formulierung, daß früher die Grundrechte im Rahmen der Gesetze galten, während heute die Gesetze im Rahmen der Grundrechte gelten sollen, ist ganz besonders auf dieses Freiheitsrecht kraft seiner Unverletzlichkeit anwendbar.
Im Vorentwurf des Grundgesetzes, der von einem durch die Ministerpräsidenten der Länder eingesetzten Verfassungskonvent abgefaßt wurde, waren Bestimmungen über die Religionsgesellschaften nicht enthalten. Aber auf Grund eines Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, des Zentrums und der Deutschen Partei wurde der Parlamentarische Rat mit der Frage der Beziehungen zwischen Staat und Kirche befaßt. Infolge seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung ist es nötig, den ersten Satz dieses Antrages wörtlich zu zitieren: „Die Kirchen werden in ihrer Bedeutung für die Wahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlage des menschlichen Lebens anerkannt.” Da im weiteren Text Kirchen und Religionsgesellschaften gesondert aufgeführt werden, haben die Antragsteller mit den Kirchen lediglich die beiden christlichen Großkirchen gemeint, denen auf diese Weise eine privilegierte Stellung zugebilligt werden sollte. Zur Begründung wurde vorgebracht, gerade die Kirchen seien immer Kämpfer für den Gedanken der persönlichen Freiheit und der Menschenwürde gewesen [3]. SPD und FDP lehnten den Antrag ab. Schließlich einigte man sich darüber, aus der Weimarer Verfassung fast den gesamten Abschnitt Religion und Religionsgesellschaften zu übernehmen. Davon wurden lediglich Artikel 135 über die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die ungestörte Religionsausübung und Artikel 140 über die den Wehrmachtsangehörigen zu gewährende Freizeit zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten ausgenommen. Artikel 135 war infolge der weiterreichenden und verstärkten Regelung in Artikel 4 GG überflüssig geworden. Artikel 140 blieb unerwähnt, weil damals — 1948/49 — niemand an eine Aufrüstung dachte.

Privi­lie­rung der Großkirchen

Bereits 1962 hat Quaritsch mit vollem Recht festgestellt, es dürfe „zu den Ereignissen des deutschen Verfassungsrechts gezählt werden, daß die Interpretation der unverändert rezipierten staatskirchenrechtlichen Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung innerhalb eines Jahrzehnts zu Konsequenzen geführt hat, die dem Inhalt der im Jahre 1948 abgelehnten Anträge entsprechen bzw noch weit darüber hinaus gehen“ [4]. Daß es soweit kommen konnte, hat drei Ursachen.
Erstens waren in einigen Ländern bereits die Weichen in Richtung der mit dem Antrag verfolgten Privilegierung der christlichen Großkirchen gestellt worden. So war in der Verfassung von Württemberg-Baden vom 24. der Mensch zur „Erfüllung des ewigen Sittengesetzes” berufen. Die Jugend war „in der Ehrfurcht vor Gott” zu erziehen, und zwar in christlichen Gemeinschaftsschulen, soweit es sich um Volksschüler handelt. Bayerns Verfassung vom 8.12.1946 bezeichnete gleichfalls die Ehrfurcht vor Gott als eines der obersten Bildungsziele und sah die öffentlichen Volksschulen in der Form der Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschulen vor. Der Verfassung für Rheinland-Pfalz zufolge (18. 5.1947) gab es öffentliche Volksschulen nur in Form der Bekenntnis- oder christlichen Simultanschulen; in allen Schulen mußte zur Gottesfurcht erzogen werden. Badens Verfassung vom 28. 5.1947 ließ alle öffentlichen Schulen nur in Form von Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn zu. Auch in Württemberg-Hohenzollern (Verf assung vom 31. 5.1947) wurde zur Ehrfurcht vor Gott erzogen, wobei die öffentlichen Volksschulen christliche Schulen waren. Die Verfassung des Saarlandes (1947) bestimmte, daß den Eltern das Erziehungsrecht „auf der Grundlage des natürlichen und christlichen Sittengesetzes” zusteht. Die öffentlichen Volksschulen waren Bekenntnisschulen, die übrigen christliche Gemeinschaftsschulen. (Wir werden sehen, daß diese Bestimmungen teilweise noch heute gelten und Gegenstand von Verfahren sind, die vor dem Bundesverfassungsgericht schweben.)
Zweitens war herrschende Auffassung im staatskirchenrechtlichen Schrifttum, daß den beiden christlichen Großkirchen eine Sonderstellung zuzubilligen sei. Man sprach von Kirche und Staat als gleichrangigen Gemeinschaften erster Ordnung, als „societates
perfectae“ [5], von freundschaftlicher Zusammenarbeit im Sinne einer Partnerschaft von Staat und Kirche [6], von einer Bewahrung des guten und wertvollen Kerns des Verhältnisses konstantinischer Nähe von Kirche und Staat [7] und dergleichen mehr. Drittens wurde die Vorstellung einer partnerschaftlichen Koordination zwischen den christlichen Großkirchen und dem Staat von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt. So gelangte der Bundesgerichtshof 1961 zu dem Ergebnis: „Das Grundgesetz geht von der grundsätzlichen Gleichordnung von Staat und Kirche als eigenständigen Gewalten aus. Die Kirchen sind der staatlichen Hoheitsgewalt grundsätzlich nicht mehr unterworfen und regeln ihre Angelegenheiten selbständig und in eigener Verantwortung“ [8]. Es nimmt nicht wunder, wenn Albrecht in seiner Schrift „Koordination von Staat und Kirche in der Demokratie” diese als Gebietsherrschaftsmächte bezeichnet [9]. Ernst G. Mahrenholz, der als früherer Mitarbeiter im kirchenrechtlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands sicherlich sachkundig ist, zog aus dieser Entwicklung den Schluß: „Es bestehen zwei Staatskirchen, so scheint der Satz der Weimarer Reichsverfassung: ,Es besteht keine Staatskirche‘, den das Grundgesetz übernommen hat, im politischen und kirchenpolitischen Raum verstanden zu werden” [10].

Katho­li­sie­rung des Rechts

Diese Entwicklung provozierte den Vorwurf einer Katholisierung des Rechts und führte zu Kritik auf zwei Ebenen. Im staatskirchenrechtlichen Schrifttum ist neben Herbert Krügers beiläufigem Protest vor allem Quaritsch zu erwähnen, der in vortrefflichen, fundierten Ausführungen bereits 1962 die Souveränität des Verfassunggebers gegenüber Staat und Kirchen und somit auf dem Gebiet des Staatskirchenrechts vertrat. Auf der anderen Ebene ist vor allem die Tätigkeit der Humanistischen Union zu erwähnen, die sich seit ihrer Gründung für die Trennung von Staat und Kirche einsetzte, insbesondere auf dem Schulgebiet. Nach Auffassung von Prälat Wöste [11], Leiter des katholischen Kommissariats der Deutschen Bischöfe in Bonn, wäre die FDP nicht zur Aufstellung ihrer Thesen gekommen, wenn sich nicht schon vorher eine Meinungsbildung in dieser Richtung vollzogen hätte, vor allem in einer gewissen Intelligenzschicht, die die Massenmedien beherrscht, „gesteuert unter anderem durch die Humanistische Union”. Deren Zielvorstellungen hätten sich auf Drängen der Jungdemokraten in den 14 Thesen niedergeschlagen. Diese Fernwirkung fand sicherlich statt, unterstützt durch zahlreiche Beiträge in den Vorgängen seit 1962 und durch meine Publikationen, vor allem durch „Trennung von Staat und Kirche”, 1. Auflage 1964 im  Szczesny Verlag, 2. Auflage 1971 [12].

Staats­kir­chen – rechtliche Apologetik

Inzwischen war die staatskirchenrechtliche Szenerie durch ein Ereignis mit unmittelbarer Wirkung gründlich verändert worden. Aufgrund von Verfahren, die bereits seit 1954 in Kirchensteuersachen rechtshängig waren, entschied das Bundesverfassungsgericht, daß das Grundgesetz „dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität” auferlegt [13]. Als es sich aber darum handelte, aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das immerhin die Funktion eines Hüters der Verfassung auszuüben hat, die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen, geschah so gut wie nichts. Vielmehr wurde in einer umfangreichen staatskirchenrechtlichen Literatur der Versuch unternommen, für die beiden christlichen Großkirchen zu retten, was zu retten ist. So billigte von Campenhausen [14], Leiter des kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Bundesrepublik einen Platz in der „Gruppe der Länder mit Staatskirchen oder noch etablierten Großkirchen” zu. Und Listl, Leiter des staatskirchenrechtlichen Instituts der deutschen Bistümer, wärmte 1971 [15] den von M. Heckel 1967 [16] gegen mich erhobenen Vorwurf wieder einmal auf, aus dem Trennungsprinzip werde die Forderung nach einem offiziellen verordneten Agnostizismus abgeleitet und zwar mit der Variante, daß er von „staatlicher Nötigung zum individuellen Agnostizismus und Indifferentismus und als Diktat eines Neutralismus im Sinne verordneter Standpunktlosigkeit und eines weltanschaulichen Vakuums” spricht.

Neutra­li­täts­gebot und Religi­ons­frei­heit

Das Bundesverfassungsgericht hat im Anschluß an die grundlegenden Entscheidungen vom 14.12.1965 seine Feststellung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates wiederholt bekräftigt und zu Fragen Stellung genommen, die sich mit der Religionsfreiheit befassen. So ist in der Entscheidung vom 16.10.1968 [17] über die Freiheit der Religionsausübung das für den Staat verbindliche Neutralitätsgebot erwähnt und zum Begriff der Religionsfreiheit festgestellt worden, dieser umfasse — gleichgültig, ob es sich um ein religiöses Bekenntnis oder eine religionsfremde oder religionsfreie Weltanschauung handle — nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben; d h einen Glauben zu bekennen oder zu. verschweigen, sich von dem bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden. In der weiteren Begründung ist zweimal auf die bestehende pluralistische Gesellschaft hingewiesen worden. In dem Urteil vom 14.11.1969 [18] ist von „den Wertvorstellungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung die Rede, die sich zur Würde des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt”.
Zur Glaubensfreiheit wird in der Entscheidung vom 19.10.1971 [19] ausgeführt, sie werde weder durch die Rechte anderer noch die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz eingeschränkt. Ein im Rahmen ihrer Garantie zu berücksichtigender Konflikt sei nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen. Die Entscheidung vom 11.4.1972 [20] über den Eid ist insofern von Bedeutung, als aus dem für den Staat verbindlichen Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität abgeleitet wird, daß „die zahlenmäßige Stärke oder soziale Relevanz einer bestimmten Glaubenshaltung keine Rolle spielen kann”. Es sei dem Staat „verwehrt, bestimmte Bekenntnisse zu privilegieren oder den Glauben oder Unglauben seiner Bürger zu bewerten”. In der Entscheidung über das Kreuz im Gerichtssaal vom 17. 7.1973 [21] heißt es: „Das als unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht — wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat — in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muß wegen seines Ranges extensiv ausgelegt werden.“
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht sich zu der Auffassung, schon die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen schaffe einen verfassungswidrigen Zustand, weil sie im Widerspruch zur Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität stehe und unvereinbar mit der Forderung sei, daß der Staat sich mit bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Vereinigungen oder Auffassungen nicht „identifizieren” dürfe, absichtlich nicht geäußert. Es meinte, Umfang und Tragweite (!) einer rechtsgrundsätzlichen Würdigung des neuerdings in die staatskirchenrechtliche Diskussion aufgenommenen Prinzips der „Nicht-Identifikation” stünden in keinem tragbaren Verhältnis zu der Bedeutung des zu entscheidenden Falles. Auch der Beschluß vom 14.11.1973 [22] über das unzulässige Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden. (Nach § 4 Abs 2 EheG war eine Eheschließung nicht möglich, wenn einer der Partner Sexualverkehr mit Mutter/Vater oder Tochter/Sohn des anderen Partners gehabt hat.) Dieses Ehehindernis geht, wie in der Urteilsbegründung festgestellt wird, auf das Kanonische Recht zurück und ist mit Rücksicht auf kirchliche Anschauungen in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden. Die Befürworter dieses Ehehindernisses beriefen sich auf die dem christlich-abendländischen Vorstellungsbild entsprechende, in starkem Maß vom Sittengesetz beherrschte Institution der Ehe. Demgegenüber bemerkte das Bundesverfassungsgericht, es seien keine rationalen, sachlich oder verstandesmäßig faßbaren Gründe erkennbar, die das Eheverbot rechtfertigen. Soweit das Eheverbot aus metaphysischen Gründen oder bestimmten religiös-kirchlichen Regeln hergeleitet werde, sei auf das Bild der verweltlichten, bürgerlich-rechtlichen Ehe hinzuweisen, das dem Grundgesetz zugrunde liege.

Verfas­sungs­wid­rige Schul­be­stim­mungen

Soweit es sich um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt, ist noch festzustellen, daß bereits seit vielen Jahren Verfassungsbeschwerden anhängig sind, in denen die Verfassungswidrigkeit von Schulbestimmungen gerügt wird. Eine Beschwerde vom 5.2.1968 richtet sich gegen Artikel 15 Abs 1 der Verfassung des Landes Baden- Württemberg in der Neufassung vom 8.2.1967, wonach die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen haben, die am 9.12.1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben. In der zweiten Beschwerde vom 1.7.1969 wird beantragt, die Verfassungswidrigkeit des Artikels 135 S 2 der Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung vom 22.7.1968, des entsprechenden Volksschulgesetzes sowie der Zustimmungsgesetze zu den Verträgen mit dem Heiligen Stuhl und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern festzustellen. Trotz der Bedeutung dieser Verfassungsbeschwerden ist bis heute nicht entschieden worden. Seit 1974 ist noch die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil desBundesverwaltungsgerichts über die Zulässigkeit des Schulgebets anhängig. Damit ist dem Bundesverfassungsgericht aufgegeben, die in der Entscheidung über das Kreuz im Gerichtssaal offen gelassene Frage zu beantworten, welche Bedeutung dem Prinzip der Nicht-Identifikation zukomme.

Nach wie vor Verfas­sungs­ver­let­zungen

Zur weiteren Entwicklung ist festzustellen, daß sich an der verfassungswidrigen Praxis nichts geändert hat, möge es sich nun um die soeben erwähnten, den Verfassungsbeschwerden zugrunde liegenden Bestimmungen, um die Militär- und Gefängnisseelsorge oder die Theologischen Fakultäten handeln, um nur einige der wichtigsten Verfassungsverletzungen zu erwähnen. Erst kürzlich leistete der neue Bischof von Rottenburg den im Reichskonkordat vom 20.7.1933 vorgeschriebenen Treueeid in Mißachtung der sich aus der unverletzlichen Religionsfreiheit unmittelbar ergebenden Kirchenfreiheit. Im gleichen Land (Baden-Württemberg) ist von der Landesregierung dem Landtag der Entwurf einer Neufassung des Schulgesetzes vorgelegt worden. In § 1 wird zum Hauptprinzip der Erziehung erklärt, daß die Lehrer ihren Erziehungsauftrag „in Verantwortung vor Gott” wahrzunehmen hätten. In Verbindung mit dem christlichen Charakter der öffentlichen Volksschulen dürfte nach Billigung des Entwurfs durch die CDU-Mehrheit des Landtages die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Landes Baden-Württemberg im Schulwesen völlig beseitigt sein.

SPD: „Part­ner­schaft“ von Staat und Kirche

Nun darf nicht übersehen werden, daß die Vorstellung einer Partnerschaft von Staat und Kirche – diese in Form der etablierten christlichen Großkirchen – wesentlichen Auftrieb dadurch erhalten hat, daß in der Regierungserklärung der Bundesregierung vom   18.1.1973 die Worte stehen: „Im Zeichen deutlicher Freiheit wünschen wir die Partnerschaft.” Dieses Bekenntnis ist von dem damaligen Bundeskanzler Brandt nicht etwa aus Unkenntnis seiner Bedeutung abgegeben worden, wie sich aus der Diskussion im Anschluß an die Veröffentlichung des Godesberger Programms ergibt. In diesem ist von einer Partnerschaft von SPD und Kirche die Rede. Die katholische Kirche reagierte sauer. Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Programms erklärte der Limburger Weihbischof Kampe, es sei eine überhebliche Anmaßung, wenn eine politische Körperschaft, wie es die SPD in ihrem Programm tue, den Anspruch erhebe, Partner der Kirche sein zu wollen. Nach dem Selbstverständnis der katholischen Kirche könne nur der Staat als Partner der Weltkirche angesehen werden, wenn beide als souveräne Völkerrechtssubjekte über gemischte weltlich-kirchliche Probleme zu einer Vereinbarung kämen. Kurz danach wurde in einer Diskussion zwischen Sozialdemokraten und Katholiken in der Katholischen Akademie München diese Auffassung mit den Worten bestätigt, die Kirche begreife sich von gleichem
Range wie der Staat selbst, der für das irdische Wohl der Menschen zu sorgen habe, wie sie für das ewige Heil. Die SPD begriff. Papst Paul VI empfing 1964 eine SPD-Delegation. Kurz danach wurde auf einer Pressekonferenz erklärt, die SPD habe den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche zugunsten einer Partnerschaft von Staat und Kirche aufgegeben.
So wird auch verständlich, daß nach Bekanntgabe des FDP-Kirchenpapiers Brandt sofort erklärte, das partnerschaftliche Verhältnis von Kirche und Staat ändere sich nicht, und Wehner sein Mißfallen an den Thesen bekundete. Auch Bundeskanzler Schmidt wandte sich gegen eine Änderung des gegenwärtigen Verhältnisses von Staat und Kirche und sprach sich gegen das FDP-Kirchenpapier aus.

Das FDP-Kir­chen­pa­pier

Wie verhält es sich nun mit diesem Kirchenpapier? Prälat Wöste hat sicherlich richtig erkannt, daß dieses Papier auf Zielvorstellungen und Bestrebungen der Humanistischen Union beruht. Der Staatskirchenrechtler A. Hollerbach hat nur bedingt recht mit seiner Äußerung, „daß zwei beachtliche Gruppen im Liberalismus Trauerflor tragen; die einen, die den Abfall von der ,Reinen Lehre` der Jungdemokraten, die kompromißlerische Verwässerungen klarer ideologischer Prinzipien beklagen — die anderen, die sich aus praktisch-politischen Gründen bewußt sind, daß die Thesen als ,ein geistiges Armutszeugnis des Liberalismus‘ (Hamm-Brücher) empfunden werden“ [23].
Dem Kirchenpapier der FDP (siehe Vorgänge Nr 5, S 168; Nr 12 S 4 und 93) liegt eine Auslegung des Grundgesetzes zugrunde, die sich auf das unverletzliche Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit stützt. Außerdem werden rechtspolitische Forderungen erhoben, die sich zwangsläufig aus dem vom Grundgesetz anerkannten Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat ergeben. So gut wie alle Kritiker der Thesen stimmen darin überein, daß in ihnen „Opas Liberalismus” durchschimmere. Sie seien völlig unzeitgemäß. Dazu ist festzustellen, daß die Auslegung einer Verfassung, in der ein bestimmter Zustand der politischen Gesamtordnung verbindlich festgelegt ist, stets vordringlich ist, wenn die Verfassung mißachtet wird.

Religions- und Weltan­schau­ungs­frei­heit: Ein Grundrecht

Den Kern unserer Verfassung bilden die Grundrechte. Sie gehören zu den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und stehen im Mittelpunkt seines Wertsystems. Dies gilt ganz besonders für die als u n v e r l e t z l i c h garantierten Grundrechte. Zu diesen gehört vorallem die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Wenn unsere Staatsordnung als freiheitliche Demokratie bezeichnet wird, so beruht dies auf der Tatsache, daß der Katalog der Grundrechte dem demokratischen Prinzip vorgeschaltet ist. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge knüpft das Grundgesetz „damit an die Tradition des ,liberalen bürgerlichen Rechtsstaates` an, wie er sich im 19. Jahrhundert allmählich herausgebildet hat und wie er in Deutschland schließlich in der Weimarer Verfassung verwirklicht worden ist“ [24]. Ergänzend ist jedoch festzustellen, daß die freiheitliche – lieberale – Komponente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erst im Grundgesetz voll verwirklicht wurde, weil es die Bindung aller drei Gewalten, auch der Gesetzgebung, an die Grundrechte ausgesprochen hat. Für die Beachtung der unverletzlichen Religions- und Weltanschauungsfreiheit einzutreten, ist daher immer zeitgemäß.
Nun soll keineswegs geleugnet werden, daß sich aus dem Grundgesetz eine radikale und saubere Trennung von Staat und Kirche, die wünschenswert wäre, nicht ableiten läßt. Daher ist eine konsequente Trennung als geltendes Verfassungsrecht auch nie behauptet worden. Die Kontroverse geht lediglich um die Frage, ob für das gegenwärtige Verhältnis von Staat und Kirche der Grundsatz der Trennung maßgebend ist oder ob sich aus den Abweichungen die behauptete Partnerschaft zwischen dem Staat und den etablierten Großkirchen ableiten läßt. Wird nämlich die Trennung im Prinzip anerkannt, so handelt es sich bei den Abweichungen um Ausnahmen, die einschränkend auszulegen sind. Das Kirchensteuerprivileg, die Anerkennung nicht nur der Kirchen, sondern auch anderer Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an den öffentlichen Schulen werden nämlich je nach Auffassung anders bewertet.

Das Grundgesetz fördert die weltan­schau­lich-re­li­giöse Neutralität des Staates

Immerhin besteht jetzt über die Ausgangslage weitgehend Einigkeit. Für das Verhältnis von Staat und Kirche ist die Religions- und Weltanschauungsfreiheit von fundamentaler Bedeutung. Es ist aus ihr zu entwickeln. Zur Begründung genügt der Hinweis, daß die durch Art 137 Abs 3 WRV sämtlichen Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen zugestandene Autonomie – die sogenannte Kirchenfreiheit – ein unmittelbarer Ausfluß der Religionsfreiheit ist.
Wenn aber nicht nur der einzelne Bürger sich auf dem staatsfreien Gebiet von Religion und Weltanschauung frei betätigen kann, sondern auch Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen insoweit autonom sind, folgt daraus zwingend, daß der Staat sich weder mit den Anschauungen einzelner Bürger noch mit den Glaubensvorstellungen der auf diesen Gebieten tätigen Gemeinschaften identifizieren kann. So muß die weitere in das Grundgesetz inkorporierte Bestimmung über das Verbot einer Staatskirche nicht nur in dem Sinn ausgelegt werden, daß jede institutionelle Verbindung von Staat und Kirche unzulässig ist. Darüber hinaus enthält sie auch das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates im Sinne einer Nicht-Identifikation.

Katholische und protes­tan­ti­sche Recht­fer­ti­gungs­ver­suche

Da die Versuche scheitern müssen, mit rational faßbaren Gründen die Pflicht des Staates zur Neutralität auf dem Gebiet von Religion und Weltanschauung zu beseitigen, werden mannigfache Versuche unternommen, auf andere Weise verfassungswidrige Zustände zu rechtfertigen. Besonders beliebt ist seit mehr als zwei Jahrzehnten die Formel, es seien dieselben Menschen – idem civis et christianus [25] –, deren Wohl das Ziel des staatlichen und kirchlichen Wirkens sei. Da sich der Gemeinwohlauftrag des Sozialstaates aber nicht in der materiellen Daseinsvorsorge erschöpfe, der Staat vielmehr auch zur geistigen Daseinsvorsorge verpflichtet sei, müsse er für die gesellschaftlichen Bedingungen einer Realisierbarkeit religiöser Interessen Sorge tragen [26]. Daraus wird die Verpflichtung des Staates zur Förderung der Kirchen abgeleitet. Im Grunde handelt es sich um alte Vorstellungen, denen jetzt das Bekenntnis zum Sozialstaat in Artikel 20 Grundgesetz als Aufhänger dienen muß.
Protestanten berufen sich auf Melanchthon [27]. Die Kirche sei nicht nur die höchste Zier des Staates, sondern seine wahre Lebensgrundlage. Denn nur die Religion lehre den Bürger die Ehrfurcht vor der rechtmäßigen Ordnung. Die Kirche habe die sittlichen Grundlagen des politischen Gemeinwesens in ihrer Obhut, und sie, nicht der Staat, verbürge letzlich die gesetzmäßige Ordnung unter den Menschen. J. Heckel kommt daher zu dem Ergebnis, daß die Grundzüge des geltenden deutschen Staatsrechts bereits von Melanchthon geprägt worden seien, soweit es die großen christlichen Religionsgemeinschaften betreffe. Melanchthons Auffassung stimmt mit Luthers Lehre vom weltlichen und geistlichem Regiment überein: ihr liegt die Identität von Christenheit und Staatsvolk zugrunde, so daß Staat und Kirche in ihrem verschiedenartigen Dienst an den gleichen Menschen zusammenarbeiten.
Die von der katholischen Kirche seit eh und je vertretenen Auffassungen stimmen damit im wesentlichen überein. In dem Lehrschreiben ,Immortale Dei` vom 1.11.1885 ging Papst Leo XIII davon aus, daß Gott die Sorge für das menschliche Geschlecht unter zwei Gewalten geteilt habe. Was das bürgerliche und politische Lebensgebiet umfasse, sei mit Recht der politischen Gewalt unterworfen, während es Aufgabe der Kirche sei, die himmlischen und unvergänglichen Güter zu bereiten. Diese Arbeitsteilung wird aber insoweit modifiziert, als der Staat eine von Gott gegebene Autorität ausübe und es daher seine Pflicht sei, die Religion in Ergebenheit anzunehmen, sie durch sein Wohlwollen zu schützen, durch die Autorität und die Kraft der Gesetze zu verteidigen und nichts zu bestimmen, was ihr zum Schaden gereichen könnte. In dem gleichen Lehrschreiben wird die Kirche auch als vollkommene Gesellschaft nach Wesen und Recht bezeichnet, deren Gewalt über alle emporrage; sie könne nicht für geringer erachtet werden als die Staatsgewalt.

„Hüter- und Wächteramt“ der Kirchen?

Nun darf man nicht annehmen, daß solche Vorstellungen nur noch von historischer Bedeutung seien. In dem Lehrschreiben der deutschen Bischöfe vom 1.1.1953 heißt es: „Eine absolute Schranke für die Staatsgewalt ist der Wille und das Gesetz Gottes.” Daraus ist in der Gegenwart die Vorstellung vom Hüter- und Wächteramt geworden, das von beiden Kirchen in Anspruch genommen wird. In dem 1973 veröffentlichten Arbeitspapier ‚Aufgaben der Kirche in Staat und Gesellschaft‘, herausgegeben von der Sachkommission  V der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland wird dieses „Hüter- und Wächteramt der Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft” gleich dreimal erwähnt, nachdem Mikat [30] unter Bezugnahme auf Scheuner [31] bereits 1953 und 1960 die gleiche Behauptung aufgestellt hatte. Und wenn in der bereits erwähnten Regierungs- erklärung Brandts von den „Kirchen in ihrer notwendigen geistigen Wirkung” die Rede ist, so klingt dies an die Vorstellung an, daß die Kirche als geistig-geistlicher Partner des Staates die Grundwerte liefere, die dieser „gerade wegen seiner religiösen und weltanschaulichen Neutralität“ [32] nicht vermitteln könne.

Soziale Inter­gra­ti­ons­funk­tion des Chris­ten­tums?

Alle diese Autoren gehen davon aus, daß das Christentum noch heute eine soziale Integrationsfunktion auszuüben vermag. Pannenberg [33] versteigt sich sogar zu der Behauptung, „durch das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates” sei „in der Neuzeit das Bewußtsein davon verdrängt worden, daß politische Ordnung ohne Religion gar nicht möglich ist”. Daraus schließt er, daß die These von der Neutralität des Staates gegenüber der Religion auf einer Selbsttäuschung beruhe, wenn sie nicht im Einzelfall bewußte Heuchelei darstelle.
Richtig ist, daß für die menschliche Gesellschaft unerläßliche Gebote als irdische Gebote nicht die gleiche Wirkungskraft entfaltet hätten, wenn man sie nicht in die göttliche Welt hineinprojiziert hätte, von wo sie als religiöse Gebote in verstärktem Glanze zurückstrahlten. Die Kirche hat dies von jeher begriffen und daher die Religion als höheres und wirksameres Motiv für den Gehorsam angeboten. Als Beispiel darf das Lehrschreiben „Diuturnum Illud” Leos XIII vom 29.6.1881 [34] zitiert werden, in dem es unter Berufung auf Augustinus heißt: „Dies kann aber bei ihnen vornehmlich die Religion bewirken, die mit ihrer Kraft die Gemüter erfüllt und den Willen der Menschen lenkt, daß sie denen, die sie regieren, nicht allein im Gehorsam anhangen, sondern auch in Wohlwollen und Liebe, und die in jeder menschlichen Gesellschaft der beste Wächter ihrer Unversehrtheit ist.” Im staatskirchenrechtlichen Schrifttum der Gegenwart wird diese Rolle der Religion unter anderem durch Hesse mit den Worten bestätigt: „Je weiter deshalb die Krise der Wertungen fortschreitet und je mehr die überkommenen säkularen Grundlagen des Staates ihre geistige Kraft verlieren oder in Frage gestellt werden, desto größer ist die Bedeutung, welche die Religion für den Staat erhält. Will der moderne Staat nicht selbst eine Ersatzreligion schaffen und durchzusetzen versuchen, so muß seine Einstellung zu Religion und Kirche die einer positiven Bewertung sein und gewinnt die Aufgabe ,positiver Religionspflege‘ eine neue und tiefe Bedeutung“ [35].

Das Christentum in der modernen Welt

In einem merkwürdigen Gegensatz zu der Bedeutung, die der Religion zugebilligt wird, stehen die Aussagen der gleichen Autoren, die sich zur Partnerschaft von Staat und Kirche bekennen. Alle stimmen darin überein, daß wir „in einem Heidenland mit christlicher Vergangenheit und christlichen Restbeständen” (Rahner [36]) leben, daß Deutschland, wie das „christliche Abendland” überhaupt, zum Missionsland geworden ist. So hat Scheuner [37] bereits 1959 ausgeführt, in der gesicherten Lage des kirchlichen Lebens in der Bundesrepublik finde die Tatsache noch zu geringe Aufmerksamkeit, daß sich in der Welt das Christentum nicht in der Lage einer herrschenden Glaubensrichtung befinde, daß es vielmehr zu einer Religion in andersgläubiger und heidnischer Umwelt geworden sei. Mikat [38], der noch 1964 behauptet hat, zu den tragenden Kräften der staatlichen Ordnung gehöre das in den beiden Kirchen verkörperte Christentum, aus dem 95 % der Bevölkerung Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, räumt jetzt als Binsenwahrheit ein, daß die Normalsituation der Kirche und der Christen in der Welt von heute die Situation der Diaspora sei. Er leitet daraus die einzig möglichen Folgerungen ab, insbesondere die Feststellung, daß die Welt der Gegenwart „weder geistig noch politisch das mittelalterliche Corpus Christianum sei, sondern das offene Feld für alle geistigen und politischen Kräfte, die sich nach einer der Herrschaft der Kirche entzogenen Eigengesetzlichkeit entfalten”. Für eine innerweltliche Herrschaft über alle Sach- und Gewissensfragen habe die Kirche keine Vollmacht mehr; der demokratische Staat dürfe sich zur Wahrung der Freiheit seiner Bürger nur konfessionell und weltanschaulich neutral verhalten. Allerdings versäumt es auch Mikat, daraus Konsequenzen für das Verhältnis von Staat und Kirche zu ziehen, wenn er die Forderung nach einer strikten Trennung von Staat und Kirche als einen „ungeschichtlichen reaktionären Rückgriff auf kirchenfeindliche Vorstellungen des 19. Jahrhunderts” bezeichnet.
Hier kommt das Beharren auf der . üblichen antiliberalen Deutung des Staatskirchenrechts zum Ausdruck, so daß die Forderung von Quaritsch [39], das wachsende Mißverständnis zwischen dem kirchlichen Geltungsanspruch und der Realität der kirchenfremden Massen auch staatskirchenrechtlich relevant werden zu lassen, immer noch unerfüllt ist. Jedenfalls ist die Kirche nicht mehr in der Lage, die Integrationsfunktion in dem Sinne auszuüben, daß sie das für die soziale Ordnung erforderliche einigende Wertsystem zur Verfügung stellt. Dies ist eine Folge der Anerkennung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, die zwangsläufig zum Verzicht auf absolute Geltung religiöser Normen führt. Daraus resultiert die pluralistische Gesellschaft, die schon wesensgemäß die einigende Wirkung der Religion ausschließt, selbst wenn die Volkskirchenkonzeption aufrechterhalten wird.

Christ­li­cher Ursprung der modernen Freiheits­rechte

Als weitere Argumente zur Rechtfertigung einer Partnerschaft von Staat und Kirche müssen seit jüngster Zeit noch folgende Behauptungen herhalten: Zwischen Freiheit und Christentum bestehe ein wesentlicher Zusammenhang, die Anlage des Menschen zur Transzendenz verpflichte den Staat zur positiven Religionspflege, die Aufgabe der Religion als ethische Sinninstanz sei für den Staat unentbehrlich. Pannenbergs These, politische Ordnung sei ohne Religion gar nicht möglich, ist bereits zitiert worden. Er fügt hinzu, die christlichen Ursprünge der modernen Demokratie müßten in das Bewußtsein gehoben und die demokratische Freiheit als Ausdruck christlichen Geistes anerkannt werden. Er stützt seine Behauptung auf den „Grundrechtskonsens, der seine Grundlagen letztlich in religiösen Überzeugungen hat, wie sie im Christentum erwachsen und überliefert sind“ [40].
Daß zahlreiche christliche, insbesondere katholische Einflüsse auf unsere Rechtsordnung und Relikte christlicher Institutionen im staatlichen Rechtssystem festzustellen sind, soll keineswegs geleugnet werden. Insoweit darf auf Otts Schrift Christliche Aspekte unserer Rechtsordnung verwiesen werden. Zu den Grundrechten hingegen, vor allem zu den Freiheitsrechten, möge es sich um die Freiheit des Geistes, die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, die Freiheit der Person, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse handeln, ist jedoch festzustellen, daß sie nicht christlichen Ursprungs sind. Kipp [41] hat in einer Schrift, die im Auftrag der „Pax Romana” und in Verbindung mit dem Katholischen Akademikerverband herausgegeben wurde, bemerkt, daß die Intoleranz der mittelalterlichen Christenheit gegen abtrünnige Glieder für die Anerkennung der grundlegenden Menschenrechte nicht gerade günstig und daß der Weg bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts, was die Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte anbelange, sehr dunkel gewesen sei (dunkel hinsichtlich des Verhaltens der Kirchen). Er meint weiter: „Es scheinen andere geistige Bewegungen gewesen zu sein, die dem Gedanken der Menschenrechte entscheidend zum Durchbruch verhalfen.”
Tatsächlich waren es die gleichen Kräfte, die in jahrhundertelangen Kämpfen gegen das in Dogmen erstarrte Christentum sich durchsetzten und ein neues Menschen- und Weltbild begründeten. Die im Grundgesetz und in anderen Verfassungen verwirklichten Menschenrechte sind Ausdruck neuer Wertvorstellungen, die aus dem Zeitalter der Aufklärung stammen. Ob es sich um den Kampf gegen die Hexenprozesse, die Beseitigung der Tortur, die Abschaffung der Sklaverei, die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes, vor allem für die Frau, gehandelt hat, um nur einige markante Beispiele zu nennen, alle diese wesentlichen Errungenschaften sind nicht von den Kirchen gegen die Welt, sondern von der Welt gegen die Kirchen erstritten worden. Wenn jetzt die katholische Kirche sich zu den Grundrechten bekennt, so ist dies eine Folge des durch die Religionsfreiheit ausgelösten Verzichts auf das Absolute und ein Teilaspekt des immer noch im Gang befindlichen Anpassungsprozesses an die „nichtchristliche Kultur” der Neuzeit (Romano Guardini [42]).

„Tran­szen­denz“ und Freiheit

Mit der Dimension des Transzendenten und der modernen Gesellschaft hat sich U. Hommes [43] 1973 befaßt. Er definiert Transzendenz als Wirklichkeit, die den Bereich von Natur, Gesellschaft und Geschichte, d h die Welt des Menschen und den Menschen selbst übersteige und die als solche Wirklichkeit von absoluter Bedeutung für den Menschen sei. Was dieser Begriff mit dem Verhältnis von Staat und Kirche zu tun hat, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Jedenfalls ist auf einer Tagung des Zentralkomitees der Katholiken im Herbst 1973 die Behauptung aufgestellt worden, Transzendenz erscheine als Voraussetzung für das Gelten der der Verfassung vorangestellten Grundrechte. Seither spielt dieser schillernde Begriff aus dem Bereich der Philosophie und Religion eine Rolle in der staatskirchenrechtlichen Diskussion. Auf einer Tagung der Katholischen Akademie in Bayern (Januar 1975) verlangte der Tübinger Theologe J. Neumann allen Ernstes, der Staat müsse die Anlage des Menschen zum Transzendenten fördern. Wie ist diese Vorstellung zu erklären?
Da die liberalen Grundrechte als Freiheitsrechte bezeichnet werden und vielfach von einem Hauptfreiheitsrecht gesprochen wird, aber auch in der christlichen Existenzphilosophie der Überstieg vom bloßen Weltsein zum Selbstsein — zur Freiheit — Bedeutung hat, ist der Begriff Freiheit als Verbindung gedacht. Hommes meint daher, daß „Freiheit offensichtlich wesentlich überhaupt nur aus dem Bezug auf tranzendente Wirklichkeit zu verstehen und zu gewährleisten” sei [44].
Meines Erachtens liegt hier ein krasses Mißverständnis vor. Freiheit im Sinne der Grundrechte bedeutet Freiheit im immanenten Bereich, Freiheit im religiösen oder philosophischen Sinne dagegen bezieht sich auf den transzendenten Bereich. Zur Erläuterung ist auf das Neue Testament zu verweisen. Paulus [45] befiehlt den Sklaven: „Ihr Knechte, seid gehorsam euren leiblichen Herren mit Furcht und Zittern.” Denn alle sind „zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes” berufen. In seiner Rechtfertigung der Sklaverei beruft sich Thomas von Aquin [46] ausdrücklich auf diese und ähnliche Bibelstellen. Freiheit als Grundrechtsbegriff hat mit dieser im Neuen Testament verkündeten religiösen Freiheit nicht das geringste zu tun — eine Feststellung, die auch die Legende vom christlichen Ursprung der Grundrechte zerstört.
Die Auffassung, daß die Religion als „ethische Sinninstanz” (J. Neumann) für den Staat unentbehrlich sei, ist zu eng begrenzt und außerdem ungenau. Daß Religion oder Weltanschauung im Dienste der Weltdeutung, der Sinngebung und Lebensgestaltung für die menschliche Gesellschaft unerläßlich sind, dürfte in einem zur Neutralität verpflichteten Staat die einzig mögliche Aussage sein. Damit sind aber weder Religion noch Weltanschauung, auch nicht die Gemeinschaften, die sich der Pflege von Religion und Weltanschauung widmen, in die Privatsphäre verbannt. Denn die Gesellschaft und ihre Gebilde, zu denen sicherlich auch die großen Kirchen gehören, sind Bestandteil der Öffentlichkeit. Der Staat hat lediglich die Verpflichtung, den Raum für die freie religiöse Betätigung offenzuhalten. Diese Aufgabe ist durch die Garantie der Kirchenfreiheit erfüllt.

Der ethische Standard des Grund­ge­setzes

Wenn übrigens nach dem „letzten Minimum ethischer Übereinstimmung, das ein Zusammenleben ermöglicht”, und danach gefragt wird, von woher eigentlich „Staat und Gesellschaft jene Fundamentalüberzeugungen vom Sinn menschlichen Zusammenlebens hätten, die sie selber nicht gewährleisten“ [47] , so ist zu erwidern, daß sich aus den Grundrechtsbestimmungen und dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Werteordnung ergibt. Diese wird als ethischer Standard des Grundgesetzes bezeichnet. Hinsichtlich des „letzten Minimums ethischer Übereinstimmung” ist daher der Staat auf die Hilfe der Kirchen nicht an- gewiesen. Es ist somit nicht möglich, vermittels eines mißverstandenen Freiheitsbegriffes, der Transzendenz oder der Religion als ethischer Sinninstanz den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche zu leugnen und von einem partnerschaftlichen Verhältnis auszugehen. Es muß dabei bleiben, daß der Staat mit allen Konsequenzen zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet ist, soweit nicht das Grundgesetz — und dieses allein — Ausnahmen erlaubt.

Verweise:

[1] Das kirchenpolitische Prinzip der Reichsverfassung, S 66, (Die    Grundrechte und Grundpflichten der RV, hrsg v H. C. Nipperdey, 1930).
[2] Die Verfassung des Deutschen Reichs v 11. 8.1919, 10. Auflage, S 540.
[3] Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Neue Folge Bd 1, S 899 ff.
[4] Der Staat, Bd 1, S 195.
[5] Mikat, Die Grundrechte, hrsg von Bettermann u a Bd IV, S 146.
[6] Hesse, K.: Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen, in: Staat und Kirche in der Bundesrepublik, S 334 ff.
[7] Grundmann, S.: Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, hrsg von H. Quaritsch und H. Weber, 5263.
[8] BGHZ Bd 34, S 374.
[9] S 67.
[10] Die Kirchen in der Gesellschaft der Bundesrepublik, S 31.
[11] Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Kirchenthesen
der FDP, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Wiui Geiger, 1974.
[12] Bereits 1954 ist meine Grundkonzeption in „Deine Rechte im Staat” (5. Auflage) und in einem
am 31. 3.1954 in der Stuttgarter Zeitung veröffentlichten Leitartikel dargelegt worden.
[13] BVerfGE Bd 19, 207 (216).
[14] Religionsfreiheit, S 18 (1971).
[15] Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S 15 (1971).
[16] Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Heft 26, S 29 (1968).
[17] BVerfGE 24, 236.
[18] BVerfGE 27, 195.
[19] BVerfGE 32, 98.
[20] BVerfGE 33, 23.
[21] BVerfGE 35, 366.
[22] BVerfGE 36, 146 (bereits in der 1. Auflage von „Trennung von Staat und Kirche” S 268 — habe ich die Verfassungswidrigkeit dieses Eheverbots behauptet).
[23] „zur debatte”, Themen der Kath Akademie in Bayern, 5. J, Nr 2/3 (April 1975), S 11.
[24] BVerfGE 5, 85 (197).
[25] Peters, H.: Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H 11 (1954) S 178; Hesse, K.: Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen in Zschr f Ev Kirchenrecht, Bd 11 (1964/5), S 353; Aufgaben der Kirche in Staat und Gesellschaft, ein Arbeitspapier der Sachkommission V der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, S 4, 5, 13.
[26] Heckel, J.: Melanchthon und das heutige Staatskirchenrecht in Staat und Kirchen in der BRD, hrsg von H. Quaritsch und H. Weber, S 17 ff.
[27] Kewenig, W.: Das Grundgesetz und die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften, in:
Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd 6, S 23. Demzufolge bezeichnet K. die Kirchen als Partner des Staates und rückt sie „in die Nähe der institutionalisierten Staatlichkeit”.
[28] Christliche Staatslehre, Dokumente hrsg v A. Beckel, S 32 ff.
[29] Siehe 28, S 65 ff.
[30] Kirchen und Religionsgesellschaften, in: Die Grundrechte, hrsg von Bettermann u a, Bd IV, S 144.
[31] Die institutionellen Garantien, S 115.
[32] Mikat: Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, in: Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, 5443.
[33] Gesellschaft ohne Christentum? hrsg v U. Hommes, S 116 (1974).
[34] Siehe 28 S 28.
[35] Hesse, K.: Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, S 59.
[36] Die Chancen des Christentums, S 42 (1953).
[37] Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, in: Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S 179.
[38] Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik, S 16 (1964); siehe 33, S 9, 19, 21.
[39] Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S 372.
[40] a a 0, S 121(Nr 33).
[41] Die Menschenrechte in christlicher Sicht, S 27 ff.
[42] Panorama des zeitgenössischen Denkens, hrsg v G. Picon, S 471.
[43] Gesellschaft ohne Christentum? S 24.
[44] a a 0, S 41.
[45] Epheser 5,1; 6, 5;1 Petrus 2,18; 3, 1.
[46] Summa theologica II 7, qu 105, a 6 ad 1.
[47] K. Lehmann in: Gesellschaft ohne Christentum?, 5 138.

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