Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Theorie im Gespräch

Ein Nachtrag zu Oskar Negts 70. Geburtstag

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), 107-108

Ich kenne keinen Menschen, der in einer Gesprächsrunde so lange und so gut zuhören kann, bis er etwas sagt, wie Oskar Negt. Egal ob im wissenschaftlichen Disput unter Kollegen, in politischen Diskussionen (beispielsweise mit Rudi Dutschke, Peter von Oertzen, dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit oder Gerhard Schröder) oder in der Runde des von Negt mitbegründeten Montagsgesprächs in Hannover: Oft dachte ich, nun ist alles Wesentliche gesagt, was mag jetzt noch kommen? Da setzt Oskar Negt an. Meist nimmt er Stichworte auf, die jeder noch im Kopf hat. Nie ist es eine bloße Zusammenfassung: Negt versteht es, die Frage, um die es geht, auf eine neue und andere Ebene zu heben. Solche Schritte lassen meist das, was zuvor gesagt wurde, in einem anderen Licht erscheinen.

In der Philosophie haben Gespräche seit Sokrates Tradition. Für Negt ist das Diskutieren eine Voraussetzung für die Lebendigkeit von Wissenschaft. Erst im Widerstreit von Rede und Gegenrede strukturiert sich ein Problem. So bezeichnen Negt und sein Freund Alexander Kluge ihre gemeinsamen Bücher, die aus solchen Gesprächen, aus Tonbandaufzeichnungen, aus dem erneuten kritischen Durchgehen der Texte hervorgegangen sind, als „gemeinsame Philosophie”. Ob dies auch für die Leser gilt, bleibt offen. So ist Geschichte und Eigensinn (1981) kaum rezipiert worden.

Negt hat in Hannover von 1970 bis zu seiner Emeritierung vor einem Jahr Soziologie gelehrt. Bücher von ihm behandeln sowohl bürgerliche wie proletarische Öffentlichkeit und die Geschichte der Arbeiterbewegung. Negt hat auch mitgewirkt an einer Reform von Erziehung und Bildung durch seine Beteiligung am Aufbau der Glockseeschule in Hannover und durch seine Texte über Selbstregulierung und exemplarisches Lernen. Dies und sein Buch über Kindheit und Schule (1997) haben dazu geführt, dass er zuweilen auch als Erziehungswissenschaftler bezeichnet wird. Andere sehen in Negt, weil er vor Gewerkschaftern redet und mit Kluge über Maßverhältnisse des Politischen (1992) geschrieben hat, einen Politikwissenschaftler

Doch Negt ist nicht nur Wissenschaftler, er will immer auch politisch eingreifen. Ich erinnere mich an seine Auseinandersetzung mit der stalinistischen Marx-Auslegung am Ende der 1960er Jahre. Jürgen Habermas hatte Negt gerade als seinen Assistenten zu sich nach Heidelberg geholt. Den knappen und prägnanten Text nannte Negt Marxismus als Legitimationswissenschaft (1969). Damit hat er
eine Studentengeneration gegen DDR-Propaganda immunisiert und zugleich den Weg freigelegt für eine kritische, produktive Marx-Rezeption in der Studentenbewegung.

Wenn Negt etwas gesagt oder geschrieben hat, steht das für ihn immer zur Diskussion. Früh in seinem Leben hat Negt Kants Kritik der Urteilskraft für sich entdeckt. Als akademischer Lehrer wie als politischer Redner sieht er seine Aufgabe darin, die in jedem angelegte Urteilsfähigkeit zur Urteilskraft zu entwickeln. So gibt es für ihn in der „Sphäre des Politischen” keinen Vorrang des Allgemeinen. Wie für Hannah Arendt gilt für Negt im „Politischen” nur ein Ausgehen vom Besonderen. Wir müssen versuchen, sagt er, im Besonderen das Allgemeine zu finden, zu treffen. Negt formuliert damit das Gegenbild zum Ideologen.

Ich schätze an Oskar Negt seinen politischen Blick. Politisch relevant war seine unmissverständliche Aussage Anfang Juni 1972 in Frankfurt am Main auf dem Angela-Davis-Kongress: „Es gab und es gibt, für die politische Linke nicht die geringste Gemeinsamkeit mit dem, für das Leute um Andreas Baader und Ulrike Meinhof die Verantwortung übernommen haben”. Nichts, sagte er, „darf die politische Linke in der Bundesrepublik zur Solidarität mit dieser Gruppe veranlassen”. Zu Negt gehört auch, dass er einen politischen Konflikt mit Joschka Fischer nicht vergessen wollte: Noch Jahrzehnte später hat Negt Fischer nachgetragen, dass dieser sich 1976 weigerte, gegen die RAF Stellung zu nehmen. Negts Verhalten kann nur derjenige verstehen, der weiß oder erfahren hat, wie wichtig für ihn persönliche Beziehungen sind. Ich bin dank-bar, seine Freundschaft gewonnen zu haben. Inzwischen verstehe ich auch, weshalb es für ihn so wichtig war, sich bei Habermas noch Jahrzehnte später für die Herausgabe von Die Linke antwortet Habermas (1968) zu entschuldigen, die Negt inzwischen als politisch falsch erkannt hatte.

Das letzte bedeutende Werk von Negt hat den Titel Arbeit und menschliche Würde (2001). Es enthält seine Gegenposition zur gegenwärtigen Wirtschaftspolitik, also auch gegenüber der Politik von Bundeskanzler Schröder, zu dessen Beratern Negt sich zuweilen zählen lässt. Wir wissen seit Platos missglücktem Abenteuer in Syrakus, welche Anziehungskraft die Vorstellung eines Einflusses auf Politik für einen Denker haben kann. Auch wenn es vergeblich bleibt: Es verdient Achtung, wenn Negt unermüdlich versucht, auch persönlichen Kontakt zur Einwirkung auf Politik zu nutzen.

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