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Stellung­nahme der HUMANIS­TI­SCHEN UNION zur Einführung des Faches Lebens­ge­stal­tung - Ethik - Religi­ons­kunde (L-E-R) in Brandenburg

05. Januar 1996

Ursula Neumann

Langfassung

(Die Fußnoten und Verweise finden sich im unten angehängten PDF-Dokument.)

1. Das Spannungs­ver­hältnis zwischen dem Erzie­hungs­auf­trag der Schule und der Verpflich­tung des Staates zu weltan­schau­li­cher Neutralität

Weltan­schau­liche Neutralität des Staates – ein ethischer Fortschritt

Der Verzicht auf eine Staatsideologie (sei sie das Christentum oder der Marxismus-Leninismus) ist alles andere als Gleichgültigkeit gegenüber Weltanschauungsfragen. Es ist die Entscheidung zu einem radikalen Respekt vor der Freiheit und Würde jedes einzelnen Individuums. Nur ein Staat, der sich zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann „Heimstatt“ aller Bürgerinnen und Bürger sein. Erst ein solcher Staat hat den Schritt getan von obrigkeitlicher Bevormundung und Besserwisserei zur Achtung des Selbstbestimmungsrechtes und der Eigenverantwortlichkeit jedes Bürgers und jeder Bürgerin. Weil er diese Achtung seinen BürgerInnen entgegenbringt, kann er sie auch von diesen verlangen und macht so Toleranz zur Grundlage des Umgangs miteinander. Es handelt sich also keineswegs um ein Weniger an wertgefüllter Ordnung, sondern im Vergleich zu anderen Modellen um einen bedeutenden Fortschritt.

Weltan­schau­liche Neutralität des Staates und wertge­füllte schulische Erziehung sind kein Widerspruch

Bereits das macht deutlich: Zwischen weltanschaulicher Neutralität einerseits und wertgefüllter schulischer Erziehung läßt sich nicht einfach ein Gegensatz konstruieren. Im Gegenteil: Ein Unterrichtsfach, das den SchülerInnen ihre Eigenverantwortlichkeit in ethischen Fragen klarzumachen sucht, das Achtung des Selbstbestimmungsrechts der anderen und Respekt vor jeder Weltanschauung vermitteln will und die Reflektions- und Diskursfähigkeit in diesen Fragen einübt, ist ohne Zweifel von einem hohen Ethos getragen, gerade weil es die weltanschauliche Neutralität zum Fundament hat.

Erzie­hungs­auf­trag der Schule und weltan­schau­liche Neutralität des Staates- eine Beziehung in permanenter Entwicklung

Das Verhältnis zwischen dem Erziehungsauftrag der Schule und der Verpflichtung des Staates zu weltanschaulicher Neutralität ist aber auf Dauer ein prekäres. Hier gibt es keine „definitiven“ Lösungen oder Antworten, sondern je neue Versuche, sich einem Ideal anzunähern, bei dem beiden Aspekten optimal Rechnung getragen wird. Das bedeutet auch: Wer ein Lösungsmodell, das in einer bestimmten historischen Situation durchaus akzeptabel gewesen sein mag, als einzig mögliches, gewissermaßen ewig gültiges durchsetzen will, ohne gesellschaftliche und politische Veränderungen zu berücksichtigen, dem geht es vermutlich weniger um eine optimale pädagogische und verfassungsgerechte Lösung, als um die Durchsetzung von Eigeninteressen.

Religi­ons­un­ter­richt und LER – Fächer mit verschie­dener Zielsetzung

Das, was LER sich zum Ziel setzt, kann und will der Religionsunterricht nicht leisten, auch wenn es Berührungs- und Überschneidungspunkte geben mag. Zentraler Punkt des Religionsunterrichts ist die Glaubensvermittlung. Kein seriöser Kirchenvertreter wird das leugnen wollen. Es ist auch nicht zu leugnen, weil es in allen einschlägigen kirchlichen Papieren nachzulesen ist. Inwieweit man den aktuellen Eiertanz der Theologen nachvollziehen will, Religionsunterricht sei lediglich „auch“ Glaubensvermittlung, aber „nicht nur“ oder „nur ganz wenig“ oder „fast gar nicht“, hängt vom eigenen Standpunkt oder von der eigenen Naivität ab. Religionsunterricht muß per definitionem für sich in Anspruch nehmen, „das beste Modell“ zu vertreten, was – auch wenn es noch so geleugnet wird – zwangsläufig eine Abwertung aller anderen Modelle impliziert. Hier besteht lediglich ein gradueller und kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem „modernen“ Religionsunterricht und einer Glaubenslehre alten Stils.

Derzeit wird von Teilen der Amtskirche ein Modell des Religionsunterrichts propagiert, das nicht nur das genaue Gegenteil von dem bislang von ihnen Verfochtenen darstellt, sonder auch im Widerspruch zu Art. 7 III GG steht. So schreibt Bischof Huber: „Der Zugang zum Religionsunterricht ist nicht von der Konfessionszugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler abhängig zu machen; vielmehr ist schulischer Religionsunterricht grundsätzlich für alle an ihm ernsthaft interessierten Schülerinnen und Schüler offen.“ Vor weniger als zehn Jahren war der evangelischen Kirche das Ansinnen zweier Katholikinnen auf Teilnahme am evangelischen Religionsunterricht den Gang nach Karlsruhe wert. Damals erstritt sie die Entscheidung, daß dem Religionsunterricht „kein Angehöriger einer anderen Konfession gegen ihren Willen aufgedrängt werden“ dürfe, weil der Gegenstand des Faches „keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloß Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte“ sei, „vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft“. Die in die freie Entscheidung der Kirchen gestellte Zulassung Angehöriger anderer Weltanschauungen ist – so das Gericht – nur so lange verfassungsrechtlich unbedenklich, solange der Unterricht dadurch nicht seine besondere Prägung als „konfessionell gebundene Veranstaltung“ verliere. Diese Entscheidung wurde damals als Bestätigung des konfessionellen Charakters des Religionsunterrichts und als Stärkung der Stellung der Kirchen von diesen außerordentlich begrüßt. Wenn jetzt Art. 7 III eine „allgemeine „bildungspolitische Verantwortung“ der Kirchen konstruiert wird, so ist das der Versuch der Irreführung aus leicht durchschaubaren Nützlichkeitserwägungen. Die Verfassung wird in Westdeutschland zur Sicherung der Konfessionalität des Religionsunterrichts benutzt, in den neuen Bundesländern scheint es opportuner, so zu tun, als sei man offen für alle und alles.

Das Dilemma des Religi­ons­un­ter­richts: Eltern und Schüle­rInnen wollen keine Glaubens­ver­mitt­lung – die Kirchen müssen darauf bestehen

In Westdeutschland geschieht die Teilnahme am Religionsunterricht eher „automatisch“ und stellt weniger eine bewußte Entscheidung dar. Das hat zur Folge, daß nur eine Minderheit von Eltern und SchülerInnen in diesem Fach eine Glaubensvermittlung wünscht. Die große Mehrheit will, daß ReligionslehrerInnen sich auf die Vermittlung dessen beschränken, was mit „civil religion“ umschrieben wird. Nach kirchlichem Verständnis von Religionsunterricht wäre das aber „Verrat an der Heilsbotschaft und dem christlichen Sendungsauftrag“. Wie die Kirchen hier den Spagat zwischen ihrem eigenen Ziel der Glaubensvermittlung und der Ablehnung dieses Ziels durch die Mehrzahl der Eltern und SchülerInnen leisten wollen, ist ihr Problem und braucht uns nicht weiter zu interessieren. Richtig ist aber die Schlußfolgerung von Erzbischof Degenhardt, daß eine solche Reduzierung der Funktion des Religionsunterrichts „auch selbst die Frage provozieren (würde), ob diese für den Bestand der pluralistischen Gesellschaft durchaus wichtigen Ziele nicht im Kontext anderer Schulfächer ebenso gut aufgehoben wären oder vielleicht als Unterrichtsprinzip die Schule insgesamt prägen müßten.“

LER – Keine Erziehung zur Belie­big­keit oder Minimal­moral

Die pädagogische Haltung, die hinter einem Ethikunterricht steht, der sich weltanschaulicher Neutralität verpflichtet weiß, ist alles andere als Indifferenz. Es geht nicht – wie suggeriert wird – um eine Erziehung zur Beliebigkeit, bei der die SchülerInnen aus dem weltanschaulichen Supermarkt nach Lust und Laune auswählen können. Vielmehr: Wenn sich die Pädagogik nach dem (paulinischen!) Motto „Prüfet alles, und was gut ist, behaltet“ selbst zurücknimmt, ist es Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit. Eigenverantwortlichkeit heißt nun gerade nicht: „ich mache es mir so einfach wie möglich“, sondern: „Ich muß meine Entscheidung begründen und verantworten, dieses Recht und diese Pflicht kann mir niemand abnehmen.“

Selbstverständlich hat dies – wie jedes pädagogische Handeln – in altersgemäßer Weise zu geschehen. Kein Kind ist aber zu jung, um nicht entsprechend seiner Reife zu eigenverantwortlichem Handeln erzogen zu werden. Nicht solches stellt eine Überforderung der anvertrauten Kinder und Jugendlichen dar, sondern umgekehrt: Wer meint, eine bevormundende Erziehung sei Voraussetzung für eine „irgendwann später“ auf geheimnisvolle Weise einsetzende Mündigkeit, täuscht sich und andere.

Die Möglichkeit, daß ein Erzie­hungs­mo­dell versagt, ist nicht gleich­be­deu­tend mit seiner prinzi­pi­ellen Disqua­li­fi­zie­rung

Gewiß wird es immer Menschen geben, die von einem Erziehungsangebot keinen Gebrauch machen können oder wollen, und sicher kann es vorkommen, daß die Chance, die LER bietet, dazu mißbraucht wird, es sich leicht zu machen. Es ist aber unredlich, aus der Möglichkeit des Mißbrauchs das zwangsläufige Scheitern des ganzen Modells ableiten zu wollen.

Modelle, die davon ausgehen, irgendeine „Autorität“ wisse, was einem fromme und welches der richtige Weg sei, sind nicht minder von Mißbrauch und Scheitern bedroht. Geschichte und Gegenwart sind voller Beispiele, wo von Religionen oder Ideologien der Verzicht auf eigenes Denken, eigenes Urteilen und eigene Verantwortung gefordert wurde, mit der Folge, daß sich nicht wenige mit Berufung auf Befehl und Gehorsam auch von schlimmster Schuld und Versagen zu exkulpieren suchten und suchen. Man kann es sich auch auf diese Weise leicht machen.

Das heißt: Wer den Vergleich verschiedener Modelle so führt, daß die Gefahren des einen den Vorzügen des anderen gegenübergestellt werden, wägt nicht ab, sondern betreibt Propaganda. Wenn also der ehemalige SPD-Abgeordnete Richard Schröder LER mit einem „Zoobesuch“ vergleicht, übt er weniger ernst zu nehmende Kritik, als daß er deutlich macht: Die Perspektive eines Theologen reicht naturgemäß selten weiter als der Blick von der Kirchturmspitze.“

Zuerst muß ein Kind in einer Weltan­schauung erzogen werden, dann erst kann es mit anderen konfron­tiert werden“- ein obsoleter Satz in einer plura­lis­ti­schen Gesell­schaft

Der ebenfalls von Schröder gebrauchte Uralt-Vergleich der Theologen, mit Religion und Ethik sei es wie mit der Sprache: Kinder müßten zuerst eine Sprache erlernen, um sich dann Fremdsprachen aneignen zu können, mag für die familiäre Erziehung gelten. Auch kann man diesen Satz in einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft hinsichtlich der schulischen Erziehung noch für plausibel halten. In einer pluralistischen Gesellschaft jedoch werden die Grenzen dieses Vergleichs offenbar, denn hier zieht er zwangsläufig die Frage nach sich: Welche „Sprache“ d.h. welche Weltanschauung soll der Staat für die SchülerInnen auswählen, um seinem Erziehungsauftrag gerecht zu werden? Daß es die christliche sein soll, wird wohl angesichts der Zahlenverhältnisse in Brandenburg ernsthaft niemand fordern. Aber auch keine andere kommt in Frage, weil – um im Bild zu bleiben – in einer pluralistischen Gesellschaft jede Weltanschauung für einen mehr oder minder großen Teil der SchülerInnen „Fremdsprache“ wäre.“

Was Werte sind, bestimmen wir“ – ein schlimmer Irrweg und seine westdeutsch – christliche Tradition

Die von einem anderen Brandenburger Abgeordneten genannte Alternative „Was Werte sind in diesem Land, bestimmen wir“ , ist nicht minder indiskutabel. Insofern hier die Vorstellung einer „Staatsethik“ anklingt, ist der Entrüstungssturm aus kirchlichen Kreisen vollauf berechtigt. Scheinheilig ist diese Entrüstung allerdings angesichts der Tatsache, daß in Westdeutschland ganz selbstverständlich das Christentum als maßgebend für den Ethikunterricht genommen wurde und wird. In mehreren Schulgesetzen westdeutscher Bundesländer werden christliche bzw. religiöse Erziehungsziele vorgegeben, die bei der Konzeptuierung der Ethik-Lehrpläne zu Lernzielen mutierten. Folgerichtig äußerte der Schulreferent der Erzdiözese Freiburg anläßlich Einführung des Ethikunterrichts in Baden-Württemberg, im Ethikunterricht seien „nach der Landesverfassung und dem Landesschulgesetz“ die Schüler auf der „Grundlage der christlichen Werte zu erziehen“ seien, weshalb Ethik kein „Gegenfach“ zum Religionsunterricht wäre. Der jetzige Bischof von Brandenburg Huber wirkte lange genug in Baden-Württemberg, um mit den dortigen Regelungen vertraut zu sein. Es ist nicht bekannt, daß er die offensichtliche Verletzung der weltanschaulichen Neutralitätspflicht des Staates und/oder die zahlreichen Diskriminierungen des Ethikunterrichts, der EthiklehrerInnen und -SchülerInnen gegenüber dem Fach Religion auch nur mit einem einzigen Wort moniert hätte.

In Westdeutschland wurde und wird von staatlicher und kirchlicher Seite dezidiert behauptet, der Staat habe das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht zur Werteerziehung. Eine Kollision mit dem Gebot weltanschaulicher Neutralität wird dabei durchweg verneint, obwohl – anders als bei LER – einer oft zweifelhaften Wertevermittlung der Vorrang vor einer Information über Werte gegeben wird, und obwohl religionskundliche Elemente oft nichts anderes als ein abgemilderter christlicher Religionsunterricht sind, und die Darstellung nichtchristlicher Weltanschauungen sowohl vom Umfang wie von der Bewertung her benachteiligt werden.

Es fehlte in Westdeutschland nicht an Stimmen, die vor dieser Fehlkonzeption des Ethikunterrichts warnten. So schrieb Wilhelm Riedel 1983 über den hessischen Bildungsplan für das Fach Ethik: „Er entzieht sich der wissenschaftlichen Fragestellung, indem er Werte setzt, nicht ihre Entwicklung anstrebt. Grundwerte werden aus der Verfassung herausgefischt und als Lernziele ausgegeben. Dabei wird völlig überspielt, daß Werte in geschichtlichen Prozessen entstehen und nur darin ihre Geltung haben.“ Im selben Buch kritisiert Friedrich Wilhelm Schmidt: „Zwar will man ‚keinen Religionsersatz bieten und keine Staatsethik vermitteln‘; aber – auch hier gibt das Dementi Aufschluß darüber, was wirklich geschieht: Die staatliche Bürokratie präsentiert den Schülern im Namen des Gesetzgebers ein umfangreiches – wenn schon nicht geschlossenes – System abstrakter ethischer Normen und Werte und den ahnungslosen Lehrern gleich die Didaktik dazu. Der Staat plant keineswegs nur die ‚Förderung ethischer Urteilsbildung‘, er fordert die Kenntnis und Befolgung einer bestimmten Moral: eine Art ‚kalten Kaffee‘ aus christlichem Abendland, Humanismus und Arbeiterbewegung: er fordert jetzt nicht nur von Lehrern, sondern auch von Schülern – Gesinnung.“

Ethik­un­ter­richt in Westdeut­sch­land – eine Forderung der Kirchen

Wenn nun genau dieselben Kreise, die vor wenigen Jahren solche Bedenken mit leichter Hand vom Tisch wischten und denen, die sie vorbrachten sogar mangelndes Engagement für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und pädagogisches Desinteresse unterstellten, neuerdings die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulichen Neutralität entdecken, muß ihrem kurzen Gedächtnis etwas aufgeholfen werden:

Es waren die Kirchen, die in Westdeutschland die Einrichtung eines Ethikunterrichts verlangten. Sie hofften, auf diese Weise der Austrittswelle aus dem Religionsunterricht Herr zu werden. Von katholischer Seite gab es 1974 die erste offizielle Stellungnahme: Die Gemeinsame Synode der deutschen Bistümer „begrüßt… die Einführung eines Unterrichtsfaches, das alle Schüler besuchen, die am Religionsunterricht nicht teilnehmen, unter der Voraussetzung, daß in diesem Fach Sinn- und Wertfragen gestellt und sachgerecht beantwortet werden können.“ Auf protestantischer Seite gab es zahlreiche vergleichbare Voten. 1975 forderten die evangelischen und die katholischen Religionslehrerverbände in Baden-Württemberg in gemeinsamen Briefen an das Kultusministerium und an alle Landtagsabgeordneten die Einführung des Faches Ethik und begründeten dies mit dem „Bildungsauftrag der Schulen“, der „übrigens auch in der Verfassung verankert“ sei. 1989 faßte die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken folgenden Beschluß: „Für alle Schüler, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben oder aus schulorganisatorischen Gründen an ihm nicht teilnehmen können oder wollen und auch nicht den Unterricht einer anderen Religionsgemeinschaft besuchen, muß Ethik als Pflichtfach eingeführt werden. Der Ethikunterricht steht nicht in Konkurrenz zum Religionsunterricht. Er sichert vielmehr den sittlichen Erziehungsauftrag der Schule. Er muß daher auch für die Schüler verpflichtend sein, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, damit sie den Grundelementen der moralischen, ethischen, religiösen Dimension in ihrer geschichtlichen Entwicklung begegnen….“

Es ist hier nicht der Ort, die aus diesem Zitat zum Vorschein kommende Arroganz der Großkirchen zu diskutieren, die glauben machen wollen, wer keinen Religionsunterricht habe, brauche Nachhilfe in Sachen Moral. Aber diese Arroganz soll immerhin als solche benannt werden, zumal sie sich derzeit bevorzugt gegenüber den Menschen aus den neuen Bundesländern äußert. Zu der sattsam bekannten überheblichen Haltung des Westens in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen gesellt sich die Attitüde moralischer Überlegenheit. Kolonialisierung und Missionierung sind seit alters her verschwistert.

2. Verfas­sungs­recht­liche Überle­gungen

Das elterliche Erzie­hungs­recht und der Mehrheits­wille ist für die Kirchen nur dann ein Argument, wenn sich ihre Interessen damit decken

Zwar heißt es in der EKD-Denkschrift von 1994 über den Religionsunterricht „Eine formale Berufung auf das Grundgesetz reicht nicht aus“, vielmehr brauche der schulische Religionsunterricht „einen breiten öffentlichen Konsens“. In Wirklichkeit jedoch nimmt das Pochen auf angeblich durch das Grundgesetz festgeschriebene Rechte im Zusammenhang mit LER den größten Raum der kirchlichen Argumentation ein. Daß sich die große Mehrheit der Eltern und SchülerInnen (sowie der Bevölkerung), für LER ausspricht, bleibt demgegenüber unbeachtet. Damit bestätigt sich die in den alten Bundesländern immer wieder gemachte Erfahrung: Von den Kirchen wird das elterliche Erziehungsrecht dann heftigst beschworen, wenn es ihnen nützt, wo nicht, lassen sie es unter den Tisch fallen.

Für das Land Brandenburg greift Art. 141 GGArt. 7 GG: Die Entstehung und die Entwicklung seiner veränderten Inter­pre­ta­tion

Da für das Land Brandenburg eindeutig Artikel 141 GG greift, würde es sich – formaljuristisch gesehen – zwar erübrigen, auf Artikel 7 GG einzugehen. Wenn dies trotzdem geschieht, so vor allem, um der kirchlichen und kirchennahen Deutung dieses Verfassungsartikels eine andere Interpretation entgegenzusetzen. Von kirchlicher Seite wird die Handhabung, wie sie in der Mehrzahl der westlichen Bundesländer momentan üblich ist, als die einzig mögliche und seit jeher gültige hingestellt. Das trifft mitnichten zu. Tatsache ist, daß Art. 7 GG unterschiedlich interpretiert werden kann und auch in der Vergangenheit wesentlich enger ausgelegt wurde. Mehr noch: In zahlreichen Punkten sind gerade was das Verhältnis von Religions- und Ethikunterricht betrifft, Zweifel angebracht, ob die in westlichen Bundesländern praktizierten Regelungen verfassungskonform sind. Was dort gilt, ist Ergebnis einer historischen Entwicklung, näherhin einer jahrzehntelangen kirchenfreundlichen Schulpolitik und intensiver Lobbyarbeit der Kirchen. Obwohl am Anfang der Bundesrepublik die Bevölkerung weit mehr als heute christlich gebunden war, waren die Regelungen damals deutlich weniger günstig für die Kirchen. Überwiegend gab es in diesem Fach keine Noten im Zeugnis (in Bayern bis weit in die siebziger Jahre), das Fach war nicht versetzungsrelevant, der Austritt war zu jedem beliebigen Zeitpunkt und ohne Abgabe irgendwelcher Erklärungen möglich.

„Ordent­li­ches Lehrfach“ – was das bedeutet und was nicht

Es bedarf der Klarstellung: Mitnichten kam Artikel 7.3 in die Verfassung, weil man den Kirchen einen eigenen Erziehungsauftrag neben dem der Schule einräumen wollte. Vielmehr: Da von verfassungswegen das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche gilt, wäre schulischer Religionsunterricht eigentlich verfassungswidrig. Um den Religionsunterricht trotzdem zu ermöglichen, wurde mit Art. 7.3 eine – systemwidrige – Ausnahme von der Regel gemacht. Das heißt: Die Verfassung gestand dem Fach Religion lediglich ein Existenzrecht zu. Aber im Laufe der Zeit wurde dieser Artikel mit kräftiger Nachhilfe kirchlicher Kreise so uminterpretiert, als sei darin eine besonders privilegierte Stellung des Faches ausgedrückt, so wurde gar vom „Verfassungsrang“ dieses Faches gesprochen.

Der Terminus „ordentliches Lehrfach“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die staatliche Gewährleistung, daß dieses Fach in der Schule stattfinden kann. Der Begriff beinhaltet nicht, daß es sich um ein Pflichtfach für die SchülerInnen handelt, sondern er drückt eine Pflicht des Staates aus. Dabei ist der Staat bei der näheren Ausgestaltung des Faches frei. Insbesondere ist er nicht zu einer Unterrichtsorganisation verpflichtet, die den Kirchen die größtmögliche Zahl von TeilnehmerInnen an ihrem Unterricht garantiert, es gibt hier keinerlei Anspruch auf „Besitzstandswahrung“ und erst recht keine Automatik, aufgrund derer in den neuen Bundesländern genauso zu verfahren wäre, wie in den alten derzeit gebräuchlich.

Die Bedingungen des schulischen Religi­ons­un­ter­richts in der Bundes­re­pu­blik: So günstig wie in keinem anderen Land

Angesichts des Einigungsprozesses in Europa darf nicht unerwähnt bleiben, daß selbst nach kirchlichen Aussagen die deutsche Regelung europaweit, ja weltweit einmalig ist. So heißt es in einem Beschluß der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken von 1989 über den schulischen Religionsunterricht: „Die äußeren Bedingungen sind so günstig wie in kaum einem anderen Land der Welt.“ Dies verdient mitberücksichtigt zu werden, wenn von kirchlicher Seite suggeriert wird, nur das derzeit geltende (west-)deutsche Modell garantiere eine angemessene ethische und weltanschauliche Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Wenn dem so wäre, müßte es im Rest der Welt um die Moral schlechter bestellt sein als bei uns.

Die Einrichtung eines Faches gehört zur staatlichen Schul­or­ga­ni­sa­ti­ons­kom­pe­tenz – Es gibt kein Mitbe­stim­mungs­recht der Kirchen

Grundsätzlich ist festzuhalten: Von niemandem – auch von den Kirchen nicht – wird bestritten, daß die Einrichtung von Schulfächern zur Schulorganisationskompetenz des Staates gehört. Ebenso unbestreitbar ist, daß der Staat ein Fach einrichten kann, in dem er über Ethik und Weltanschauung informiert. Umstritten ist lediglich, wie dieses Fach auszugestalten ist, um gleichermaßen dem schulischen Erziehungsauftrag und der Verpflichtung zu weltanschaulicher Neutralität gerecht zu werden.

Weil in den westlichen Bundesländern die historische Entwicklung so verlief, daß die Idee eines Ethikunterrichts geboren wurde, um den Religionsunterricht zu substituieren, entstand der durch die Verfassung nicht im mindesten gedeckte Eindruck einer wie immer gearteten Abhängigkeit des Ethikunterrichts vom Religionsunterricht. Die ausdauernde kirchliche Propaganda machte weite Kreise glauben, der Staat habe gewissermaßen die Kirche um Erlaubnis zu fragen, wenn es um die Einrichtung eines Faches ginge, dessen Inhalte sich in irgendeiner Weise mit denen des Faches Religion berühren. Aus der Verfassung läßt sich dergleichen keineswegs ableiten. Ebensowenig ist die weitverbreitete Ansicht, der Staat trete eine schulische Erziehungsaufgabe an die Kirche ab, durch Art 7 GG gedeckt. Eine solche Fehlinterpretation findet z.B. dann statt, wenn von der „besondere(n) Aufgabenstellung“ gesprochen wird, „welche das Grundgesetz dem Fach Religion“ angeblich zumesse und behauptet wird, dieses Fach „bilde nach dem Willen des Grundgesetzes eine wichtige Ergänzung des staatlichen Erziehungsauftrags.“ Von hier bis zu der Headline „Der Staat will Kirche spielen“ ist nur ein kleiner Schritt.

Entweder ist die Einführung von LER aus pädago­gi­schen Gründen erfor­der­lich – dann für alle Schüle­rInnen, oder LER ist überhaupt nicht erfor­der­lich

Wenn der Staat es aus pädagogischen Gründen für notwendig hält, ein Fach einzurichten, das ethische und Weltanschauungsfragen zum Gegenstand hat, so muß dieses Fach für alle SchülerInnen verpflichtend sein. Entweder diese Materie gehört zum Erziehungsauftrag der Schule, dann haben alle SchülerInnen in den Genuß des entsprechenden Faches zu kommen. Oder sie gehört nicht dazu, dann darf dieses Fach nicht eingeführt werden.

Abmel­dungs­mög­lich­keit von LER – Die Gefahr, daß genau die Schüle­rInnen an LER nicht teilnehmen, die ein Korrektiv zu einer funda­men­ta­lis­ti­schen Erziehung am nötigsten hätten

Wenn eine Abmeldung von LER zugunsten konfessionellen Religionsunterrichts möglich ist, bedeutet das über kurz oder lang, daß für Angehörige verschiedenster religiöser Denominationen (neben Sektenmitglieder vor allem Moslems) ein schulischer Religionsunterricht eingerichtet werden muß, bzw. außerschulische religiöse Unterweisung als Ersatz für LER anerkannt wird. Die finanzielle Belastung, die das mit sich brächte, ist das eine. Daneben wäre eine andere Konsequenz noch bedeutsamer: Bevorzugt diejenigen Eltern würden ihre Kinder von LER abmelden, die keine Begegnung ihrer Kinder mit anderen als der eigenen Weltanschauung wünschen. Genau die SchülerInnnen würden also von LER am wenigsten erreicht, für die dies als Korrektiv einer fundamentalistischen religiösen Erziehung am wichtigsten wäre. LER liefe damit ins Leere. Sicher muß auch hier das Elternrecht berücksichtigt werden. Aber das Elternrecht ist kein absolutes Recht. Insbesondere beinhaltet es kein schrankenloses Verfügungsrecht über die Kinder, sondern hat deren Wohl im Auge zu behalten. Daß es hier zu Interessenkollisionen kommen kann und die Rechte der Kinder, der Eltern und des Staates zum Ausgleich gebracht werden müssen, ist klar. Wer aber eine Abmeldungsmöglichkeit von LER mit Berufung auf Elternrecht und Gewissensgründe fordert, muß sich fragen lassen, wieso Eltern Kinder in die Schule schicken müssen, auch wenn sie deren pädagogisches Gesamtkonzept für schädlich halten, wieso fundamentalistische Eltern die Kinder nicht auch aus dem Biologieunterricht nehmen können, wenn die Evolution behandelt wird, oder wieso keine Abmeldung vom Geschichts- oder Deutschunterricht möglich ist, wenn Inhalte anstehen, die Eltern anders oder gar nicht behandelt wissen wollen.

Wenn das Land überzeugt ist, daß im Fach LER der Verpflichtung des Staates zu weltanschaulicher Neutralität, dem Elternrecht und dem Recht der SchülerInnen auf indoktrinationsfreien Unterricht genauso genügt wird, wie in den anderen Fächern, besteht keinerlei Veranlassung, eine Abmeldungsmöglichkeit einzurichten. Im Umkehrschluß heißt das: Eine Abmeldungsmöglichkeit von LER legt den Verdacht nahe, daß die genannten Prinzipien in diesem Fach verletzt werden.

Der Staat kann schulische Bildungs- und Erzie­hungs­auf­gaben nur delegieren, wenn er ihre ordnungs­ge­mäße Ausführung kontrol­lieren kann. Der Staat hat kein Aufsichts­recht über den Religi­ons­un­ter­richt – mithin kann er an ihn seine Aufgaben nicht delegieren

Der Staat kann seine Bildungs- und Erziehungsaufgabe nicht an den Religionsunterricht delegieren: Zum einen haben Ethik- und Religionsunterricht wie oben dargelegt eine unterschiedliche Zielrichtung. Noch wichtiger ist: Der Staat hat über den Religionsunterricht kein inhaltliches Aufsichtsrecht. Was im Religionsunterricht gelehrt und vermittelt wird, entzieht sich – mit Recht! – dem staatlichen Einfluß. Delegation ist aber nicht aufs Geratewohl, sondern nur dann und insoweit möglich, als der Delegierende Einfluß auf den Delegierten nehmen kann. Insbesondere muß kontrolliert werden können, ob der Auftrag im Sinne des Auftraggebers ausgeführt wird. Zu welchen Unzuträglichkeiten eine „blinde“ Delegation führt, läßt sich in aller Schärfe bereits an Ausnahmeregelungen zeigen, wie sie in alten Bundesländern hinsichtlich des Ethikunterrichts gelten: Hier müssen Angehörige verschiedener Sekten (z.B. Mormonen, Zeugen Jehovas, Neuapostolische) lediglich eine Bescheinigung vorweisen, daß sie an einer (außerschulischen) religiösen Unterweisung ihrer Glaubensgemeinschaft teilnehmen, um vom Ethikunterricht befreit zu sein. Dabei wird von der Fiktion ausgegangen, die religiöse Unterweisung ersetze das, was der Ethikunterricht leisten soll, also nicht zuletzt eine Erziehung zu Toleranz. Auf der anderen Seite wird von staatlicher und kirchlicher Seite gegenüber denselben Gruppierungen schärfste Kritik geübt. So sprach z.B. der Vertreter des Berliner Senats im Prozeß um die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft öffentlichen Rechts dieser Gemeinschaft „ein Mindestmaß an Staatstreue“ ab und sprach von psychischem Druck gegenüber Mitgliedern, die sich den Regeln nicht beugen wollten. Die EKD nannte die Zuerkennung des Status der Körperschaft öffentlichen Rechts an die Zeugen Jehovas „problematisch“, der für Sektenfragen zuständige Referent äußerte, der Staat spreche einer Organisation öffentliche Kompetenzen zu, die keine demokratischen Strukturen habe, ihren Mitgliedern die Lektüre bestimmter Bücher untersage und Aussteiger unter massiven psychischen Druck setze. Die Zeugen Jehovas verletzten Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Unantastbarkeit der Menschenwürde.“

Daß es aber auch umgekehrt für die Religionsgemeinschaften nicht unproblematisch ist, vom Staat einen Erziehungsauftrag delegiert zu bekommen, wird allmählich von diesen selbst wahrgenommen.

Art. 7 GG – Rechts­an­spruch der Eltern, kein Recht der Kirchen

In der Diskussion wird fast immer vergessen, daß Grundlage von Art. 7 GG nicht ein Recht der Kirchen gegenüber dem Staat beinhaltet. Nicht zwei Institutionen bestimmen hier, in welcher Weise ihre jeweiligen Untertanen zu unterweisen sind, noch teilen sie sich ihre Einflußsphäre auf. Sondern: Das Recht auf schulischen Religionsunterricht ist ein Elternrecht bzw. ein Recht der SchülerInnen. Sie sind es – und nicht die Kirchen – die aufgrund von Art 7 GG vom Staat die Einrichtung von schulischem Religionsunterricht verlangen können.

Wenn sich die Kirchen ernst nähmen, was Elternrecht und Elternwunsch ist und was die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Brandenburg wollen, wäre das überzeugender als ihr derzeitiges Agieren. So aber setzen sie sich dem Verdacht auf, es ginge ihnen nicht um die Menschen und um die Sache, sondern darum, sich selbst mit allen Finessen die größtmöglichen Vorteile zu verschaffen. Daß sie sich so verhalten wie jeder beliebige Interessenverband, ist ihnen unbenommen. Ob dies ihrem Selbstverständnis entspricht, ist eine Frage, die sie selbst beantworten müssen.

München, 5.1.1996

Ursula Neumann

Kategorie: Religion: Schule

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