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Gegen kirchliche Sonder­rechte in Berlin – 10 Irrtümer zu „Pro Reli“

Aus: Mitteilungen Nr. 204 (1/2009), S. 13

1. Unsinnig ist die Behauptung, dass das geltende Recht die freie Wahl zwischen Ethik und Religion verhindert. Ethik ist nicht Ersatz für Religion und Religion ist nicht Ersatz für Ethik. Wer für sich persönlich oder seine Kinder den Glauben für bedeutsam hält, kann derzeit noch Religionsunterricht in der Schule frei wählen – neben dem Ethikunterricht. Nach dem Willen von „Pro Reli“ soll das nicht mehr möglich sein.

2. Unwahr ist es zu behaupten, dass nur die Abwahl des Ethikunterrichts und die Wahl des getrennten Religionsunterrichts den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bietet, ihre eigenen religiösen Wurzeln kennen zu lernen. Niemandem wird zugemutet, in der Schule auf seine Religion zu verzichten. Richtig ist vielmehr: Die am Religionsunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler erhalten die Chance, darüber hinaus im Ethikunterricht auch fremde religiöse und kulturelle Wurzeln kennen zu lernen und sich mit Andersgläubigen auseinander zu setzen.

3. Diffamiert wird das Fach Ethik als „Zwangsfach“. Alle ordentlichen Unterrichtsfächer in der Schule sind im Rahmen der Schulpflicht verpflichtend. Für das Fach Ethik gilt nichts anderes. Mit Religionsfreiheit hat das Fach nichts zu tun, weil es in diesem um Kenntnisse und gerade nicht um das eigene Bekenntnis zu einer bestimmten Weltanschauung geht. Eine Abmeldung vom Ethikunterricht lässt sich nicht religiös begründen.

4. Unbewiesen ist die Unterstellung, im Ethikunterricht würden Schülerinnen und Schüler staatlich indoktriniert oder zu Atheisten erzogen. Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Unterrichts ist ausdrücklich vorgeschrieben. Die Glaubensgemeinschaften waren und sind aufgerufen, an den Lehrplänen für den Ethikunterricht mitzuwirken, sie können den Unterricht in einzelnen Kooperationsphasen sogar mitgestalten.

5. Unehrlich sind die Kirchen, wenn sie in Berlin die Freiheit der Wahl zwischen Religionsunterricht und dem angeblichen „Zwangsfach“ Ethik fordern. Nicht nur, dass sich die Freiheit der Wahl beim näheren Betrachten als Zwang zur Entscheidung zwischen Ethik oder Religion entpuppt; in anderen Bundesländern bestehen gerade die Kirchen darauf, dass Ersatzfächer wie Ethik, Philosophie oder Werte und Normen für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend sind, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. In einem Ersatzfach Ethik für Religionsverweigerer sehen Deutsche Bischofskonferenz und Evangelische Kirche in Deutschland offenbar keine „Bevormundung“, in einem normalen Schulfach hingegen schon. Haben die beiden christlichen Kirchen keine Hemmungen, anders- oder nichtgläubigen Kindern jenes „Zwangsfach“ aufzuerlegen, dass sie für die eigenen Glaubensanhänger unbedingt verhindern wollen?

6. Beschämend ist es, den Befürwortern der geltenden Rechtslage Religionsfeindlichkeit zu unterstellen. Das Gegenteil ist der Fall: Allen Bürger der Stadt soll weiterhin die Freiheit bleiben, sich zu ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion zu bekennen und sie auch öffentlich auszuüben. Zur Religionsfreiheit gehört aber auch die Freiheit,  sich von Religionen abzuwenden oder ihnen fern zu bleiben. Die Befürworter der geltenden Sach- und Rechtslage wollen die vielfältigen religiösen Wurzeln unserer Kultur weder verleugnen noch bekämpfen, die kulturellen Leistungen der Religion sind wesentlicher Bestandteil unserer Geschichte. Vermieden werden soll allein ein Sonderunterricht in Religion und die damit verbundene konfessionelle Aufteilung der Schülerschaft.

7. Bagatellisiert wird von „Pro Reli“ die durchaus nicht selbstverständliche Tatsache, dass an den Schulen der Stadt seit langem Religionsunterricht stattfindet, namentlich auch für die evangelischen und katholischen Christen, einer deutlichen Minderheit der Stadtbevölkerung. Für diesen Bekenntnisunterricht zahlt das Land Berlin jährlich rund 50 Mio. Euro, die von allen steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürgern der Stadt aufgebracht werden, unabhängig von ihrer Konfession.

8. Unterschlagen wird von den Befürwortern des Volksbegehrens, dass die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Ethikunterrichts längst geklärt ist. Bereits im März 2007 hat das Bundesverfassungsgericht über eine Klage gegen den Ethikunterricht im Berliner Schulgesetz entschieden. Das eindeutige Urteil: Der Ethikunterricht verstößt nicht gegen unsere Verfassung. Die Richter berücksichtigten sowohl die besondere Situation Berlins und prüften sorgfältig jene Argumente gegen das Ethikfach, die von „Pro Reli“ weiterhin öffentlich verbreitet werden.

9. Irreführend ist die Forderung von „Pro Reli“, das Grundrecht auf Teilnahme am Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach nach Artikel 7 Abs. 3 Grundgesetz müsse auch in Berlin gelten. Abgesehen davon, dass es umstritten ist, ob Artikel 7 Grundgesetz in den anderen Bundesländern überhaupt als Grundrecht anzusehen ist, wird hier verschwiegen, dass das Grundgesetz selbst die Geltung von Artikel 7 in Berlin ausdrücklich suspendiert (Artikel 141 Grundgesetz). Es wäre deshalb Aufgabe des Senats, prüfen zu lassen, ob das Grundgesetz überhaupt eine Regelung zuließe, die Religionsunterricht in Berlin als ordentliches Lehrfach vorsieht.

10. Unterschätzt werden die Chancen, die das Fach Ethik gerade in einer Stadt wie Berlin bietet, die so viele unterschiedliche Kulturen, Ethnien, Glaubensgemeinschaften und Lebensstile umfasst. Wo kann Integration vorbereitet, geübt und gelebt werden, wenn nicht in der Schule? Wo kann dies besser geschehen als in einem gemeinsamen Fach, in dem religiöse, ethische und existenzielle Fragen gestellt und erörtert werden, die unser aller Zusammenleben berühren? Der gemeinsame Unterricht aller Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 bis 10 im Fach Ethik und die Möglichkeit, darüber hinaus Religionsunterricht zu wählen, bieten ein Höchstmaß an Freiheit und Integration.

Johann-Albrecht Haupt
ist Mitglied des Bundesvorstandes der Humanistischen Union

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