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Der Kosovo

Mitteilungen16606/1999Seite 45

Ulrich Vultejus zur Lage im Kosovo:

Mitteilungen Nr. 166, S. 45

„Ich hasse von Natur aus die breiten Worte, die mehr als gebührend dehnbaren Begriffe, als da sind die Civilisation, die Fortschritte, das Gleichgewicht, das europäische Interesse; ich hasse den Mißbrauch solcher Worte.“
Fürst Metternich 1856 anläßlich der Beendigung des Krimkrieges (1)

Es war und ist in der Geschichte und Gegenwart nicht ungewöhnlich, daß in einem Staat Bewegungen auftreten, die einen Teil des Staatsgebietes, und notfalls auch mit Gewalt, vom Staatsgebiet trennen wollen, um einen neuen selbständigen Staat zu gründen oder das Gebiet einem anderen Staat anzugliedern. In der Gegenwart kennen im europäischen Umfeld diese Probleme etwa die NATO-Partner Großbritannien (Nordirland), Frankreich (Korsika), Spanien (Baskenland) und die Türkei (Kurdistan).
Diese Trennungsbemühungen stoßen in aller Regel auf heftigen Widerstand des Mutterlandes. Sie werden als Hochverrat verfolgt und mit der Höchststrafe geahndet.
In § 81 des deutschen Strafgesetzbuchs wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe u.a. derjenige bedroht, der es unternimmt, mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen. Nach § 82 desselben Gesetzes ist sogar das Unternehmen, das Gebiet eines Bundeslandes ganz oder zum Teil mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt einem anderen Bundesland einzuverleiben unter der Überschrift „Hochverrat gegen ein Land“ mit Strafe bedroht.
In der Alltagssprache sind die Täter Freiheitshelden oder Terroristen, je nach Standpunkt.
Im Herzen kalte Politiker sehen bei der Einverleibung eines fremden Gebietes diese Konflikte voraus und vertreiben rechtzeitig die ihnen fremde Bevölkerung, „säubern das Gebiet ethnisch“. Als Deutsche haben wir dieses schreckliche Phänomen zuletzt bei der Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen und Schlesien erleiden müssen. Aktuell ist dieses Thema in der Türkei (Kurdistan) und in Jugoslawien (Kosovo).
Wie verhalten sich die zuschauenden Mächte? Sie kalkulieren kalt nach ihrem nationalen Interesse. Reichskanzler Fürst Bismarck am 1. Dezember 1876 im Reichstag: „Ich werde zu irgend welcher activen Betheiligung Deutschlands an diesen Dingen (nämlich den orientalischen) nicht rathen, so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur – entschuldigen Sie die Derbheit des Ausdrucks – die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers werth wäre.“
Bei dem Kurdistankonflikt ist das europäische und das US-amerikanische nationale Interesse schnell erklärt. Wir brauchten die Türkei als Basis für die Abhörstationen in den sowjetischen und in den vorderasiatischen Raum. Wir brauchen die Türkei als ‘Flugzeugträger‘ für militärische Operationen in Vorderasien. Überdies würden wir es bei einer Parteinahme für die Kurden nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit dem Iran und dem Irak auf die Dauer verderben. Also beschränken wir uns auf die Forderung, Öá§alan möge zwar wegen Hochverrats und Mordes zum Tode verurteilt werden, aber in einem rechtsstaatlichen Verfahren.
Im Kosovokonflikt ist die Interessenlage nicht so schnell durchsichtig. (Auch das neue) Jugoslawien hat traditionell enge Beziehungen zu Rußland. Jugoslawien ist der Hebel, mit dessen Hilfe Rußland sich in den Balkan einmischen und so mittelbar einen Zugang zum Mittelmeer gewinnen könnte. Also sind wir für die Albaner und beklagen die Verletzung von deren Menschenrechten.
1995 haben die Kroaten in der Krajina binnen weniger Tage 150 000 Serben aus dem Gebiet vertrieben, das 500 Jahre ihre Heimat war. Die NATO protestierte nicht einmal. Die USA ermunterten die Kroaten sogar eher.
Die Widersprüche sind offensichtlich. Sie werden noch sichtbarer, wenn man bedenkt, daß sich an den militärischen Operationen auch Großbritannien, Frankreich und Spanien beteiligen, die auf ihrem eigenen Staatsgebiet nichts, aber auch rein gar nichts von Separatisten halten.
Wie soll ein aufgeklärter Mensch mit diesen Problemen umgehen?
Ihre Ursprünge scheinen mir in der Identifikation von Staat und Volk im vergangenen Jahrhundert zu liegen, an der Deutsche maßgeblich mitgewirkt haben, zunächst noch harmlos in der der Aufklärung folgenden Romantik und dann friedensgefährdend (1. Weltkrieg!) im staatspolitischen Raum. „Deutschland, Deutschland über Alles, über Alles in der Welt“ (Hoffmann von Fallersleben). Der Weg vom einheitlichen Staat für alle Deutschen zur einheitlichen, verordneten Weltanschauung für alle Deutschen war nur konsequent. „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen“ (Horst Wessel). Das cujus regio, ejus religio war gewandelt zurückgekehrt.
Die „Verreichlichung“ durch die Nationalsozialisten, das heißt die Abschaffung der Länder, entsprach der totalitären Weltanschauung der Nationalsozialisten. „Ein Reich, ein Volk, ein Führer“. Die DDR ist nicht zufällig diesem Muster gefolgt und hat die Länder beseitigt, als in einige Landesparlamente (etwa Thüringen) weniger willfährige Abgeordnete eingezogen waren.
Das nach dem ersten Weltkrieg zerbrochene Kaiserreich Österreich-Ungarn mit vielen Völkern unter einem Dach und einem erfahrenen Krisenmanagement ist zu seiner Zeit immer wieder verspottet worden und wäre doch heute ein Modell für die Zukunft. Das bundesstaatliche deutsche Modell von der Verfassung von 1871 über die Verfassung von 1919 bis zum Grundgesetz könnte auch Modellcharakter haben und aus dieser Sicht muß man bedauern, daß sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zentralistische Tendenzen immer mehr durchgesetzt haben.
Wenn diese Analyse stimmt, liegen die Strategien zur Überwindung der Krisen offen zu Tage. Wir müssen in unserem Denken die Funktion des Staates zurücknehmen. Der Staat ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine notwendige Serviceeinrichtung für die Organisation unseres Zusammenlebens, die hier besser und dort schlechter arbeitet, die aber keine darüber hinausgehende Funktion hat. Sie ist kein Religionsersatz.
Im Kern ist dieses – nur weniger despektierlich formuliert – die alte, in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts formulierte liberale Idee zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Die Liberalen sind damals, zu unser aller Unglück wie wir heute wissen, in der geistig-politischen Auseinandersetzung den Konservativen unterlegen. Nicht zufällig nannten sich die Konservativen nach 1918 Deutsch-Nationale. Aber vielleicht, so muß man einräumen, brauchten die Menschen damals den deutschen Nationalismus, um die Bildung des Deutschen Reiches aus den einzelnen Bundesstaaten durchzusetzen, die aus ökonomischen Gründen notwendig geworden war, ähnlich, wie die der Europäischen Union heute.
Wenn wiederum dieses alles stimmt, bedeutet es für die Gegenwart: Es bringt nichts, sich eher zufällig auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Wir müssen auf Lebensbedingungen dringen, die es den Menschen – der „Gesellschaft“ – ermöglicht, nach eigenen und nicht nach von der jeweiligen Staatsführung vorgegebenen Vorstellungen zu leben. Dann, so muß die Tendenz sein, wird es immer unwichtiger, in welchem Staat ein Mensch lebt. Dann können die Türken türkisch, die Kurden kurdisch sprechen und die Serben sich auch im Kosowo als Serben, die Albaner sich als Albaner fühlen. Die Staatsführungen aber haben nach dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz allen die gleichen Rechte zu gewährleisten.

Zur Erinnerung

Der jetzige Luftangriff auf Belgrad ist nicht der erste in der Geschichte, den deutsche Flugzeuge flogen. Im April 1941 attackierte die deutsche Luftwaffe, damals alliiert mit Italien, Ungarn und Bulgarien, in Belgrad und Umgebung fast die selben „strategischen Ziele“, die heute auf der Liste der NATO stehen. Nach der Besetzung Belgrads wurden damals neunzig Prozent der Juden ermordet. Zugleich übernahm in Kroatien die Ustascha die Macht und wütete grausam gegen die serbische Minderheit. Eine halbe Million Serben wurde ermordet, eine Viertelmillion vertrieben, 200.000 gezwungen, zum Katholizismus überzutreten. Mit Hilfe der Deutschen und Italiener entstand damals vorübergehend ein großalbanisches Reich mit der Annexion des Kosowo und Teilen von Mazedonien, Montenegro und Griechenland. Am moderatesten ist der jugoslawische Staatspräsident Tito mit dem Kosowo umgegangen und hat dort eine albanische Regierung etabliert. Die Folge: 100.000 Serben verließen den Kosowo, so daß die Frankfurter Rundschau am 8.10.1984 melden konnte: „Jeder zweite Ort ist schon rein albanisch.“

Die UNO

Jede Bombe auf serbischem Boden erschüttert auch die UNO. Sie ist von der NATO – der zielgerichteten schon längerfristig zu beobachtenden US-amerikanischen Politik folgend – bewußt völkerrechtswidrig aus den Bemühungen um den Kosovo ausgeschaltet worden und verliert so ihre wichtigste Aufgabe, die Erhaltung des Friedens.
Das hat eine historische Parallele. Der 1920 unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges gegründete Völkerbund verlor seine Kraft, als es ihm 1935/1936 nicht gelang, den Einmarsch italienischer Truppen in Äthiopien zu verhindern. Der Ausschluß der Sowjetunion aus dem Völkerbund 1940 nach deren Überfall auf Finnland war ein letztes Aufbäumen. Der weitere Verlauf der Geschichte nach dem Scheitern des Völkerbundes ist bekannt.
Schon im vergangenen Jahrhundert hat sich im Völkerrecht der Begriff der „humanitären Intervention“ herausgebildet. Er war zu Völkergewohnheitsrecht geworden und besagt, daß Kriege als humanitäre Intervention erlaubt seien. Dieses Völkergewohnheitsrecht hat einen entscheidenden Schwachpunkt: Der Aggressor entscheidet selbst darüber, ob der von ihm begonnene Krieg eine humanitäre Intervention darstellt oder nicht. So könnte man etwa die deutschen Überfälle auf die Tschechoslowakei und Polen Ende der dreißiger Jahre als humanitäre Intervention jeweils zum Schutze der deutschen Minderheit werten. Eben wegen dieses Schwachpunktes ist 1945 unausgesprochen das Recht der humanitären Intervention durch die Eingriffsmöglichkeiten der UNO-Charta ersetzt worden. Das Völkerrecht hat die Intervention an die Verfahrensregeln der UNO (Beschluß des Sicherheitsrats und, wenn dieser durch ein Veto einer der Großmächte gehindert wird, durch eine „Uniting for Peace Resolution“ der Vollversammlung) gebunden. Das bestätigt mittelbar der 2+4-Vertrag, der der deutschen Wiedervereinigung zugrunde liegt, und in dessen Art. 2 bestimmt ist, „daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“.
Die bewußte Mißachtung der UNO und die Rückkehr zum Recht vor der Gründung der UNO kann in der Zukunft Konsequenzen haben, die weit über den Kosovo hinausreichen und die heute noch niemand überblicken kann. Es ist vielleicht die größte humanitäre Leistung unseres Jahrhunderts, unter dem Eindruck zweier Weltkriege – jeweils mit mehr Opfern, als der Holocaust – Kriege zu ächten.
Wird die UNO dasselbe Schicksal, wie der Völkerbund, erleiden?

Geschrieben am 27. März 1999, ergänzt am 19. April 1999.
Ulrich Vultejus

(1) Der Krimkrieg (1853-1856) ähnelt nach den beteiligten Staaten, dem Anlaß des Krieges (Ausgreifen Rußlands in den Mittelmeerraum), seines Verlaufs und der Zahl der Opfer dem Krieg der NATO gegen Serbien wegen des Kosovo. Wer den Kriegsverlauf im Kosovo voraussagen will, schlage ein Geschichtsbuch auf.

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