Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Das Prinzip der Chancen­ge­rech­tig­keit

Theoretische Voraussetzungen investiver Sozialstaatlichkeit

aus: Vorgänge Nr. 168 (Heft 4/2004), S. 12.24

Gerechtigkeit ist institutionalisiertes Menschenrecht. Gerechtigkeit herrscht, wenn Menschen ein gleiches Recht auf politische Teilhabe haben und unter dem Schutz demokratisch erzeugter und wirksam durchgesetzter Gesetze ihre Freiheit genießen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Gerechtigkeit herrscht, wenn das Recht alle gleich behandelt und das Eigentum sicher ist. Daher war für Kant, Wilhelm von Humboldt und den klassischen Liberalismus mit der Errichtung einer demokratisch verfassten und rechtsstaatlich organisierten Marktgesellschaft allen Forderungen der Gerechtigkeit Genüge getan. Diejenigen, die mehr Gerechtigkeit wollen als Rechtsstaat und Marktgesellschaft liefern, als die Gleichheit vor dem Preis und die Gleichheit vor dem Recht garantieren können, dürfen sich nicht mehr an die Politik wenden; sie müssen zur Religion ihre Zuflucht nehmen und auf die Kompensationsleistungen postmortaler Sanktions- und Gratifikationssysteme hoffen.

Die sozialstaatliche Gegenwart macht sich jedoch anheischig, den Menschen auch hienieden schon mehr Gerechtigkeit geben zu können als Rechtsstaat und Marktgesellschaft ihnen zu liefern in der Lage sind. Denn der Sozialstaat versteht sich nicht als institutionalisierte Benevolenz, als bürokratisiertes Samaritertum, er versteht sich als Gerechtigkeitsordnung. Freilich welche Art Gerechtigkeit durch die sozialstaatliche Ausweitung des Rechtsstaats und durch die sozialstaatliche Korrektur der Verteilungsräson eines freien Marktes verwirklicht werden soll, ist heftig umstritten.

Mit dem Überschritt zum Sozialstaat verliert der Gerechtigkeitsbegriff seine klare Kontur. Was soziale Gerechtigkeit genau ist, was Verteilungsgerechtigkeit verlangt, auf welches normative Fundament der Sozialstaat gestellt werden sollte, ist völlig unklar. Angesichts dieser Ratlosigkeit sollte man einen vorsichtigen und behutsamen Umgang mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit erwarten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Eine überbordende Gerechtigkeitsrhetorik prägt das öffentliche Gespräch sozial-staatlicher Demokratien, den politischen Markt der Wählerbewirtschaftung und über-zieht das Verteilungsgezänk der Gruppen mit moralsemantischem Zuckerguss. Gerechtigkeit, immer mehr Gerechtigkeit versprechen die Politiker ihren Wählern. Gerechtigkeitsparolen zieren die Wände von Parteitagen. An den Rednerpulten wird Gerechtigkeitskompetenz beansprucht. Dieselbe wird dem Gegner mit Verve abgesprochen. Seine programmatischen Vorstellungen werden als Sozialabbau, Gerechtigkeitsskandal, soziale Kälte denunziert. Insbesondere Gewerkschaftler haben sich auf diese Art von moralischer Meteorologie spezialisiert.

„Zivi­li­siert den Kapita­lis­mus”: Die Welt der Wirtschaft unter Genera­l­ver­dacht

Das Ergebnis dieser inflationären Gerechtigkeitsrhetorik ist eine verhängnisvolle intellektuelle und zugleich auch moralische Simplifizierung des Problembestands des gegenwärtigen Sozialstaats. Sie reduziert einen überaus komplexen politischen, ökonomischen und moralischen Sachverhalt auf einen einfältigen Dualismus von Gerechtigkeit und Ökonomie, von Sozialstaat und Markt. Der Sozialstaat, das ist die Botschaft dieser demagogischen Schwarz-Weiß-Zeichnung, steht für Gerechtigkeit, und jede Einschränkung seiner Leistung, jede Lockerung seiner sozial- und arbeitsrechtlichen Regularien ist hingegen a priori ungerecht. Das konzeptuelle Herzstück dieses Denkens ist das Distributionsparadigma; und daher das einzige Kriterium der moralischen Qualität sozialstaatlicher Politik die Umverteilungsmarge. Je mehr dem Markt und den marktspezifischen, leistungsabhängigen Erwerbserfolgen kollektiv entzogen wird und der marktunabhängigen und leistungsunabhängigen Verteilungsräson des Staates übergeben wird, um so gerechter die Gesellschaft, um so menschlicher der Markt, um so humaner und ziviler der Kapitalismus. Das Distributionsparadigma wurzelt in einer moralischen Verdächtigung des Marktes und führt zu einer Entethisierung der Wirtschaft. Der Markt wird verdächtigt, ein Ort der Unmoral zu sein, der nur unter der Bedingung möglichst weitgehender staatlicher Kontrolle hingenommen werden kann. Die Welt der Wirtschaft wird ausschließlich als staatliche Einkommensquelle betrachtet, der keine eigene, interne ethische Werthaftigkeit zukommt. Dass unser moralisch-kulturelles Selbstverständnis, dass die ihm zugrundeliegenden Überzeugungen des normativen Individualismus und des menschenrechtlichen Egalitarismus den Markt als Raum eigenverantwortlichen Handelns, als Raum personaler Lebensführung benötigen und verlangen, dass das Freiheitsrecht ein Recht auf Markt und marktförmige Handlungskoordination impliziert, der Staat also um der Individuen willen auch den Markt zu schützen hat, anstatt immer nur vor ihm zu schützen, ist im immer tiefer werdenden Schatten des sozialstaatlichen Distributionsparadigmas längst in Vergessenheit geraten. „Zivilisiert den Kapitalismus”, so lautete eine Parole aus der Zeit, als die Ängste vor der Globalisierung geschürt wurden. Jetzt ist es an der Zeit, die Gegenforderung zu erheben: Zivilisiert den Sozialstaat, gebt ihn – denn genau das heißt Zivilisierung – den Bürgern zurück, konzentriert seine Leistungen auf bürgerlichkeitssichernde, bürgerlichkeitsermöglichende Ziele, auf die Realisierung von Chancengerechtigkeit.

Ich möchte im folgenden die These verteidigen, dass das Distributionsparadigma durch den Begriff der Chancengerechtigkeit ersetzt werden sollte. Der Begriff der Chancengerechtigkeit bietet die normative Grundlage für ein anspruchsvolles Sozialstaatsverständnis, dass sich von antikapitalistischen Vorurteilen befreit hat, dass die Dämonisierung des Marktes und die Entethisierung der Wirtschaft rückgängig macht und dass vor allem mit unseren grundlegenden individualistischen und menschenrechtlichen Grundüberzeugungen und dem in ihnen verankerten liberalen Ideal selbstverantwortlicher Lebensführung in Übereinstimmung steht. Die sozialstaatliche Zwecksetzung darf nicht auf Umverteilung reduziert werden. Sozialstaatliche Arrangements haben eine weit wichtigere und umfassendere Aufgabe: Sie haben durch die Etablierung geeigneter Institutionen dafür zu sorgen, dass die Bürger zumindest annähernd gleiche Lebenschancen erhalten. Der Protagonist des Sozialstaats ist der eigenverantwortlich handeln-de Bürger. Und die sozialstaatliche Dienstleistung, die zu verlangen er berechtigt ist, liegt in der institutionellen Ermöglichung eigenverantwortlicher Lebensführung.

Um diese These näher zu erläutern, sind einige allgemeine Überlegungen erforderlich. Zuerst werde ich zeigen, warum es moralisch unerlässlich ist, den Rechtsstaat sozialstaatlich zu erweitern. Sodann werde ich eine allgemeine Beschreibung legitimer staatlicher Tätigkeit geben. Und schließlich werde ich den Begriff der Chancengerechtigkeit klären.

Die freiheits­recht­liche Verpflich­tung zur Sozial­staat­lich­keit

Die geschichtliche Entwicklung des politischen Bewusstseins in unserem Kulturbereich ist charakterisiert durch ein wachsendes Verständnis der Wichtigkeit institutioneller Lebensvoraussetzungen. Der Anspruch an die konstitutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensplanung ist in der individualistischen Moderne darum stetig gestiegen: vom Sicherheitsstaat über den Rechts- und Verfassungsstaat zum Sozialstaat ging der Weg. Hinter dieser Ausweitung steht die Einsicht, dass selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensgestaltung, dass die Wahrnehmung des Freiheitsrechts an materielle Voraussetzungen gebunden ist. Nicht nur die Diktatur kann das Freiheitsrecht zur Makulatur machen. Auch im Zustand der ökonomischen Mittellosigkeit verliert das Freiheitsrecht seinen Wert. Damit wird aber aus der Grammatik unserer ethisch-politischen Selbstverständigung das menschenrechtliche Herzstück herausgebrochen. Selbstverfügung, Selbstbestimmung, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen verlangt mehr als Existenzgarantie, als die Sicherung der Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Selbstbestimmung verlangt den Besitz materieller Ressourcen, verlangt Optionen und Alternativen. Ein Leben, das nur den Geleisen der Not und Mittellosigkeit folgt, findet ohne Eigenbeteiligung statt. Hinreichender Ressourcenbesitz besitzt offenkundig den Rang einer freiheitsermöglichenden Bedingung; hinreichender Ressourcenbesitz ist Voraussetzung von Recht, personaler Würde und bürgerlicher Existenz. Zumindest dann gilt dieser Ermöglichungszusammenhang zwischen dem immateriellen Zentralgut des Rechts und einem materiellen Zentralgut hinreichenden Ressourcenbesitzes, wenn wir das Recht nicht nur im Lichte des Status negatives, als Abwehrrecht betrachten, sondern uns auf die in den normativ-individualistischen Begriff der Menschenrechtsordnung eingelassene normative Leitvorstellung einer eigenverantwortlichen, zur selbstbestimmten Lebensführung fähigen Person beziehen. Angesichts dieser operationalen Abhängigkeit des Freiheitsrechts von hinreichendem materiellen Güterbesitz muss eine menschenrechtsbegründete und darum gerechte Ordnung auch Vorkehrungen gegen Mittellosigkeit treffen und eine zumindest basale Versorgung mit einem Ersatzeinkommen im Falle wie auch immer verursachter Erwerbsunfähigkeit sicherstellen. Die menschenrechtliche Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit treibt offenkundig aus sich selbst eine freiheitsrechtliche Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit hervor. Denn menschenrechtlich verbürgte Freiheit ist immer von zwei Voraussetzungen abhängig: nicht nur von dauerhafter, verlässlicher Gewaltabwesenheit, sondern eben auch von hin-reichendem Mittelbesitz. Und da die Erfüllung beider Voraussetzungen von einander kausal unabhängig ist, muss die Institutionalisierung des menschenrechtlichen Egalitarismus, muss die Gerechtigkeit auch für die Erfüllung beider Voraussetzungen gesondert Sorge tragen. Daher muss die staatliche Gerechtigkeitsordnung auch durch Umverteilung Mittel bereitstellen, um den Mittellosen und Selbstversorgungsunfähigen die erforderlichen Ressourcen für ein an der Gesellschaft teilhabendes Leben zu verschaffen.

Transzen­den­tale Güter als Lebens­vor­aus­set­zungen

Um das Tätigkeitsprofil dieses freiheitsrechtlich begründeten Sozialstaats genauer zu bestimmen, bediene ich mich des Begriffs der transzendentalen Güter. Transzendentale Güter erweisen sich aus der Perspektive des menschlichen Individuums als grundlegende Lebensvoraussetzungen. Dazu zählen: zuallererst das Gut aller Güter, das Leben selbst; sodann, mit abnehmender Dringlichkeit, die Güter: körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Gesundheit, daseins sichernde Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wohnung und Kleidung, Handlungsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe usf. Von Gütern dieser Art gilt allgemein, dass sie nicht alles sind, alles aber ohne sie nichts ist. Ihr gesicherter Besitz ist für die Menschen notwendig, damit sie ihre unterschiedlichen Lebensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können. Diese Güter werden nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern nur als unerlässliche Ermöglichungsbedingungen für ein gelingendes, sich in Nebensächlichkeiten zerstreuendes Leben. Güter dieser Art stellen also universelle Präferenzen dar; ein jeder hat diese Präferenzen, denn sie müssen erfüllt sein, damit er ein Leben im Horizont seiner individuellen Präferenzen führen kann. In Zeiten der Normalität bleiben diese Grundgüter unauffällig; denn dann sind wir uns ihres Besitzes sicher und vergessen in der Routine des ruhigen Lebensalltags ihren Wert. Wenn sie uns jedoch knapp werden und wir darum in existentielle Grenzsituationen und Notlagen geraten, bilden sie den einzigen Inhalt unserer Sorge; alle anderen Interessen verblassen dann, der Erwerb und Wiedererwerb der transzendentalen Güter wird dann zum ausschließlichen Ziel unseres Handelns.

Es ist ersichtlich, dass wir mit diesen transzendentalen Gütern ein vorzügliches Mittel an der Hand haben, um die Gerechtigkeit von Gesellschaften zu untersuchen: eine Gesellschaft, die keine egalitaristische Grundversorgung an transzendentalen Gütern ermöglicht, verdient sicherlich nicht das Prädikat einer gerechten und wohlgeordneten Gesellschaft. Denn die menschenrechtliche Gleichheit impliziert den gleichen Anspruch eines jeden Individuums auf gleiche Versorgung mit diesen transzendentalen Gütern. Eine gleiche Versorgung mit diesen Gütern ist aber nur dann möglich, wenn diese Güter nicht ausschließlich der Verteilungsräson des Marktes überlassen werden. Denn der Markt verteilt diese universell begehrten Güter nach Maßgabe der individuellen Finanzkraft. Folglich muss die Produktion und Distribution dieser Güter dem Markt ganz oder teilweise entzogen und der Allgemeinheit überantwortet werden. Zumindest aber muss der Staat dann in die Bresche springen, wenn individuelle Bedarfslagen entstehen, die durch eigene Kraft nicht befriedigt werden können. Ob der Staat also ausschließlich oder in Zusammenarbeit mit dem Markt diese generell begehrten Lebenschancen bereitstellt, hängt von der Art des Gutes ab. Immer aber bleibt er die Instanz, die letztverantwortlich für die Gleichversorgung aufzukommen hat.

Aber ist das eine erschöpfende Beschreibung staatlicher Gerechtigkeit? Muss die durch den Staat ins Werk zu setzende Gerechtigkeit nicht über eine gleiche und unparteiliche Versorgung der Bürger mit allseits begehrten immateriellen und materiellen Lebensvoraussetzungen hinausreichen?

Der Sozialstaat als Schick­sals­kor­rek­tur?

Menschen sind endlich, und das heißt: das Gelingen menschlichen Lebens ist abhängig von Voraussetzungen. Zu diesen Voraussetzungen zählen aber nicht nur die strukturellen und institutionellen Gegebenheiten unseres kulturellen und politischen Lebenszusammenhangs, zu ihnen zählen auch die Eigenschaften, die die Menschen an sich und in sich vorfinden. Diese sind teils genetisch formiert, teils Auswirkungen von sozialer Herkunft und Erziehung. Ersichtlich wird der Markt-, Sozial- und Lebenserfolg der Individuen wesentlich durch die Qualität ihrer Ressourcenausstattung bestimmt. Diese aber ist höchst unterschiedlich. Der eine hat bei der Lotterie der Natur das große Los gezogen und ist bei der Verteilung der natürlichen Fähigkeiten mit Talent, Begabung und Durchsetzungskraft überreich ausgestattet worden, der andere hat hingegen nur eine Niete erwischt und muss sich sein ganzes Leben lang mit einer überaus ärmlichen Fähigkeitenausstattung abmühen. Und nicht nur das natürliche Schicksal verteilt die Startbedingungen ungleich; auch das Sozialschicksal ist zu den Menschen nicht fair. Der eine findet in seiner Familie die beste Ausgangssituation vor; einer behüteten Kindheit folgt eine erfolgreiche Karriere. Der andere ist zeitlebens von den Narben der sozialen Verwahrlosung gezeichnet und kommt keinen Schritt voran. Man wird aber nun nicht sagen können, dass der genetisch oder sozial Benachteiligte seine Benachteiligung verdient hätte; ebenso wenig, dass der genetisch oder sozial Bevorzugte seine Bevorzugung verdient hätte. Man wird vielmehr sagen müssen, dass das eine so unverdient ist wie das andere. Man wird sagen müssen, dass bei den Verteilungsentscheidungen des Natur-und Sozialschicksals blinder Zufall gewaltet hat.

Wenn aber die Voraussetzungen der Arbeits- und Lebenskarriere unverdient sind, sind auch die Erträge, die auf dem Markt durch Einsatz dieser genetisch-sozialen Basisressourcen erwirtschaftet werden, unverdient. Eine um eine gerechte Verteilung der kooperativ erarbeiteten Erträge bemühte Gesellschaft, so könnte man meinen, darf sich nicht dem Diktat der Natur und des Zufalls unterwerfen. Aufgabe eines gesellschaftlichen Verteilungssystems würde es darum sein, die natürliche Verteilungswillkür hinsichtlich der Begabungen, Talente und Fähigkeiten als auch die Zufälligkeit der sozialen Startpositionen auf der Grundlage wohlbegründeter Gerechtigkeitsregeln zu korrigieren. Und das heißt: durch entsprechende Umverteilung die Benachteiligten zu entschädigen. Der Sozialstaat würde sich dann als eine Art Schicksalskorrektur, als gerechtigkeitsethische Zweitschöpfung verstehen, der die blinden Verteilungen des Zufalls revidiert.

Sicherlich ist eine ungleiche Versorgung mit transzendentalen Gütern, mit allgemein begehrten und allgemein notwendigen materiellen und immateriellen Voraussetzungen individueller Lebensführung ein Gerechtigkeitsskandal. Aber selbst wenn durch entsprechendes sozialstaatliches Engagement eine Situation gleicher Grundgüterversorgung geschaffen ist, bleibt doch die Ungleichheit bestehen, die durch die Unterschiedlichkeit der genetischen Ausstattung und der Sozialisationssituation verursacht sind. ‚ Sind Natur und Familie ein Gerechtigkeitsrisiko, auf das sozialstaatlich reagiert werden muss? Muss der Sozialstaat dafür sorgen, dass die sei es von Natur aus, sei es aufgrund der Familiensituation, sei es gar aufgrund einer konzertierten Aktion beider Bevorzugten und daher über bessere Voraussetzungen für ihren Weg ins Leben Verfügenden da-zu gezwungen werden müssen, die weniger Schicksals begünstigten zu entschädigen? Denn schließlich haben sie sich ihre bessere Ressourcenausstattung nicht hart erarbeitet, sie ist ihnen vielmehr unverdienter maßen zugefallen. Ebenso wenig haben die anderen sich etwas zu schulden kommen lassen, so dass es erlaubt wäre, ihre schlechteren genetisch sozialen Startbedingungen als verdiente Strafe anzusehen.

Die Logik des Egali­ta­ris­mus: Schön­heits­steuer und genetische Manipu­la­tion

Wir haben es hier mit zwei unterschiedlichen Lesarten von Chancengerechtigkeit zu tun, mit einer Gerechtigkeit der flachen Chancengleichheit und einer Gerechtigkeit der tiefen Chancengleichheit. Während die flache Chancengerechtigkeit sich um die Etablierung eines egalitären Systems der institutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensführung bemüht, geht es der tiefen Chancengerechtigkeit um einen Ausgleich der sozioökonomischen Auswirkungen der unterschiedlichen genetisch sozialen Ressourcenausstattung der Individuen. Sozialstaatspolitik wird in diesem letzten Fall zu einer Politik des individuellen Schicksalsausgleichs. Das hat aber bedenkliche Konsequenzen. Dem Anwalt tiefer Chancengerechtigkeit muss jedes technische Mittel recht, die Zivilisation der Gleichheit voranzutreiben. Daher wird er zu einem Alliierten der Biopolitik werden müssen. Denn in dem Maße, in dem die Kapazitätslandkarte unserer Gene unter die Kontrolle einer manipulativen Technik gerät, werden sich die Aussichten mehren, die Herrschaft des genetischen Zufalls zu beenden. Ausgleichsprogramme könnten ins Auge gefasst werden, um den gerechtigkeitsprekären Unterschied zwischen den genetisch Vermögenden und den genetischen Habenichtsen zu egalisieren.

Wie weit mag der Egalitarismus der Lebenserfolgsressource, die wir selbst sind, gehen? Schönheit, zumal in einer so äußerlichkeitskultischen Gesellschaft wie der unsrigen, ist eine soziale Macht. Muss nicht angesichts der überaus kläglichen Ergebnisse der natürlichen Ästhetiklotterie einerseits und der unleugbaren Startvorteile der Schönen andererseits der Egalitarist revoltieren? Eine Schönheitssteuer einführen oder freie Kosmetik oder freies Hanteltraining für alle einschlägig Bedürftigen? 1960 hat L.P. Hartley in London ein Buch mit dem schönen Titel Facial Justice veröffentlicht. Es berichtet von dem Gerechtigkeitsskandal der Schönheit, von dem unverdienten guten Aussehen, dem Wettbewerbsvorteil der angenehm geschnittenen Zügen, von der benachteiligenden Hässlichkeit und der marginalisierenden Unansehnlichkeit. Und es berichtet von der „Antlitz-Gleichmachungs-Behörde” und ihrem Egalisierungsprogramm, das durch die Entwicklung einer risikolosen und unaufwendigen Gesichtschirurgie ermöglicht wurde und erlaubte, die blinde natürliche Verteilung ästhetischer Eigenschaften durch Gesichtsplastiken der ausgleichenden Gerechtigkeit zu überformen, so dass nur noch ästhetische Durchschnittlichkeitsvarianten existierten und die körperliche Individualität sich auf eine karrierepolitisch neutrale Mediokritätsvariation beschränkte (vgl. Schoeck 1966: 259ff.).

Es ist ersichtlich, dass durch die Ausdehnung des Prinzips der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit auf den Bereich der natürlichen und sozialen Prägung der Sozialstaat sich in eine totalitäre Bürokratie verwandeln muss. Das rechtsstaatliche Grundprinzip – die legitime Zuständigkeit staatlichen Eingriffshandelns endet an der Haut der Menschen – hat mutatis mutandis auch für den Sozialstaat Gültigkeit. Die genetische und soziale Konditionierung menschlichen Lebens ist kein legitimer Gegen-stand sozialstaatlichen Ausgleichshandelns. Wir sind Personen, die ein selbstverantwortliches Leben zu führen das Recht haben; und der Staat ist als Institution der Institutionen mit der Aufgabe betraut, ein System der institutionellen Sicherung der Chancengleichheit zu etablieren. Wir sind jedoch keine Lebenserfolgsressourcen, die durch Sozialstaatshandeln egalisiert werden müssen. Entsprechend ist auch die Ungleichheit als gerechtigkeitsethisch unbedenklich zu akzeptieren, die im Rahmen eines Systems der Chancengleichheit durch die unterschiedlichen genetischen und sozialen Prägungen produziert wird.

Mit autono­mie­po­li­ti­scher Kreati­vi­tät: Der Sozialstaat als Ermöglicher

Erst dann ist der Sozialstaat aus Gerechtigkeitsgründen zum Handeln aufgerufen, wenn auf der einen Seite die Vermutung empirisch plausibel ist, dass sich die Sozialisationsstandards in Familien eines bestimmten sozialen Typus auf die Lebenschancen der Kinder nachteilig auswirken könnten, und auf der anderen Seite es technisch möglich ist, durch geeignete Institutionen diesen negativen Selektionseffekt zu kompensieren und damit die Autonomiechancen der Kinder zu verbessern. Ein gutes Beispiel für solch eine emanzipatorische Gerechtigkeitspolitik ist die Reform der Ausbildungssysteme in den 1960er Jahren. Sie zielte darauf, die familienbedingte Chancenungleichheit auf dem Gebiet der Ausbildung und schulischen Erziehung zu korrigieren und den Verlauf der Lebenskarrieren weitgehend von den Familienprägungen unabhängig zu machen, die von externen Interessen regiert wurden und sich weder an den Wünschen und Träumen der Kinder noch an ihren vorhandenen Begabungspotentialen orientierten. Diese kompensatorische Pädagogik verstand sich als eine Art Befreiungsarmee, die das Begabungspotential der Kinder aus der klassengesellschaftlichen Unterdrückung befreien wollte. Und sie zeigte eine beachtliche Konsequenz; sie begnügte sich nicht mit der Errichtung offener Bildungsinstitutionen, sondern marschierte in die Familien selbst ein, verlegte deren Orientierungsentscheidung für die Ausbildungskarrieren der Kinder von der Familie nach außen, in den gesellschaftlich neutralen Raum und erschuf Orientierungsstufen und Gesamtschulen. Dass diese autonomieförderlichen Sozialinvestitionen im Laufe der Zeit immer spärlicher wurden, weil aufgrund der Finanzierungskrise des Sozialstaats die gesetzlich festgezurrten konsumtiven Ausgaben den Etat auffraßen und für sozialinvestive Aufgaben keine Mittel mehr übrig ließen, spricht nicht gegen die Legitimität eines sozialinvestitiven Sozialstaats, sondern belegt nur die durch falsche Priorisierungen erzeugte innere finanzielle und ethische Unausgewogenheit der gegenwärtigen Verfassung unserer sozialstaatlichen Systeme.

Es liegt auf der Hand, dass ein Sozialstaat der Chancengerechtigkeit in hohem Maße ein Sozialstaat der Sozialinvestitionen ist. Ist es die legitimationsentscheidende Aufgabe des Staates, für die Voraussetzungen einer selbstbestimmten Lebensführung seiner Bürger zu sorgen, dann darf er sich nicht mit Umverteilung begnügen. Der freiheitsrechtliche Sozialstaat ist um die Ermöglichung der Wahrnehmung des Freiheitsrechts, ist um die Ermöglichung selbstbestimmter Lebensführung bemüht. Sein Hauptziel ist die Minimierung von Autonomierisiken, nicht die Erträglichmachung der Folgen manifesten Autonomieverlustes. Daher ist der freiheitsrechtliche Sozialstaat nicht auf das Versicherungsprinzip zu reduzieren, das ihn in komfortabler Nachträglichkeit verharren und auf den Versicherungsfall warten lässt. Daher zeigt sich seine Leistungsstärke auch nicht an dem Niveau der Versorgung, mit der die Ertragseinbußen eingetretener Unselbständigkeit kompensiert werden, sondern an dem Ausmaß seiner autonomiepolitischen Kreativität, seiner institutionellen Phantasie. Aus freiheitsrechtlicher Perspektive ist der Sozialstaat vordringlich ein Ermöglicher, der Vorsorge für die Freiheit trifft, kein Reparaturunternehmen, das Benachteiligungsschäden flickt.

Prinzi­pi­e­nethik liefert keinen sozial­po­li­ti­schen Algorithmus

So wichtig angesichts des Fehlens einer allgemein anerkannten normativen Hintergrundtheorie des Sozialstaats auch immer prinzipientheoretische Überlegungen sind: Auf der Großbaustelle des Sozialstaats kommt man allein mit ihnen nicht aus. Auch aus
dem Prinzip der Chancengerechtigkeit ist kein sozialpolitischer Algorithmus zu gewinnen, an dem sich die Reform des Sozialstaats auf jedem Leistungssegment orientieren könnte. Die sozialstaatliche Wirklichkeit ist von unbeherrschbarer Komplexität; die Vorstellung, sie von einem Punkt aus kurieren zu können, ist aberwitzig. Sie bildet ein nur noch Spezialisten zugängliches Agglomerat unterschiedlichster staatlicher, regionaler und kommunaler Leistungs- und Gestaltungsbereiche, die von der rechtlichen Verfassung der Arbeitswelt und den Maßnahmen subventionistischer Industriepolitik über die Einkommenssicherung durch Sozialversicherung, Sozialhilfe und Familienlastenausgleich bis zu einem ganzen Bündel sozialer Dienste im Gesundheits-, Ausbildungs und Arbeitsförderungswesen reichen. Und da diese Leistungssegmente und Programmbereiche unterschiedlich ausgestaltet sind, teils dem versicherungseigentümlichen Äquivalenzprinzip, teils dem Solidaritätsprinzip, teils dem Prinzip der Gleichbelastung und Gleichstellung, teils dem der kompensatorischen Entschädigung, teils dem Prinzip der Suffizienz und der Grundsicherung folgen, sind sie auch verschiedenen Ungerechtigkeitsrisiken konfrontiert. Folglich entstehen hier allerorten gerechtigkeitstheoretische Sonderprobleme, die nach bereichsspezifischen Lösungen verlangen. Es wäre jedoch verfehlt, darum eine sozial-staatsphilosophische Prinzipienethik für überflüssig zu halten. Diese Prinzipien bieten normative Fundamentalorientierungen und prägen daher die Problemdiagnose ebenso wie die Therapievorschläge. Es gibt immer unterschiedliche bereichsspezifische Lösungsangebote, und es hängt zumindest bei nicht-opportunistischen Entscheidungen von den Hintergrundüberzeugungen ab, welche der Lösungsangebote vorzugswürdig erscheint. Insofern können diese Prinzipien handlungsleitende Valenz besitzen. Das gilt auch für das Prinzip der Chancengerechtigkeit. Auch ihm wohnt eine charakteristische Beurteilungsperspektive inne, die das konkrete Problemverständnis prägt. Ich möchte das an drei Beispielen zeigen: an dem Beispiel der AI-terssicherung, der Familienpolitik und der Arbeitslosigkeit.

1. Kinde­r­un­wil­lig­keit als renten­po­li­ti­sches Gerech­tig­keits­pro­blem

Die Gültigkeitsvoraussetzung des rentenpolitischen Generationenvertrags ist die Identität von Beitragszahler und Leistungsnehmer. Nur unter dieser Voraussetzung wird der gerechtigkeitsheuristische Vertrag der Rationalegoisten geschlossen. Diese Genetationenbalance wird beschädigt, wenn signifikante Kinderunwilligkeit herrscht. Denn im Lichte eines generationenvertraglich finanzierten kollektiven Rentensystems ist Kinderunwilligkeit einseitig verdeckte Vertragskündigung. Das kinderunwillige Ehepaar durchbricht das Prinzip der generationenverschobenen Identität von Beitragszahler und Leistungsnehmer, lässt den generationenvertraglichen Staffelstab fallen. Die Ausbeutungsmarge, die durch Kinderunwilligkeit erzielt werden kann, ist beträchtlich. Das kinderunwillige Ehepaar ist ein rentenpolitischer free rider: es befreit sich nicht nur selbst von den Kosten, Beitragszahler heranzuziehen, die mit Erreichen des rentenfähigen Alters seine Beitragszahlung fortsetzen und so seine Rentenzahlung sichern. Es lässt sich zudem seine inzwischen gestiegene, da als Lohnersatz betrachtete und somit der Wachstumsdynamik angepassten Rente von fremden Beitragszahlern finanzieren, zumindest den nicht unerheblichen Teil, der über die von ihm selbst eingezahlte Beitragssumme hinausgeht. Auf der anderen Seite haben wir die schrumpfende Zahl der Beitragszahler, die für die Renten aller, einschließlich der kinderunwilligen Ehepaare aufkommen müssen. Aber nicht nur die kommenden Beitragszahler werden durch Kinderunwilligkeit geschädigt, auch die zeitgenössischen Kinder willigen. Denn nicht nur geraten sie durch die Kosten der Erziehung in ökonomischen Nachteil, auch mag die kindererziehende Mutter sich um eine Karriere gebracht sehen, die der kinderunwilligen Freundin, Schwester oder Nachbarin ökonomischen Erfolg, ethische Befriedigung und überdies eine Rentenanwartschaft einbringt. Hier ist eine familienpolitische Reform der Rentenversicherung, durch die unter anderem die Familienarbeit endlich der Erwerbsarbeit gleichgestellt wird, gerechtigkeitsethisch ebenso unabdingbar wie eine Ausweitung der Möglichkeit der Kinderbetreuung für arbeitende Mütter und arbeitende alleinerziehende Väter. Denn der erste Schritt zu mehr Chancengerechtigkeit ist immer Diskriminierungsabbau, Abbau von Chancenungleichheit.

2. Neue Famili­en­po­li­tik: Grund­si­che­rung durch Pflicht­ver­si­che­rung

Aber die Chancengerechtigkeit verlangt noch weit tiefere Eingriffe in das sozialstaatliche Einkommenssicherungssystem. Denn dieses hat mit der industriegesellschaftlichen Herkunft des Sozialstaats immer noch nicht gebrochen und hält daher an dem Prinzip der einkommensbezogenen Anwartschaft fest. Das bringt nicht nur die nicht-arbeitenden Ehefrauen und Mütter in Nachteil, das erweist sich auch angesichts der Veränderung des vorherrschenden Typus der einkommenserzielenden Arbeit als verhängnisvoll. Das Normalarbeitsverhältnis gerät seit langem, modernisierungs- und globalisierungsbedingt, unter Flexibilisierungsdruck. Eine Fülle neuer Erwerbstätigkeitstypen entsteht. Mit der Konstanz des Normalarbeitsverhältnisses verschwindet aber auch die Konstanz der Beitragszahlung. Damit wird der Versicherungszweck der Einkommenssicherung im Rentenalter unterminiert. Die Opfer der flexibilisierten Arbeitswelt müssen sich systemwidrig der Leistungen der Sozialhilfe bedienen. In dieser Situation würde eine grundlegende Umstellung des Einkommenssicherungssystems auf eine bedarfsorientierte und daher armutsfeste, weil von den Kontingenzen des Erwerbslebens unabhängige gesellschaftsweite gesetzliche Pflichtversicherung helfen, die für eine staatliche Grundsicherung sorgte. Weitergehende Versorgungsansprüche sind dann an den privaten Versicherungsmarkt zu verweisen. Die Vorstellung, mit der Beitragszahlung aller strukturellen Vorsorge ledig zu sein, so dass die verbleibenden Mittel ausschließlich dem privaten Konsum zugeführt werden können, muss aufgegeben werden. Zur mündigen, selbstverantwortlichen Lebensführung gehört auch eigenverantwortliche, dem eigenen Mentalitätsniveau, den eigenen Erwartungen und Präferenzen angepasste Zukunftsvorsorge. Die normative Orientierung an dem Ideal eines selbstverantwortlichen Lebens in einer chancengerechten Gesellschaft führt notwendig zu einem Dualismus der Altersvorsorge, zu einer Zwei-Komponenten-Sicherung aus einer einkommensunabhängigen und bedarfsorientierten Grundrente auf der Grundlage einer all-gemeinen, alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen einschließenden, steuerfinanzierten Pflichtversicherung einerseits und einer privaten Aufbau- und Zusatzversicherung andererseits.

3. Die Arbeits­lo­sig­keit als Ungerech­tig­keit

Das bedenklichste Gerechtigkeitsproblem aber stellt auch aus der Perspektive der Chancengerechtigkeit die Arbeitslosigkeit dar. Arbeitslosigkeit ist ein vielfältiges Übel. Trivialerweise ist mit dem Verlust der Arbeit auch der Verlust an persönlichem Einkommen verbunden. Aber Einkommenslosigkeit ist nur eine Arbeitslosigkeitsfolge unter anderen, etwa dem Makel der Unselbständigkeit und Abhängigkeit; oder der sozialen Depravierung; der zeitdehnenden Unbeschäftigtheit, dem Verlust des Korsetts aus Pflichten und Routinen und der damit verknüpften Entstrukturierung des Lebens, dem Wegfall aller zeit- und alltagspolitisch heilsamen Zäsuren, der Zäsuren zwischen Arbeit und Pause etwa, zwischen Arbeitszeit und Freizeit, Arbeitstag und Feiertag, Arbeit und Urlaub. Weiterhin bedeutet Arbeitslosigkeit wachsender Selbstzweifel, überdies den Verlust des vertrauten sozialen Milieus, das Zerreißen bewährter Kommunikationsbeziehungen und den Schwund sozialen Urvertrauens. Das Gut Arbeit muss daher gepflegt und durch phantasievolle Strukturpolitik betreut werden. Es muss vor dem verhängnisvollen paradoxen Effekt geschützt werden, dass es auf der einen Seite durch fortschreitende Ausgleichung des Markteinkommens und des Transfereinkommens moralisch und ökonomisch entwertet wird und genau darum auch auf der anderen Seite immer teurer wird.

Eine liberale Organisation des Sozialstaats muss sich daher gegen eine Politik der Besitzstandswahrung richten, muss eine Minderung der Lohnzusatzkosten erwirken, muss gegen den Flächentarifvertrag Stellung nehmen, Öffnungsklauseln und betriebliche Arbeitsbündnisse fordern und dringlich verlangen, das gesamte Instrumentarium zur Aufbrechung arbeitsmarktpolitischer Verkrustungen auszuprobieren, damit die interessenpolitischen Barrieren zwischen der vorhandenen Arbeit und den Arbeitssuchenden abgebaut und die brachliegenden produktiven Kräfte gesellschaftlich genutzt werden können. Dieser Vorwurf beschäftigungspolitischer Unverantwortlichkeit zielt nicht allein auf die Gewerkschaften; er bezieht sich auch auf die korrespondierenden Verfehlungen des Tarifpartners. Das gesamte Tarifkartell muss gesprengt werden. Die den verhandelnden Verbänden eingeräumte Freiheit wurde bislang grundsätzlich nicht zur Besserung der Arbeitschancengleichheit benutzt, sondern führte fortwährend zu neuer und größerer Ungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Der Arbeitsplatzbesitzer wurde zum um hätschelten Privilegiaten des Tarifkartells. Daher entfernte sich dessen Handeln immer weiter vom Allgemeinwohl. Eine umfassende Reform des Tarifvertragsgesetzes ist dringend erforderlich. Wenn durch hohe Sozialabgaben die Arbeit immer mehr verteuert und daher verknappt wird, erweist sich der Sozialstaat und seine petrifizierte arbeits- und sozialrechtliche Verfassung selbst als Hindernis einer möglichst breiten, also gerechten Verteilung des Gutes Arbeit und der mit ihm verbundenen Chancen selbständige Lebensführung. Die Gewerkschaften, ehemals erfolgreiche und notwendige Interessenvertreter der Arbeiterschaft in der Industriegesellschaft, treten gegenwärtig, in einer erheblich veränderten, postindustriellen Gesellschaft, nur noch als Lobby einer schwindenden Gruppe von Arbeitsplatzbesitzern auf, die aufgrund absehbare Rationalisierungs- und Entlassungseffekte hoher Lohnabschlüsse einerseits und einer arbeitsrechtlichen-tarifrechtlichen Blockadepolitik andererseits tatkräftig an der Produktion weiterer Arbeitslosigkeit mitwirkt. Sie weigern sich beharrlich, ihre Verantwortung für eine Modernisierung des Tarifrechts und Arbeitsmarktverfassung zu übernehmen.

Es ist höchst irritierend, dass die Gesellschaft es bis heute diesen Funktionären einer partikularen Interessengruppe widerspruchslos durchgehen lässt, die eigensüchtige Verteidigung einer immer ungerechter werdenden Verteilung der Beschäftigungschancen aIs Dienst an der sozialen Gerechtigkeit zu verkaufen und alle anderen, die durch strukturelle Veränderungen der versteinerten Arbeitsmarktverfassung die Beschäftigungssituation verbessern wollen, als neoliberale Totengräber des Sozialstaats zu verunglimpfen. Kompensiert wird diese erstaunliche moralische Unempfindlichkeit gegenüber der Ungerechtigkeit der Arbeitslosigkeit durch eine sozialstaatseigentümliche ethische Entwertung der Arbeit, die genau ihrer sozialen Verknappung und ökonomischen Verteuerung korrespondiert. Ist Arbeit ausschließlich ein Mittel zur Einkommensgewinnung, kann sie durch entsprechende Transferzahlungen ersetzt werden, kann Arbeitslosigkeit gerechtigkeitsethisch entskandalisiert werden. Ist Arbeit aber nicht nur ein ökonomisches Instrument, sondern auch ein lebensethisch wichtiges Gut, eine Autonomiechance, von der niemand ausgeschlossen werden darf, dann müssen im Namen der Gerechtigkeit alle Beschäftigungshindernisse abgebaut werden. Und dazu mag auch der Zentralismus in der Arbeitsvermittlung gehören.

Gleichheit, Ungleich­heit und Gerech­tig­keit

Das Menschenrecht verlangt, dass das staatliche Regel- und Institutionensystem alle Menschen gleich behandeln und in gleicher Weise berücksichtigen muss. Und das besagt, dass bei der grundlegenden menschenrechtlichen Rechtszuschreibung und ihrer gesetzesrechtlichen Ausdifferenzierung Unterschiede keinerlei kriterielle Bedeutung besitzen dürfen, weder die natürlichen, biologisch verursachten, noch die künstlichen, sozial verursachten. Daher bindet das Menschenrecht alle Einrichtungen des kulturellen, sozialen und politischen Systems an das Gleichbehandlungsgebot. Und das besagt wiederum, dass die gesamte gesellschaftliche Differenzerzeugung angesichts der normativen Priorität der menschenrechtlichen Politik der Indifferenz unter Rechtfertigungszwang steht. Gerechtigkeitsdiskurse in der modernen Gesellschaft sind daher vor allem Demarkationsdiskurse, die die Grenzen zwischen statthaften und unstatthaften Ungleichheiten, zwischen notwendigen und illegitimen Gleichheiten abzustecken versuchen.

Die sozialstaatliche Auslegung dieses Gleichheitsprinzips verlangt ein Rahmenwerk, das den Individuen Chancengleichheit garantiert. Sozialstaatshandeln ist dann gerecht, wenn es sozial-investiv ausgerichtet ist und der Ermöglichung dient, einen egalitären Sockel einkommensunabhängiger Grundversorgung schafft und einen gleichen und ebenfalls einkommensunabhängigen Zugang zu den gesellschaftlichen Ausbildungs und Bildungsinstitutionen garantiert. Diese müssen im Gegenzug hinreichend differenzsensitiv und für unterschiedliche Talentmuster und Begabungsausrichtung gleichermaßen vorteilhaft sein. Egalisierendes — und darum notwendig konsumorientiertes, monetaristisch gravitiert-es — Sozialstaatshandeln hingegen ist inhuman, denn Humanität verlangt den Respekt vor der Individualität, und Individualität verlangt die Anerkennung von Differenz und Ungleichheit. Dass diese sich auch in unterschiedlichen Voraussetzungen für Berufs-, Sozial- und Lebenserfolg niederschlägt, kann kein Grund sein, sie umverteilungspolitisch zu bekämpfen. Die Anerkennung von Differenz und Ungleichheit verlangt auch eine Förderung des Wettbewerbs. Nur im kompetitiven Klima können sich die Fähigkeiten und Anlagen entwickeln, nur im Wettbewerb hat das Bessere Erfolg. Aufgrund der Finanzierungskrise des Sozialstaats, aufgrund der Globalisierung der Märkte wird das sozialdemokratische Ideal umverteilungsgesteuerter Gleichheitssicherung nicht aufrechterhalten werden können. Wenn Milliarden von Chinesen und In-der sich daran machen, in einem atemberaubenden Entwicklungstempo die globale Wohlstanddifferenz zwischen dem Westen und dem Rest der Welt zu minimieren, wird dieses nicht ohne Auswirkungen auf unser eigenes sozioökonomisches Gefüge und auf unsere wohlfahrtsstaatlich imprägnierte Mentalität bleiben. Wir werden uns — wieder — an mehr Ungleichheit gewöhnen müssen. Aber jede Krise ist auch eine Chance. Die Krise des Sozialdemoarktismus ist die Chance für einen humanen Liberalismus, in dem die Individuen auf der Grundlage allgemeiner politischer Solidarität Selbstverantwortlichkeit und Lebensführungskompetenz zurückgewinnen können.

Literatur

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Lessenich, Stephan (Hg.) 2003: Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische and aktuelle Diskurse, Frankfurt/Main
Pioch, Roswitha 2000: Soziale Gerechtigkeit in der Politik. Orientierungen von Politikern in Deutschland und den Niederlanden, Frankfurt/Main
Prisching, Manfred 1966: Bilder des Wohlfahrtsstaates, Marburg
Sachße, ChristophlEngelhardt, H. Tristram (Hg.) 1990: Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/Main
Schoeck, Helmut 1966: Der Neid und die Gesellschaft, Freiburg

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