Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Soziale Ungleich­heit

Gesellschaftspolitische Einstellungen und reale Entwicklungen

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), S.25-33

Soziale Ungleichheit existiert, seit es Gesellschaften gibt. Die Frage der gerechten Verteilung stellte daher schon Aristoteles. Im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts eroberte sie jedoch mit nie da gewesener Dringlichkeit das öffentliche Bewusstsein. Aber mit den nachfrageorientierten Politikrezepten des Keynesianismus, die nach der Weltwirtschaftskrise in den USA und nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa vorherrschend wurden, hatte die Ungleichheit der Einkommen schrittweise in den Industrienationen abgenommen: Im Ergebnis stand dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung zum Leben immerhin ein Sechstel bis ein Fünftel zur Verfügung von dem, was das wohlhabendste Fünftel besaß. Zuvor war es nicht mehr als ein Zehntel gewesen.[1]

Als 1979 Margaret Thatcher in Großbritannien und 1980 Ronald Reagan in den USA in die Regierungsverantwortung gewählt wurden, war zwar das keynesianische Paradigma noch lange nicht am Ende. Aber es hatte die gesellschaftliche und die wirtschaftspolitische Hegemonie verloren. Seither gibt es die Wahrnehmung steigender Ungleichheit, vor allem aber den Wettstreit der Argumente: zwischen Globalisierung, Standortbewerb oder Wachstum einerseits und andererseits Verteilung und Gerechtigkeit. Die Diskussion um den Anstieg sozialer Ungleichheit ist also nicht neu. Sie feiert vielmehr bereits ihr 25-jähriges Jubiläum.

In jenen Jahren begann in Großbritannien und den USA tatsächlich eine starke Veränderung der gesellschaftlichen Verteilung: Die Einkommen des reichsten Fünftels waren in den 1950er und 1960er Jahren in Großbritannien viermal so hoch wie die der Ärmsten; damit war ein Tiefstand der Differenz erreicht, der von Verhältnissen in den sozialistischen Ländern nicht allzu weit entfernt war. In den USA lag das Verhältnis zwischen Arm und Reich (immer in bezug auf die unteren und oberen 20 Prozent) bei 6, praktisch auf der selben Höhe wie in der Bundesrepublik. Schon bevor Thatcher und Reagan in ihre Ämter gewählt wurden, weisen die Daten Anstiege der Unterschiede aus – für die USA ab 1974, für Großbritannien ab 1978 –, so dass die reichen 20 Prozent dort Ende der 1990er Jahre acht- bis zehnmal soviel verdienten wie die armen 20 Prozent. In Australien – und damit von der europäischen Diskussion weniger bemerkt – hat das wohlhabende Fünftel sogar elfmal so viel zum Leben wie das ärmste.

Die begleitende wirtschaftspolitische Diskussion führte als Argumente Strukturwandel, Rationalisierung, Outsourcing und Globalisierung ins Feld. Nicht ohne Grund fragte 1995 ein amerikanischer Ökonom „Are your wages set in Bejing?” (Freeman 1995) Diese Entwicklung war in den genannten englischsprachigen Ländern mit einer Reihe wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen verbunden, zu denen Umgestaltungen sozialer Sicherungsmaßnahmen gehörten. Im Jahr 2004, in dem erstmals in Deutschland ernsthaft versucht wird, ebenfalls die sozialen Sicherungssysteme umzubauen, entsteht bei manchen Beobachtern die Sorge, dass der Prozess nicht nur in eine ähnliche Richtung, sondern auch ähnlich weit wie in den USA ginge.

Wie unaus­weich­lich ist der Anstieg von Ungleich­heit?

Wie unausweichlich ist also dieser Prozess steigender Ungleichheit? Um diese Frage zu beantworten, betrachteten wir Daten zur Einstellung der Bevölkerung zum Thema sozialer Ungleichheit. In verschiedenen Industrieländern wurde jeweils über 1.000 repräsentativen Interviewpartnern die Frage gestellt: „Meinen Sie, der Staat solle mehr tun, um Einkommensdifferenzen zu verringern?“[2] Zur Auswahl werden dabei fünf Kategorien gestellt, einschließlich einer neutralen Mittelkategorie. Es ist bekannt, dass die Antwort auf diese Frage stark von der sozialen Position der Befragten abhängt: Je weiter unten auf der Leiter des sozialen Status sich jemand befindet, desto weniger kann er oder sie auf staatlichen Schutz verzichten. Menschen mit geringerem Einkommen und geringerer Bildung, Frauen oder Nichterwerbstätige stimmen regelmäßig eher zu.

Uns aber ging es um die Unterschiede zwischen den Ländern. Der Anteil der Menschen, die auf diese Frage zustimmend antworten, weist nämlich darauf hin, welchen Stellenwert die Frage sozialer Ungleichheit im politischen Diskurs eines Landes spielt. In Spanien oder Frankreich, wo 89 Prozent und 87 Prozent der Frage zustimmten, sollte mit dem Thema Ungleichheit ganz anders Politik zu machen sein als in den USA und Australien, wo die entsprechenden Werte nur bei 33 Prozent und 34 Prozent lagen. Wenn überhaupt der Anstieg der sozialen Ungleichheit politisch beeinflussbar ist, sollte sich dies darin niederschlagen, dass in Spanien, Frankreich oder anderen Ländern, in denen dieses Thema eine große Rolle spielt, der Anstieg geringer ausfällt als etwa in den USA.

Dies ist auch tatsächlich der Fall. Zwischen der Einstellung der Bürger und Wähler zu Verteilungsfragen und der tatsächlichen Veränderung von Ungleichheit zwischen den 1980er und den 1990er Jahren besteht ein positives Verhältnis: Wer für ein Land die erstere kennt, hat damit schon die Hälfte der Information für die letztere. Dass das nicht noch stärker ins Gewicht fällt, lässt sich zum Teil mit Eigendynamiken des politischen Systems erklären: Für Großbritannien zum Beispiel stammt unsere erste Erhebung von 1987, als die Ungleichheit bereits von einem Einkommensverhältnis von 4 auf eines von 6,5 angestiegen war und die Vorstellung, dass politisches Handeln hier ein-greifen müsse, schon um sich zu greifen begann – dennoch ging die Entwicklung noch bis zum Verhältnis von 8,5 weiter. Andererseits steht in Schweden die Reduktion von Einkommensungleichheit im Zusammenhang mit der Volksheim-Politik, der gegenüber wiederum ein murrendes Unzufriedenheitsgefühl um 1990 in der Bevölkerung vorherrschte. Obwohl sich diese Unzufriedenheit auch in einer im internationalen Vergleich nur mittelmäßigen Zustimmung von 53 Prozent im Jahr 1992 ausdrückte, fiel die Einkommensdifferenz sogar noch von 5,5 auf 4,7. In Spanien und Frankreich, deren Bevölkerungen sich in der Umfrage am stärksten gegen Ungleichheit aussprechen, fällt sie in der Folge auch: in Frankreich nur marginal, hingegen in Spanien, das nach dem Ende der Franco-Diktatur in vielerlei Hinsicht gesellschaftliche Entwicklungen der demokratischen Länder Europas mit Verspätung nachholte, markant von einem „vor keynesianischen” Wert von 9,3 auf einen selbst im europäischen Vergleich niedrigen Wert von 5,9.

Deutschland nimmt, gemeinsam mit den Niederlanden und Norwegen, in dieser Entwicklung in beiderlei Hinsicht eine moderate Position ein: Die Zustimmung zu politischem Handeln gegen Ungleichheit liegt mit 60 Prozent im Mittelfeld, und die Ungleichheit der Einkommen hat sich auf dem Niveau eines Einkommensverhältnisses von etwas über 6 praktisch nicht verändert. Der Anstieg der Ungleichheit von Einkommen ist also nicht unausweichlich: Je mehr Menschen seine Verhinderung als bedeutsames politisches Ziel ansehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auch tatsächlich verhindert wird.

Um welchen Preis lässt sich steigende Ungleich­heit verhindern?

Nur: Ist dies eine freie Entscheidung, die allein nach den politischen Kräfteverhältnissen im eigenen Land getroffen werden kann, oder bringt eine Entscheidung für weniger Ungleichheit an anderer Stelle Kosten mit sich, die gleichsam gegengerechnet werden müssen?

Politiken für weniger Ungleichheit im eigenen Land können an anderer Stelle Probleme mit sich bringen, wie zum Beispiel in den Auswirkungen auf Entwicklungsländer: Protektionistische Politiken nutzen oft geringqualifizierten Arbeitnehmern (oder auch Unternehmern, wie etwa in der Landwirtschaft) und verhindern so den Anstieg von Ungleichheit; gleichzeitig können sie Länder mit niedrigem Einkommen aber auch darin behindern, ihre Produkte abzusetzen. Doch hier können solche höchst komplex aufeinander bezogenen Vor- und Nachteile nicht weiter verfolgt werden.

Das häufigste Argument für Politiken, die mehr Ungleichheit bewirken oder zumindest zulassen, ist die Annahme, dass sie wirtschaftliches Wachstum fördern würden. Wie sieht dies in den Ländern in unserer Studie aus? Im Zeitraum von 1991 bis 1997 streute das durchschnittliche jährliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens in den betrachteten Industrieländern immerhin in einem Bereich, der von 2,5 Prozent in Schweden, 2,9 Prozent in Italien und 3,0 Prozent in Österreich und Deutschland bis zu 4,3 Prozent in Australien und 5,5 Prozent in Norwegen reicht. Bereits diese Beispiele lassen erahnen, was eine genauere Analyse belegt: Der von Ökonomen vorhergesagte Zielkonflikt zwischen dem Eindämmen sozialer Ungleichheit und wirtschaftlichem Wachstum existierte für den genannten Zeitraum tatsächlich. Für das Verhältnis zu den von uns untersuchten Einstellungen zu sozialer Ungleichheit gilt das erst noch verhalten: Zwar zieht sich auch hier eine deutliche Linie von Frankreich und Italien mit weitgehender Zustimmung für egalitäre Politik und niedrigen Wachstumsraten auf der einen Seite zu den USA und Australien mit hoher Toleranz gegenüber Ungleichheit und hohem Wachstum auf der anderen Seite. Aber die oben bereits beschriebene Tatsache, dass in Schweden und Großbritannien die geäußerten Einstellungen zur Ungleichheit von Eigendynamiken des politischen Systems überlagert werden, verzerrt das Bild schon etwas. Und die relativ hohen Wachstumsraten in Norwegen, Portugal und Spanien sind zuallererst durch das Nordseeöl und die nachholenden Entwicklungen nach den EU-Beitritten zu erklären; ließe man diese Sondereffekte außer Acht, ginge der Zusammenhang zwischen Wachstum und der Einstellung zu Ungleichheit gänzlich verloren.

Setzt man hingegen Wachstum und die Veränderung der realen Einkommensungleichheit in eine direkte Relation, ergibt sich ein extrem starker Zusammenhang: Über drei Viertel der Unterschiede in Wachstumsraten allein mit einer einzigen Variablen er-klären zu können, ist in der Wachstumsforschung sehr ungewöhnlich. Auch hier mag der Zusammenhang in dieser Stärke zum Teil durch den Zufall mit bestimmt sein. Tatsache ist jedoch, dass die Reihenfolge der Wachstumsraten praktisch direkt mit derjenigen der Veränderungen in den Einkommensverhältnissen übereinstimmt: mit den geringsten Werten Schweden mit abnehmender Ungleichheit und 2,5 Prozent Wachstum — und dies im Zeitraum der 1990er Jahre mit ihrem starken New-Economy-Boom! Dann Frankreich, Kanada und Deutschland mit kaum veränderter Ungleichheit und Wachstumsraten um 3 Prozent. Und am oberen Ende dann Großbritannien, die USA und Australien mit dem bereits beschriebenen hohen Anstieg sozialer Ungleichheit und Wachstumsraten um 4,2 Prozent. Leichte Abweichungen von diesem Zusammenhang bieten zwei Fälle: Die Niederlande erreichten mit ihrem viel gelobten und erst in neuerer Zeit in die Kritik geratenen „Poldermodell” bei — darin Deutschland ähnelnd — kaum veränderter Ungleichheit doch Wachstumsraten von durchschnittlich fast 4 Prozent. Italien, wo die Einkommen der reichsten 20 Prozent im Verhältnis zu den ärmsten 20 Prozent von 5,7 auf 6,7 leicht anstiegen, lag im Wachstum mit 3 Prozent noch unter Frankreich. Allein Norwegens Nordseeöl schaffte es, den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum für dieses Land völlig aufzuheben.

Auch bei diesem sehr deutlich ausgeprägten Zielkonflikt nimmt Deutschland eine Mittelstellung ein. Aber die Differenz zum Schlusslicht Schweden ist deutlich geringer als zu den führenden englischsprachigen Nationen. Und eine Differenz von 3 Prozent Wirtschaftswachstum in Deutschland zu 4,2 Prozent in den USA mag gering erscheinen, hat aber über die betrachteten 7 Jahre hinweg zu einer Differenz von deutlich über 10 Prozentpunkten in der wirtschaftlichen Entwicklung geführt. Auf diese Weise haben Australien und Großbritannien den nach der Wiedervereinigung trotz Einbeziehung der neuen Bundesländer noch ca. 10 Prozent betragenden Wohlstandvorsprung bis 1997 praktisch wettgemacht und nach neueren OECD-Zahlen (2003) Deutschland überholt. Und der in den 1980er Jahren noch geschrumpfte Wohlstandvorsprung der USA gegenüber Deutschland ist wieder etwa von einem Viertel auf ein Drittel angestiegen.

Was prägt die Einstel­lungen innerhalb einer Gesell­schaft zur Ungleich­heit?

Zu diesen Befunden, die eine Abnahme sozialer Ungleichheit nicht durchweg attraktiv erscheinen lassen, war nach der Analyse der Einstellungsdaten noch ein weiteres unangenehmes Ergebnis festzustellen. Die grundsätzliche Aussage der beschriebenen Ergebnisse ist ja eine für die untersuchten Demokratien durchaus positive: Was die Bürger denken, schlägt sich in praktischer Politik nieder. Also hat es uns auch interessiert, was denn diese Einstellungen prägt. Ist der gesellschaftliche Diskurs, in dem sie ausformuliert werden, Produkt seiner eigenen Binnendynamik oder gibt es Rahmenbedingungen, die ihn beeinflussen und in Ansätzen prognostizierbar machen?

Aufgrund der Tatsache, dass die USA, Großbritannien und Australien ausgeprägte Mehrheitswahlsysteme haben, lautete eine der ersten Thesen, dass die untersuchten Einstellungen vielleicht durch politische Institutionen geprägt sein könnten. Das könnte man anhand der Dynamik der politischen Diskussion plausibel machen: Demnach wären in Mehrheitswahlsystemen die Diskussion mehr von Personen geprägt, die zum Nachweis ihrer politischen Befähigung an der Entwicklung des Gesamtsystems und mithin an wirtschaftlichem Wachstum interessiert wären. In Verhältniswahlsystemen hingegen würden zumeist partikulare Interessenvertreter die dominierenden Argumente liefern, die eher daran interessiert sind, dass ihre Klientel nicht schlechter gestellt wird. Diese These hört sich plausibel an, aber einer der höchsten Werte für die Kritik an Einkommensungleichheit kommt aus Frankreich, wo seit 1958 die meisten Amtsträger in Einerwahlkreisen mit Stichwahl gewählt werden. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird das Wahlsystem zudem selten für sich allein, sondern in die Gesamtheit des politischen Stils eines Landes eingebettet betrachtet: anhand einer Skala, die vom gruppenorientierten „Neokorporatismus” zum eher individualistischen „Pluralismus” reicht. Theoretisch ist das mit der These kompatibel, aber in dieser Skala werden Frank-reich, Spanien und Portugal alle eher als pluralistisch ausgewiesen, was die These empirisch widerlegt.

Untermauert wurde dagegen ein kulturalistisches Argument, das letztlich auf Max Webers berühmte These zur Verbindung zwischen Protestantismus und Kapitalismus zurückgeht: Wenn man die betrachteten Länder anhand ihres protestantischen Erbes aufteilt in solche, die weitgehend davon geprägt sind (Großbritannien, die ehemaligen britischen Kolonien, skandinavische Länder), diejenigen Staaten, die beide Konfessionen austarieren mussten (Schweiz, Niederlande, Deutschland), und alle übrigen Länder, dann lassen sich damit bereits gut zwei Drittel der Differenzen der länderdurchschnittlich geäußerten Einstellungen erklären. Die Zustimmungsquote zur eingangs genannten Frage nach der staatlichen Beeinflussung von Einkommensdifferenzen liegt in den protestantischen Ländern bei 50 Prozent, in den gemischten bei 56 Prozent, in den überhaupt nicht vom Protestantismus geprägten Ländern hingegen bei über 84 Prozent.

Eine noch deutlich über dieses Ergebnis hinausgehende Beziehung fanden wir jedoch, als wir eine andere Ausprägung von Einstellungen gegenüber Ungleichheit unter-suchten: In dem selben Befragungsprojekt war die Einstellung zu sozialer Ungleichheit daneben auch noch durch die Berechnung der sogenannten „Gerechtigkeitslücke” (justice gap) erhoben worden. Ähnlich wie bei der oben praktizierten Darstellung der Entwicklung von realer Ungleichheit durch Einkommensverhältnisse zwischen Bevölkerungsgruppen werden dabei Einkommensverhältnisse zwischen konkreten Berufsgruppen errechnet, und zwar zwischen gelernten Fabrikarbeitern einerseits und Aufsichtsratsmitgliedern großer Unternehmen andererseits. Indem nach der Einschätzung gefragt wird, was diese beiden Berufsgruppen denn verdienen würden, erhält man ein wahrgenommenes Einkommensverhältnis. Indem für dieselben beiden Berufsgruppen anschließend gefragt wird, welche Einkommen für sie denn angemessen wären, lässt sich dem ein „gerechtes” Einkommensverhältnis gegenüberstellen. Das Verhältnis beider ist die sogenannte Gerechtigkeitslücke (Verwiebe/Wegener 2000).

Innerhalb eines Landes verhält sich diese Gerechtigkeitslücke sehr ähnlich wie die Antworten auf die expliziten Fragen: Je weiter unten auf der Leiter des sozialen Status sich jemand befindet, desto stärker wird eine Gerechtigkeitslücke wahrgenommen. Bei Menschen mit geringerem Einkommen und geringerer Bildung, bei Frauen oder Nichterwerbstätigen ist sie regelmäßig höher als bei anderen.

Im Vergleich zwischen den Ländern war es aber im Verlauf der Analyse lange Zeit unverständlich, was diese Variable eigentlich genau aussagen sollte. Einfach nur eine andere Formulierung für die aktuellen Einstellungen zu Ungleichheit war es in keinem Fall. Im Gegenteil: Die Beziehung zwischen den expliziten Fragen zur Beurteilung von Ungleichheit und dieser Gerechtigkeitslücke schien fast eher negativ zu sein. Bei der Erhebung 1992 etwa lagen die Extremwerte bei Italien, das die höchste Zustimmung zu der expliziten Frage nach staatlicher Umverteilungspolitik (82 Prozent) mit einer vergleichsweise geringen wahrgenommenen Gerechtigkeitslücke verband, in der das wahrgenommene und das als gerecht angesehene Einkommensverhältnis knapp um 50 Prozent auseinander lagen, und bei der USA, wo die geringste Zustimmung zu staatlicher Umverteilungspolitik (33 Prozent) und eine Gerechtigkeitslücke von 2,3 existierte.

Verständlich wurde das Verhältnis zwischen diesen beiden Werten erst beim Blick auf die Zeitstruktur. 1992 hatte in den USA bereits ein starker Anstieg von Ungleichheit stattgefunden, was die Menschen kritisch wahrnahmen. Ihre explizit geäußerten Einstellungen zu staatlicher Politik jedoch waren größtenteils in den 1960er Jahren oder noch davor geprägt worden, als die Einkommensunterschiede in den USA noch gering waren. Umgekehrt in Italien: Die Daten weisen zwar bereits zwischen 1984 und 1992 wieder einen gewissen Anstieg der Einkommensschere aus, aber im Vergleich zu der rasanten Entwicklung hin zu mehr Gleichheit, die Italien in den 1970er Jahren erlebt hatte, war das für die Befragten noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Ihre explizit geäußerten Einstellungen zu staatlicher Politik jedoch waren ebenfalls älteren Datums, geprägt in jener Zeit, als nach dem Krieg Italien noch eine agrarisch dominierte Struktur besaß und Einkommensverhältnisse, wie wir sie heutzutage allenfalls in Australien, aber noch nicht einmal in den USA antreffen.

Die eine, politisch relevante, Variable misst also lang zurückliegende Prägungen, die anderen hingegen die aktuelle Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Entwicklung, die man im Alltag oder in der diskursiven Vermittlung in den Medien aufnimmt. Und zwischen den beiden Werten liegt die Entwicklung, in der aktuelle Gefühle über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung im Lande sich schrittweise, über Jahre hinweg, mit Wahrnehmungen, Geschichten und Argumenten anreichern, um mit langer Verzögerung dann im öffentlichen Diskurs wirksam zu werden.

Der Abstand zwischen den frühesten und den letzten Erhebungen in unserem Datensatz ist gemessen an diesen Überlegungen noch recht kurz. Die ersten Umfragen stammen von 1987; zu diesem Zeitpunkt sind noch so wenige Länder dabei, dass man den Datensatz mit Ergebnissen von 1992 anreichern muss. Die letzte Studie, die zur Verfügung steht, stammt von 1999.

Aber auch schon nach den sieben beziehungsweise zwölf Jahren Zeitdifferenz liegt das Verhältnis zumindest deutlich über der Zufallsschwelle (mit der Ausnahme Österreich: 1987 nahmen die Österreicher praktisch keine Differenz zwischen tatsächlicher und als gerecht erachteter Verteilung wahr, sprechen sich 1999 aber gleichwohl mit 87 Prozent für staatliche Maßnahmen gegen Einkommensdifferenzen aus). Der erste vorhandene Wert für die „Gerechtigkeitslücke” ist somit ein recht guter Indikator, um vor-herzusagen, wie die Einschätzung staatlicher Umverteilung 1999 aussieht. In Großbritannien drückt sich die Unzufriedenheit mit der Verteilung bereits 1987 darin aus, dass die wahrgenommene Einkommensspanne als doppelt so groß angegeben wird wie die als gerecht erachtete. Dem entspricht 1999 mit 81 Prozent eine Zustimmung zu staatlicher Umverteilung, die (abgesehen von Österreich) höher ist als in allen anderen Ländern, zu denen frühere Daten vorliegen. Am anderen Ende des Spektrums liegen die Schweiz und die Niederlande, in denen moderate Differenzen zwischen Ist und Soll 1987 (55 Prozent und 63 Prozent) dann 1999 auch nur zu vergleichsweise niedrigen Zustimmungsraten zu staatlicher Umverteilungspolitik führen (43 Prozent und 65 Prozent). Ähnliches gilt für Schweden, Norwegen und Kanada.

Auch in diesem Zusammenhang hat Deutschland keine allzu ausgeprägte Position: 1987 wird hier eine etwas überdurchschnittliche Differenz von 78 Prozent zwischen der wahrgenommenen und der als gerecht erachteten Einkommensspanne aufgezeichnet. Dem entspricht 1999 mit etwas über 75 Prozent eine ebenfalls etwas überdurchschnittliche Zustimmung für umverteilende staatliche Maßnahmen.

Für die „Gerechtigkeitslücke” in der letzten Untersuchungswelle 1999 hat Deutschland schon eher eine randständige Position: Die Differenz zwischen wahrgenommener und als gerecht erachteter Verteilung liegt bei 55 Prozent; das ist in dieser Welle am unteren Ende. Nur Norwegen und Spanien liegen noch leicht darunter. In allen drei Ländern geht diesem geringen Leiden an aktueller Ungerechtigkeit eine jeweils spezifische Erfolgsgeschichte in bezug auf soziale Ungleichheit voraus: In Norwegen konnte trotz starken Wachstums das soziale Gefüge praktisch gleich gehalten werden; in Spanien nahm im Gefolge nachholender Entwicklung die Ungleichheit noch in neuerer Zeit stark ab; im Falle Deutschlands schaffte es ein großes Industrieland, die Einkommens-spanne zwischen den beiden äußeren Fünfteln der Bevölkerung durchgängig seit 1960 stets deutlich unter 6 zu halten — wenn auch in letzter Zeit um einen erheblichen Preis an Wachstumsverlust.

Wenn sich hierzulande der in anderen Ländern zu beobachtende Prozess fortsetzt, dass Gerechtigkeitslücken von heute die politisch relevanten Einstellungen von morgen mitbestimmen, dann dürfte jedoch die hohe Bedeutung, die die deutsche Bevölkerung historisch einer egalitären Einkommensverteilung zubilligt, bald der Vergangenheit an-gehören. Die Toleranz der deutschen Öffentlichkeit für Einkommensungleichheiten ist bisher sehr niedrig. Unsere Daten lassen aber vermuten, dass ungleiche Einkommen in Deutschland akzeptabler werden. Das abnehmende Interesse an den Anti-„Hartz IV“-Demonstrationen wäre dann nur Vorbote einer Entwicklung gewesen, in der Deutschland von seinem auf Einkommensgleichheit fixierten Selbstbild deutlich abrückt.

Moderne Egali­täts­po­litik als Antwort auf Ungleich­heits­ak­zep­tanz

Zwischen Gleichheit und Wachstum muss man also wählen. Diese Wahl wird von den Deutschen künftig möglicherweise anders, weniger gleichheitsorientiert getroffen werden als heute. Das mag man mit Recht bedauern. Jedoch wäre es gerade deshalb an der Zeit, sich mehr Gedanken über eine Gesellschaftspolitik zu machen, die auch unter geänderten Rahmenbedingungen die Chancen erhält, dass die Differenzen in einer Gesellschaft nicht übermäßig wachsen.

Dabei sollten sinnvollerweise die anfangs genannten Punkte ins Visier genommen werden, die steigende Ungleichheit heutzutage anheizen: Strukturwandel, Rationalisierung, Outsourcing und Globalisierung. Aber vielleicht lohnt sich zunächst der Blick zurück: Der erste rapide Anstieg der Ungleichheit vollzog sich im 19. Jahrhundert, um dann erst nach 1929 und nach 1945 in einen langsamen Fall überzugehen. Der US-Ökonom Simon Kuznets bekam 1971 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Erklärung dieser Entwicklung (Kuznets 1955): Allmählich war die Agrarbevölkerung in die Städte abgewandert, und damit hatte sie sich auch in andere Bereiche von Kenntnissen und Fähigkeiten begeben. Die aus der Landwirtschaft kommenden Proletarier mussten in einem Lernprozeß langsam die Qualifikationen zur Arbeit in der Industrie erwerben — aber auch die Qualifikationen, für diese Arbeit eine angemessene Entlohnung auszuhandeln; schließlich auch die Haltung, diese Aushandlungsprozesse durchzustehen.

In ähnlicher Weise gibt es auch beim Übergang von der nationalen, gruppenorganisierten Industrie- zur globalisierten, individualisierten Dienstleistungsgesellschaft neue Qualifikationen, soziale Fähigkeiten und Haltungen, die in großem Umfang neu erworben werden müssen. Die Diskussionen darüber sind schon in vollem Gange, ebenso wie über die Bildungsinstitutionen, die sie vermitteln können. Diese Debatten werden am Ende entscheidend dafür sein, dass die hoffentlich eintretenden wirtschaftlichen Erfolge in Zukunft nicht mit einer unverhältnismäßigen Öffnung der sozialen Schere einhergehen.

[1] Alle Schätzungen zur realen Einkommensungleichheit, die im folgenden angegeben werden, entstammen einem Datensatz, den Klaus Deininger und Lyn Squire durch die Zusammenführung mehrerer tausend Einzeluntersuchungen gewonnen haben und der von der Weltbank als World Income Inequality Database (WIID) bis 2003 weiterentwickelt wurde (Deininger/Squire 1996). Gegenwärtig ist der Autor dabei, unter den in diesem Artikel vorgestellten Prämissen die Daten der Luxembourg Income Study (LIS) auszuwerten, bei der die einzelnen Erhebungen besser vergleichbar sind als beim WIID. Sobald Ergebnisse vorliegen, können diese abgerufen werden unter: http://www. suz.unizh.ch/scholtzl
[2] Koordiniert vom International Social Survey Programme (http://www.issp.org).

Literatur

Deininger, Klaus/Squire, Lyn 1996: A new data set measuring income inequality; in: World Bank Economic Review 10. Jg., H. 3, S. 565-591
Freeman, Richard B. 1995: Are Your Wages Set in Beijing?; in: Journal of Economic Perspectives 9. Jg., H. 3, 5.15-32
Kuznets, Simon 1955: Economic Growth and Income Inequality; in: American Economic Review 45. Jg., H. 1, S. 1-28
Lijphart, Arend 1999: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty Six Countries, New Haven
Verwiebe, Roland/Wegener, Bernd 2000; Social Inequality and the Perceived Justice Gap; in: Social Justice Research 13. Jg., H. 2, 5.123-149

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