Referat von Prof. Dr. Horst Herrmann
In den letzten Wochen habe ich Gelegenheit gehabt, in Interviews sowie auf Vortragsveranstaltungen zu erfahren, wie Menschen in der Bundesrepublik auf das Thema „Die Kirche und unser Geld“ reagieren. Zum einen sind wesentlich mehr Bürgerinnen und Bürger für das Problem sensibel, als das in den frühen siebziger Jahren der Fall gewesen ist (als mein Buch „Ein unmoralisches Verhältnis. Zur Lage von Staat und Kirche in der BRD“ erschien). Zum anderen ist noch keineswegs jene „kritische Masse“ erreicht, die – wie in Fragen Abrüstung oder Umweltschutz – an politischen Konsequenzen interessiert wäre. Diesen Zustand schreibe ich unter anderem der Tatsache zu, daß die einen Interessierten bereits aus der Kirche ausgetreten sind und meinen, damit das gesellschaftliche Problem gelöst zu haben, während die anderen Interessierten vor der Größe der Aufgabe resignieren: Ein über Jahrhunderte gefestigtes und wasserdicht gemachtes „Verhältnis von Staat und Kirche“ läßt sich nicht von heute auf morgen ändern, sagen sie – und tun fortan nichts, zumal sie sich – wie unter jungen Menschen häufig zu hören ist – „wichtigeren Aufgaben“ zuwenden wollen. Um es gleich zu sagen: Auch ich meine, es gebe andere Themen, zumal die Kirche für mich kein Problem mehr ist. Aber ich erfahre ebenso, daß eine solche theologisch begründete Meinung nur individuelles Glück mit sich bringt: Das bundesdeutsche Problem löst sie nicht, Kirche und Staat bleiben noch immer Problemfälle des allgemeinen Bewußtseins.
Das künftige Verhältnis von Staat und Kirche wird meiner Meinung nach ein „Verhältnis auf Zeit“ sein; je mehr sich die Kirche aus den bisher besetzten Handlungsfeldern zurückziehen muß, weil ihr Themen und Menschen weglaufen, desto weniger Einfluß wird sie auf eventuell weitere Verfassungen der Deutschen haben. Schon die heute noch gültigen Gesetze, die die Kirche wie keine andere Gruppe im weltanschaulich neutralen Staat privilegieren, wären unter den gegenwärtigen Umständen nicht mehr durchzusetzen. Sie lassen sich, da sie nun einmal da sind, nur noch weiterschleppen. Künftige Verfassungen werden jedoch grundlegend anders aussehen: Ich spreche mich beispielsweise für eine prinzipiell säkulare Neuordnung des „karitativen“ Sektors, für eine Verabschiedung der Kirchen aus Schule und Hochschule oder für die – vom Grundgesetz geforderte und noch immer nicht eingelöste – endgültige Ablösung der sogenannten Staatsleistungen aus.
Aber Absichtserklärungen bewegen noch nichts. Politisch etwas zu ändern, gar – wie im vorliegenden Fall – eine verfassungsändernde Mehrheit zustandezubringen, ist nicht leicht. Unter den Verhältnissen der BRD, die keine nennenswerte Kultur des Widerstandes kennt, ist es besonders schwierig. Statt die Kirchen endlich einmal ihr eigenes – auf der Welt einmaliges – Finanzierungssystem demokratisch diskutieren und legitimieren zu lassen, ist der Kritiker eben dieses Systems dazu genötigt, seinerseits Gründe zusammenzutragen, um eine entsprechende Änderung wenigstens „anzuregen“. Dabei brauchen sich die kritischen bis ablehnenden Argumente bestimmt nicht zu verstecken; auch ist die Zahl der in der BRD bereits Kirchenfreien mittlerweile auf gut 17 Millionen angestiegen, so daß es einen nur noch wundem kann, warum diese potentiellen und entsprechend zu aktivierenden Wählerstimmen noch immer nur so wenig Eindruck auf die Parteien machen.
Doch das herrschende Bewußtsein ist eben nicht aufgeweckt. Von daher gesehen, betrachte ich den Versuch der GRÜNEN, sich dem Thema zu widmen, bisher nur als ein Experiment des guten Willens. Meine Erfahrungen mit einer – ständig in der Regierung vertretenen und auf das christliche wie das sozialdemokratische Lager einflußreichen – Partei wie der F.D.P. und ihrem „Kirchenpapier“ lassen mich fürs erste daran zweifeln, daß sich die Phase der Sandkastenspiele ablösen läßt und ein wirklicher Umbruch erfolgen kann. Offensichtlich sind „Kirche“ im Allgemeinen und „Geld der Kirche“ im Besonderen eines der wirklichen Tabuthemen der BRD, und das europäische Ausland denkt sich seinen Teil. Daß hierzulande allein das Wort von der „Trennung von Staat und Kirche“ Ängste und Abwehrreaktionen auslöst, spricht für sich. Kaum jemand käme auf die Idee, daß das Grundgesetz eine gewisse „Trennung“ schon fordert. Offensichtlich sind die beiden „Mächte“ nach Auffassung vieler Deutscher untrennbar verbunden. Das wohlfeile Gerede von der „Partnerschaft“ zwischen Kirche und Staat tut ein Übriges, um diesen Eindruck zu verfestigen. Aus Zeitgründen kann ich nur auf meine Veröffentlichungen zu diesem Thema verweisen.
Juristisch ausgerichtete Diskussionen nach dem Motto „Die Verfassung gebietet es bereits heute“ sind zwar in sich stimmig (das Grundgesetz sagt manches wirklich), doch erbringen sie keine Änderung, weil sie nur Experten ansprechen und bestenfalls die Rechtsprechung beeinflussen (was freilich nicht wenig wäre). Da unser Volk nicht nur aus Rechtskundigen besteht, müssen die Schwerpunkte anders gesetzt werden, „pragmatischer“, „politischer“: Was ist wirklich allen zu vermitteln, was ist eines Tages wirklich mit Bundestagsmehrheiten zu ändern? Meines Erachtens handelt es sich um zwei große Themenkomplexe. Für sie könnte sich, da es Themen sind, die in der Luft liegen und reizen, schon jetzt eine breitere Diskussionsgrundlage ergeben, die auch über Parteigrenzen hinwegreichte. Ich meine das griffige Thema „Reichskonkordat“ und das noch griffigere Thema „Kirchensteuer“. Hierin liegen bestimmte Chancen, wenn auch nach wie vor relativ geringe. Das Hitlerkonkordat von 1933 ist längst zur Ablösung fällig; mit ihm fielen auch die entsprechenden Detailregelungen (z.B. etliche Grundlagen für die sog. Militärseelsorge oder den Religionsunterricht). Eine entsprechende öffentliche Diskussion gerade dieses Themas brächte viel von dem zum Vorschein, was historische Schuld und aktuelle Reuelosigkeit ausmacht. Ich kann mir mit guten Gründen denken, daß auch Kirchengebundene eine entsprechende Diskussion nicht zu fürchten brauchen – und vergleichsweise schnell für eine Ablösung des Schandvertrages zu gewinnen wären. Setzt die Diskussion den Hebel bei diesem Konkordat an, sind andere Themen des Staat-Kirchen-Verhältnisses nicht unschwer mitzubedienen. Vielleicht greift in diesem Fall sogar die „Domino-Theorie“.
In Sachen Kirchensteuer verweise ich grundsätzlich auf das von mir schon 1972 vorgeschlagene Modell einer „Solidarabgabe“, welches – modifiziert im Rahmen neuer Konkordate – in Italien und Spanien bereits eingeführt, in der BRD aber noch nicht einmal hinreichend diskutiert worden ist. Gleichwohl erfahre ich „unterwegs“, wie sehr es vielen Wünschen entgegenkommt: Zum einen ist es geeignet, die verbreitete Angst der Kirchengebundenen vor dem Tag X, dem Tag der ersatzlosen Streichung der Kirchensteuer, zu nehmen, zum anderen entwickelt es eine neue Art von „Steuer“, die nicht mehr nur obrigkeitliche Aufgabe ist, sondern, obgleich verpflichtend, von den Steuerpflichtigen nach eigenem Willen „verteilt“ und (bei Unzufriedenheit mit einem Verwendungszweck umgeschichtet) werden kann.
Ich plädiere für kleine Schritte, die allerdings weit in die Zukunft führen. Das Modell einer Solidarabgabe, dem sogar der Vatikan in den beiden erwähnten Konkordaten zugestimmt hat, erscheint mir selbst in der Bundesrepublik durchführbar – und auch politisch mit der Zeit möglich. Es stellt die Kirchen nicht einfach vor vollendete Tatsachen, es nimmt ihnen nicht von heute auf morgen alle Kirchensteuergelder; es ist vergleichsweise entgegenkommend und sogar „freundlich“, aber bestimmt. Es stellt, entsprechend diskutiert und unter Umständen modifiziert, eine praktikable Alternative zum Status quo dar. Ich habe dafür auch unter evangelischen Bischöfen Zustimmung gehört. Mit vielen Christen läßt sich zumindest darüber sprechen. Inwiefern eine solche Form der Kirchenfinanzierung sich mit den Erfordernissen des europäischen Binnenmarktes verträgt, wird relativ leicht zu klären sein. Dasselbe gilt für die Frage nach den „Übergangszeiträumen‘. Nicht zu übersehen sind dabei die inzwischen verstärkten Anstrengungen der Kirchenoberen, das bisherige „Modell Deutschland“ nicht nur für sich selbst zu retten, sondern es sich auch gesamteuropäisch garantieren zu lassen („Welt am Sonntag“ vom 11. 11. 1990, S. 41 f.) oder gar zum Export vorzuschlagen.