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Keine Bewegung! Report zu Hinter­gründen und Auswir­kungen der Residenz­pflicht

Mitteilungen20404/2009Seite 22

Aus: Mitteilungen Nr. 204 (1/2009), S. 22

Keine Bewegung! Report zu Hintergründen und Auswirkungen der Residenzpflicht

(Red.) Am 20. März präsentierten Humanistische Union und Flüchtlingsrat Brandenburg in Potsdam eine gemeinsam herausgegebene Studie über die Residenzpflicht für Flüchtlinge in Deutschland. Wir drucken hier einen Auszug aus dem Vorwort der Bundesvorsitzenden der Humanistischen Union.

Die vorliegende Broschüre befasst sich mit einem Thema, von dem die meisten Bürgerinnen und Bürger wohl noch nie gehört haben: der so genannten Residenzpflicht. Dabei handelt es sich um eine Vorschrift, die es Asylbewerbern wie Geduldeten untersagt, ohne schriftliche Erlaubnis den Wirkungskreis der zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen. Verstöße gegen die Residenzpflicht werden mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet. Die Texte in dieser Broschüre beschreiben die alltäglichen Auswirkungen der Residenzpflicht für die betroffenen Flüchtlinge und Asylsuchenden, ebenso wie die juristischen und politischen Hintergründe, wie es zu derart menschenunwürdigen Verhältnissen in Deutschland kommen konnte.

Die Texte bieten einen lebendigen Einblick in den Alltag asylsuchender Menschen in Deutschland, ihr Leben unter den restriktiven Bedingungen der Residenzpflicht. Die hier vorgestellten Fallbeispiele und Informationen aus erster Hand sollen dazu beitragen, die in weiten Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Ahnungslosigkeit über die Lebenssituation Asylsuchender in Deutschland abzubauen. Diese Ahnungslosigkeit kommt nicht von ungefähr, sondern liegt in der Absurdität der Residenzpflicht begründet: Wer würde sich schon damit abfinden, dass sein Leben auf einen willkürlichen Verwaltungskreis beschränkt würde, dass für jede Fahrt in die nächstgrößere Stadt die Erlaubnis einer Behörde einzuholen wäre? Derartig Unvorstellbares für uns Nicht-Betroffene vorstellbar zu machen, ist ein erstes Anliegen der Texte.

Die Beschreibungen, Reportagen und Interviews zum Thema Residenzpflicht beschränken sich jedoch nicht auf eine reine Darstellung, die Broschüre bietet mehr als nur den „ethnologischen Blick“ auf einen fremden Alltag. Beate Selders stellt die gesetzlichen Grundlagen der Residenzpflicht vor und skizziert die politischen und juristischen Auseinandersetzungen um die räumliche Aufenthaltsbeschränkung. Kritisch setzt sie sich mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auseinander. Sie zeigt auf, wie Asylsuchende von grundlegenden Freiheiten abgeschnitten werden und die umstrittene Begründung für die Strafbarkeit eines an sich normalen Verhaltens funktioniert. Ausführlich geht Beate Selders auf die praktische Anwendung der Residenzpflicht durch Ausländer- und Polizeibehörden ein. Dabei wird deutlich, dass die gesetzlichen Grundlagen der Residenzpflicht zu einem alltäglichen Rassismus verleiten, ihre Durchsetzung jenen diskriminierenden Blick fördert, den der Staat andernorts aufwändig zu bekämpfen sucht. Durch die vielschichtige Darstellung wird die Residenzpflicht nicht nur als Problem der Betroffenen, sondern auch als grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft im Umgang mit Asylsuchenden thematisiert. Die Interviews und Reportagen von Beate Selders machen deutlich, dass wir nicht untätig bleiben dürfen.

Die Humanistische Union versteht die Broschüre als Beitrag zu den immer wiederkehrenden migrations- und kriminalpolitischen Diskussionen um die sog. Ausländerkriminalität: Manche Vorurteile und Ressentiments gegen „kriminelle Ausländer“ finden ihren rationalen Kern in Straftaten, die eben nur Asylsuchende begehen können – wie die Verstöße gegen die Aufenthaltsbeschränkungen des Asylverfahrensgesetzes oder des Aufenthaltsgesetzes. Verstöße gegen die sog. Residenzpflicht sind aber kein Beleg für „kriminelle Ausländer“, sondern vielmehr Ausdruck menschenunwürdiger Lebensbedingungen für Asylsuchende in Deutschland. Mit der Broschüre wollen die Herausgeber eine aus ihrer Sicht dringend notwendige Debatte über diese Lebensbedingungen anregen. Das Recht auf freie Bewegung muss endlich für die in Deutschland lebenden Migranten eingelöst werden.

Rosemarie Will

Beate Selders: Keine Bewegung! Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge – Bestandsaufnahme und Kritik. Hrsg. von Flüchtlingsrat Brandenburg & Humanistischer Union. Eigenverlag, Berlin 2009, 144 S., 5.- Euro
ISBN: 978-3-930416-25-7

Der Report kann über den Buchhandel oder den Online-Shop der Humanistischen Union bezogen werden. Mitglieder der Humanistischen Union können die Broschüre kostenfrei über die Bundesgeschäftsstelle beziehen, für HU-Regionalgruppen sind kostenfreie Exemplare für den Wiederverkauf verfügbar.

Die Erstellung dieser Broschüre wurde finanziell gefördert durch Pro Asyl und die Aktion Mensch. Wir danken für die freundliche Unterstützung.

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