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Verfas­sungs­recht und selbst­be­stimmter Tod

Für eine radikale Positionierung der HU zur Sterbehilfe

Mitteilungen Nr. 192, S.16-17

In den letzten Mitteilungen Nr. 191 vom Dezember 2005 hat die Bundesvorsitzende Prof. Dr. Rosemarie Will über die neue Diskussion zu § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) und die bisherigen Vorschläge zu diesem Thema berichtet.

Ich glaube, die Humanistische Union ist wieder einmal zu radikalem Denken, wie es ihr bereits in der Vergangenheit mehrfach gut angestanden hat, aufgefordert (radix: die Wurzel, an die Wurzel eines Problems herangehen). Ich erinnere mich gut an die HU-Diskussionen der 70er Jahre zum Schwangerschaftsabbruch. Man war sich einig, dass die strikte Bestrafung nahezu jeden Schwangerschaftsabbruchs nicht mehr tragbar sei, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau beachtet werden müsse. Aber wie sollte man das rechtliche Problem „einhegen“? Welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, um die Strafbarkeit auszuschließen? Wie sollte die Schwangere vor sich selbst, wie sollte das werdende Kind geschützt werden – durch Beratungspflichten und Fristen? Auch unser allseits geschätzter liberaler Bundesvorsitzender Ulrich Klug dachte in diese Richtung.

Dann kam plötzlich das Aha-Erlebnis und der Durchbruch: Nur die Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218 StGB wurde der Problematik und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau (und durchaus auch dem Recht des werdenden Kindes) gerecht. Dies wurde die Forderung der Humanistischen Union. Und wenn sie auch bis heute nicht realisiert wurde, so war doch sicherlich diese konsequente, weitgehende Forderung maßgeblicher Grund dafür, dass wenigstens das erreicht werden konnte, was heute gilt. Nur wer mehr fordert (natürlich gut und sachlich fundiert) als das, was im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext durchsetzbar erscheint, kann Reformbewegungen in Gang setzen, die dann wenigstens das gesellschaftlich Mögliche realisieren.

Seit den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (NJW 1995, 204) und insbesondere der Entscheidung vom 17. März 2003 in Zivilsachen (NJW 2003, 1588) ist endlich die schon immer von der HU vertretene Auffassung höchstrichterlich abgesichert, dass allein der Patientenwille entscheidend ist für die ärztliche Behandlung und dass eine schriftliche Patientenverfügung uneingeschränkt bindend für Ärzte, Betreuer und Gerichte ist, auch und gerade wenn sie zum Tode führt. Die Entscheidung des Patienten ist verbindlich und rechtfertigt das Handeln des Arztes und der Angehörigen sowie sonstiger Personen. Ich habe mich bereits zweimal im Grundrechte-Report (1998, S. 33; 2004, S. 24) unter dem Titel „Die Würde des Menschen im Sterben“ mit diesem Problemkreis befasst.

Warum ist das so? Ulrich Klug hat dies bereits in seiner Stellungnahme vom 6. Mai 1985 im Auftrag der Humanistischen Union vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages abgeleitet aus Artikel 1 Grundgesetz, der Menschenwürde. Zur Menschenwürde (und zur freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Artikel 2 Grundgesetz) gehört die Selbstbestimmung des Menschen. „Das Grundgesetz geht von der Würde der freien, sich selbst bestimmenden Person als höchstem Rechtswert aus (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz)“ – so u.a. das Bundesverfassungsgericht im 69. Band, S. 1, 92, zum Kriegsdienstverweigerungsrecht. Wenn der höchste Rechtswert des Grundgesetzes die Würde der freien, sich selbst bestimmenden Person ist, dann folgt daraus zwingend, dass die freie sich selbst bestimmende Person auch selbst bestimmt, wie lange sie leben will, wann sie ihrem Leben ein Ende setzen will und insbesondere auch, welches Leben sie selbst für lebenswert hält, welches Leben und welches Sterben sie selbst für würdevoll hält und welches „Sterben in Würde“ sie für sich selbst will. Daraus folgt nach Klug „daß die Selbsttötungsfreiheit gesetzlich nicht eingeschränkt werden darf, und dass ihre Nichtstrafbarkeit, einschließlich der Straffreiheit von Beihilfe, unabdingbar ist“ und dass der § 216 StGB über die Tötung auf Verlangen in der jetzigen Formulierung verfassungswidrig ist.

Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 17. März 2003 diese verfassungsrechtliche Ableitung und Begründung in bewunderswerter Weise übernommen (wenn auch m.E. nicht konsequent zu Ende gedacht). Er führt aus, dass die Fortsetzung einer ärztlichen Behandlung verboten ist, wenn sie gegen den Willen des Patienten verstößt. „Liegt eine solche Willensäußerung, etwa – wie hier – in Form einer sog. Patientenverfügung, vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts, aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen den Betreuer; denn schon die Würde des Betroffenen (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) verlangt, daß eine von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann noch respektiert wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Entscheiden inzwischen verloren hat.“ Und die Vorsitzende des entscheidenden 12. Zivilsenats, Frau Meo-Michaela Hahne, hat in einem FAZ-Interview nochmals betont: „Die Grundaussage ist, dass der Patientenwille obersten Vorrang hat. Nur der Patient kann und soll darüber bestimmen, wie sein Leben zu enden hat … Es ist deshalb allein der Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechtes und seiner unveräußerlichen Menschenwürde, ob und wie er den Tod annehmen will oder nicht … denn nur der Patient ist es, der über sein Leben, aber auch über die Art und Weise seines Todes, seines Weggehens aus diesem Leben zu entscheiden hat. Niemand sonst hat darüber zu entscheiden, denn es ist das Leben des Patienten. Der Patient hat zwar ein Lebensrecht, aber er hat keine Lebenspflicht.“ (FAZ vom 18.7.2003, S. 4)

Diese inzwischen in Literatur und Rechtsprechung gefestigte Rechtsauffassung ist allerdings entwickelt worden nur für den Fall des Sterbens in Würde, für den Fall also, dass die Krankheit des Patienten einen „irreversiblen tödlichen Verlauf“ angenommen hat, dass eine ärztliche „infauste Prognose“ vorliegt. Die Begründung dieser Rechtsauffassung wurzelt im uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht des Menschen, welches aus der Menschenwürde nach Artikel 1 GG abgeleitet wird. Dann stellt sich doch zwingend die Frage: Gilt dieses Selbstbestimmungsrecht als Ausfluß der Menschwürde denn etwa nur für einen Sterbenskranken? Wieso denn nicht für den Nicht-Kranken? Nicht nur der Kranke hat „ein Lebensrecht, aber keine Lebenspflicht“, dasselbe muss doch auch gelten für den nicht Sterbenskranken, auch für den Gesunden. Jeder, nicht nur der Sterbenskranke, hat selbst über sein Leben und die Beendigung seines Lebens zu bestimmen. Dies ist auch im Strafrecht seit langem insoweit anerkannt, als die Selbsttötung – bzw. der Versuch – nicht strafbar ist und folglich auch nicht die Beihilfe zur Selbsttötung. Mit welcher Begründung kann dann die Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB strafbar sein?

Die Absurdität dieser Rechtslage zeigt sich bei folgendem Beispiel: Jemand – krank oder nicht – will seinem Leben ein Ende setzen. Er läßt sich hierfür von seinen Verwandten einen Becher Gift auf den Tisch stellen und trinkt ihn aus. Dies ist straflose Beihilfe zur Selbsttötung. Ist er aber gelähmt oder hat keine Arme und kann daher selbst den Becher nicht austrinken, sondern bittet seine Angehörigen, ihm den Becher an die Lippen zu setzen, damit er das Gift trinken kann, so handelt es sich um eine strafbare Tötung auf Verlangen! Diese unterschiedliche juristische Betrachtungsweise mag historisch erklärlich sein, der Sache nach aber fehlt es an einer Rechtfertigung für die Unterscheidung.

Wenn die nach Art. 1 Grundgesetz unantastbare Würde des Menschen sein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich Tod und Leben einschließt, dann muss nicht nur von Verfassungs wegen die Selbsttötung straflos sein, dann muss auch die auf dem selbstbestimmten Willen des Betroffenen beruhende Tötung auf Verlangen ebenso straflos sein. Von Verfassungs wegen ist die ersatzlose Streichung des § 216 StGB zu fordern.

Nichts anderes bedeutet auch der von Rosi Will in den Mitteilungen zitierte Vorschlag des Rechtsphilosophen und Strafrechtlers Arthur Kaufmann zur Neuformulierung desÜ 216 StGB: „Wer eine Tötung aufgrund des ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens des Getöteten vornimmt, ist nur dann strafbar, wenn die Tat trotz des Verlangens gegen die guten Sitten verstößt.“

Gegen einen solchen Vorschlag mag man auf Missbrauchsmöglichkeiten hinweisen. In unserer zunehmend kälter werdenden Gesellschaft könnten insbesondere Alte, die ihren Angehörigen nicht zur Last fallen wollen, getrieben werden, ihren eigenen Tod zu wünschen. Ich halte dieses Argument nicht für stichhaltig. Missbrauchsmöglichkeiten gibt es immer, auch dann, wenn man den § 216 stehen lässt und durch zusätzliche Absätze Rechtfertigungsmöglichkeiten oder das Absehen von Strafe hinzufügt. In jedem Fall – auch bei der schon heute zulässigen Sterbehilfe von Moribunden – liegt bei demjenigen, der einen anderen auf Verlangen tötet oder ihm beim Sterben hilft, die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass dies wirklich auf ernsthaftes Verlangen des Getöteten geschah.

Es war schon immer ein Markenzeichen der Humanistischen Union, Probleme radikal und bis zum Ende zu durchdenken und nicht ängstlich auf halbem Wege halt zu machen.

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