Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Kritik der Ungleich­heit

Über die Natur gesellschaftlicher Unterschiede und deren Begründungen*

aus: Vorgänge 168 ( Heft 4/2004 ), S. 4-11

Die Ablösung der Gerechtigkeit von der Gleichheit und ihre Anbindung an Anstand, Achtung und Respekt bedeuten einen Kniefall vor der Ungleichheit. „Müssen wir uns mit einer Gesellschaftsordnung abfinden, in der alle Hoffnungen auf mehr Gleichheit gescheitert sind”, fragt einer in gebeugter Haltung und sagt „nein.” Die Gleichheit muss nur „neu verstanden werden”. Es gilt ein Ich zu fördern, das über genügend Selbstachtung verfügt, um „soziale Unterschiede positiv zu würdigen” (Giddens 1997: 257-259). Was bei Nietzsche noch Teil eines provozierenden Programms zur Umwertung der Werte war, verkommt zu einer abgeschmackten Pflichtübung. Darin erfüllt die „Selbstachtung” die Doppelfunktion von Skalpell und Nadel. Wer sich selbst ausreichend Achtung entgegenbringt, schneidet sich vom neidvollen Vergleichen ab, vernäht die Wunde und bestreicht sie mit dem Balsam positiv erlebter Ungleichheit. Nach geglückter Operation versteht er die Gleichheit „neu”, als Gleichheit von Menschen, die sich ungeachtet achten, ungeachtet nämlich der unter ihnen sich ausbreitenden Ungleichheit. Die Verlogenheit des Arguments wird durch das „Angebot” noch überboten, das die Wohlhabenden den Armen für deren Lernbereitschaft unterbreiten. Sie erklären sich bereit, etwas von ihrer guten Arbeit abzugeben. Die Beschenkten bezeigen ihre Dankbarkeit, indem sie soziale Verantwortung entwickeln und sich um die lokale Umwelt sorgen; ein „Lebensstil-Abkommen” der neuen, durch und durch vulgären Art. Durch ihre unverbindliche Zusage, die eine oder andere Arbeitsstunde an Bedürftige abzutreten, kaufen sich die Inhaber guter und auskömmlicher Stellen von weiteren Verpflichtungen frei. Im kommoden Gefühl, dass ihre anspruchsvollen Funktionen von anderen kaum wahrgenommen werden können, werden sie diesen Vertrag, sollten sie ihn jemals zu Gesicht bekommen, gelassen unterzeichnen.

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„Gleichheit aller im Raum der Fähigkeiten”, das klingt schon besser. Bei diesem Arrangement hat nicht jeder dasselbe, aber jeder hat genug, um als gleichwertiger Bürger sprechen und handeln zu können. Sind diese Grundvoraussetzungen menschlicher Handlungsfähigkeit erfüllt, erscheinen „darüber hinausgehende Einkommensunterschiede im Prinzip unproblematisch” (Anderson 2000: 155, 167). Sind sie das wirklich? Der soziale Zusammenhalt eines Gemeinwesens hängt nicht allein von der Handlungsfähigkeit der einzelnen, sondern auch von der realen Möglichkeit ab, als Ebenbürtige miteinander in Kontakt zu treten. Die soziale Korrespondenz der Lebensweisen muss gewahrt bleiben, so dass jeder und jede imstande ist, sich in die Lage und die Vorstellungen der anderen hineinzuversetzen

Die „Kreuzung der sozialen Kreise”, ein altes Thema der Soziologie, gewinnt in einer Ära rapide zunehmender Abschottung von Lebensformen und Lebensstilen unerwünschte Aktualität. Eine stabile Kultur der Kooperation setzt dreierlei voraus: Menschen ohne existentielle Ängste, soziale Differenzen innerhalb der Grenzen des praktischen Gemeinsinns und Auftrieb von unten, die Chance unterprivilegierter Gruppen, Armut und Unselbständigkeit zu überwinden. Alle drei Faktoren zusammen definieren das unverzichtbare Maß an Gleichheit, das eine gerechte Gesellschaft auf demokratischer Grundlage voraussetzt. – Der gegenwärtige Diskurs über Teilhabe und Respekt, die ganze zeitgenössische Reformdebatte verletzen diese Voraussetzungen, ignorieren, dass alle sozialen Gruppen und nicht nur die Bessergestellten in der Lage sein sollten, an Entscheidungen über das, was erhaltenswert und was zu opfern ist, mitzuwirken (Sen 2002: 289). Diese Mitwirkungsrechte, ihre Ausdehnung auf jene, die sie noch nicht oder nicht in vollem Umfang genießen, sind das einzige Fortschrittskriterium für Gesellschaften, in denen Menschen Zweck der Übung sind (ebd.: 13f., 351). Das Argument des Mitstimmen- und Mitentscheiden-Könnens jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds reguliert alle anderen Gerechtigkeitsdiskurse.

Haushaltssanierung, Beschneidung konsumtiver Staatsausgaben, Verteilung knapper Ressourcen, Teilen ins Weniger, all dies untersteht zwei Bedingungen: Alle haben ein Recht darauf, vor dem Vollzug dieser Prozesse gehört zu werden, niemand darf sich in ihrem Ergebnis in Armut wiederfinden, und zwar nicht aus philanthropischen Erwägungen, sondern weil sich Armut durch den Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen, durch sozialen Ausschluss zu erkennen gibt. „Reformen”, die auch nur gegen eine dieser Bedingungen verstoßen, verwischen den Grundriss der sozialen Demokratie. Sie begründen ein Widerstandsrecht, das seine Legitimation aus dem Kampf gegen die Auflösung der Gesellschaft bezieht. Bedenkt, ihr Lobredner der Teilhabe, die Konsequenzen eures Lockrufs: Partizipation, die nicht mehr partizipieren darf, wird militant!

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„Unterschiede positiv zu würdigen”, so lautet das Lernziel der neuen Gerechtigkeit. Was kommt ihm gesellschaftlich entgegen? Welche sozialen Differenzen lassen sich im demokratischen Wohlfahrtsstaat rechtfertigen, im Einklang mit seinen drei Grundbestimmungen: keine Armen, Mitwirkung aller am Gemeinwesen, Kreuzung der sozialen Kreise? Eine philosophische Antwort auf diese Fragen würde die deduktive Methode bevorzugen, Axiome der Gerechtigkeit postulieren und von ihnen ausgehend die Phänomene ordnen. Für eine Erfahrungswissenschaft wie die Soziologie scheidet dieses Verfahren aus. Statt der berühmten Zwillinge mit völlig identischer natürlicher Ausstattung und gleichen sozialen Ausgangsbedingungen rechnet sie mit Durchschnittsexistenzen. Sie lässt sich vom Urteilsvermögen gewöhnlicher Akteure leiten, und wenn sie deren Urteile analysiert und systematisiert, dann anhand jener Kriterien, die diese selbst verwenden, wenn auch implizit.

Gemäß dieser induktiven Methode sind soziale Unterschiede dann „gerechtfertigt”, wenn sich in der Gesellschaft kein lauter und verbreiteter Widerspruch gegen sie erhebt; stillschweigende Duldung genügt. Einander widersprechende Urteile gelten dabei nicht als Mangel. Sie gehorchen der Logik des praktischen Sinns, der sich in Widersprüchen herumtreibt, dieselben Unterschiede in einem Kontext anerkennt, in einem anderen verwirft (vgl. Bourdieu 1987 [1980]). Der Soziologe würde seine Aufgabe verfehlen, wollte er diese Widersprüche glätten, der „logischen Logik” unterwerfen. Er vollzieht sie vielmehr nach, um jene Umschlagpunkte zu erfassen, an denen die Alltagserfahrung über sich hinausgetrieben wird, einen Standpunkt verlässt und einen anderen einnimmt. Die folgende Klassifikation alltäglicher Urteile über soziale Differenzen entspringt dieser nachvollziehenden Einstellung.

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Das bei weitem populärste Phänomen gerechtfertigter Unterschiede hört auf den Namen Leistung. Einer führt in materieller Hinsicht ein besseres Leben, weil er mehr leistet: Das leuchtet vielen ein. Die Spannweite dieses intuitiven Arguments ist jedoch beträchtlich enger, als es zunächst den Anschein hat. Die Voraussetzungen, unter denen sich ein „Mehr” oder „Weniger” einigermaßen verlässlich ermitteln lassen, sind der Zahl nach ebenso überschaubar wie in der Sache anspruchsvoll. Menschen müssen die-selbe Arbeit versehen, sie müssen über annähernd dieselben körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügen und nicht zuletzt: Die Arbeit selbst muss messbar, quantifizierbar sein, und zwar auf der Ebene des einzelnen Individuums. Der Kreis jener Verrichtungen, die diesen Forderungen entsprechen, hat im Verlauf der zurückliegenden Jahr-zehnte erheblich an Umfang abgenommen, und so verwundert es nicht, dass „Leistung” heute mehr denn je als Fiktion über der Welt der sozialen Differenzen schwebt (so auch Gosepath 2004: 390-394). Dieselbe ökonomische Philosophie, die die Leistung verherrlicht, der Postfordismus, betrog sie um die Grundlagen ihrer Vergewisserung: „Das habe ich und ich allein in dieser Zeit vollbracht.” Wer Unterschiede im Einkommen, im Lebensstandard mit dem Verweis auf die höhere oder geringere Leistung abspeist, will in neun von zehn Fällen betrügen. Was der Manager dem angelernten Arbeiter voraus-hat, ist in der Regel weder seine Einsatzbereitschaft noch die Anspannung aller Kräfte während der entgoltenen Arbeitszeit.

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Womöglich ist es die höhere Qualifikation. Nur, was heißt hier „höher”? Das Höhere bestimmt sich gewöhnlich dadurch, dass es das Niedere in sich einschließt. Der Manager stünde materiell besser da als der Angelernte, weil er im Unterschied zu diesem ein weites Spektrum jederzeit einsetzbarer Vermögen kommandiert, weil er den Angelernten der Potenz nach in sich aufhebt.

Gesellschaften mit ausgefeilter Arbeits- und Funktionsteilung verweisen diese Interpretation ins Reich der Schutzbehauptungen. Übergeordnete Positionen in der sozialen Hierarchie zeichnen sich zumeist durch dieselbe Spezialisierung aus wie untergeordnete; die Profilerweiterung von Berufsbildern hat diesen Trend gebremst, hier und da umgeleitet, aber nicht gebrochen. Meister gibt es in nahezu jedem Fach, quer durch die ganze Arbeitswelt, und hier, innerhalb der verschiedenen Professionen, sticht das Argument. Menschen, die dieselben oder einander verwandte Berufe ausüben, verständigen sich ohne viel Worte darüber, wer von ihnen über das umfänglichere Repertoire an Kenntnissen und Fähigkeiten verfügt. Insofern erläutert die „höhere Qualifikation” die „Leistung”: x leistet mehr als y (verdient daher auch mehr), weil er auf seinem Gebiet der fachlich Kompetenteste ist. Was auf diese Weise gerecht-fertigt wird, sind Einkommens- und Prestigedifferenzen auf den einzelnen Plateaus der Erwerbsgesellschaft, nicht zwischen ihnen.

Aber vielleicht war „höher” nur ein ungeschickter Ausdruck, geht es in Wahrheit um intensivere Qualifikation, um den Umstand also, dass sich x während längerer Zeit auf seinen Beruf vorbereitet hat als y, engagierter, verzichtsbereiter. Dann hätten wir es mit einer Aufrechnung früherer Entbehrungen mit späteren Gratifikationen zu tun. Als sich die meisten anderen den gewohnheitsmäßigen Genüssen und Zerstreuungen seiner/ihrer Jahrgänge hingaben, durchlief er/sie eine harte Charakterschule, die eigene Bestimmung schon deutlicher im Blick. Was wäre gerechter als eine angemessene Entschädigung der aufgesparten Freuden zu gegebener Zeit? — Für die Logik des praktischen Sinns, der solche Erwägungen zutiefst vertraut sind, ein schwer zu widerlegendes Argument. Diskutieren ließe sich allenfalls über die Höhe der Entschädigung; der Anspruch selbst besteht zu Recht. Er gewinnt zusätzliche Plausibilität vor dem Hintergrund einer Epoche, die sich als „Wissensgesellschaft” versteht, systematische, speziell akademische Ausbildung und sozialen Rang in eine eineindeutige Beziehung setzt.

Cieverness ist eine weitere Umschreibung für „höhere Qualifikation”. X war klug, vor allem risikobewusst genug, sich für einen Beruf zu entscheiden, den seinerzeit nur wenige ergriffen; y dagegen schwamm im Strom der Zeit und lernte, was damals Mode war. Dass der Pionier Prämien einstreicht und nicht der Mitläufer, kann in Gesellschaften, die das Gespür für Knappheit reich belohnen, kaum einem Zweifel unterliegen; das ist, bleibt man im Horizont des Marktes, nur gerecht, Anlass zum Kummer, nicht zur Klage: „Ich hätte mich frühzeitig in eine andere Richtung orientieren sollen!”

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Kommt das Talent ins Spiel, erst das „Genie”, hört sogar dieser Kummer auf. Qualifikationen kann man erwerben oder verpassen, Talente erbt man. Vor der einmaligen Anlage, der seltenen und kostbaren Disposition verstummt die Kritik des gesunden Menschenverstandes. Welches Argument, das nicht sogleich dem Neid verfällt, sollte er schon bemühen? Dieser Unterschied stammt direkt ab vom Adel der Natur, und wenn es hier etwas zu murren gibt, dann über die Sorglosigkeit, mit der der Begabte seine Mitgift hütet. Denn anders als bei der reinen Naturgabe, der respektgebietenden Statur, bei Ebenmaß und Schönheit, die in sich selbst vollendet sind, weiteren Zutuns, außer Pflege, nicht bedürftig, handelt es sich beim Talent um eine Anlage, die ausgebildet, kultiviert werden muss, um zur vollen Blüte zu gelangen. „Talent ist Interesse” (wie der Dichter etwas übertrieben sagt), Selbstergreifung, Selbstbefruchtung des glücklich An-gelegten. Geschieht das in wünschenswertem Maße, welche Reaktion wäre statthafter als Bewunderung: „Dass es so etwas gibt, ich könnte das nicht!” Erntet das gereifte Talent verdienten Ruhm, verwandelt es den Ruhm in bare Münze, was macht es anderen streitig? Nichts. Als verkörperte Knappheit par excellence, Qualifikation im Modus der Empfängnis, empfängt es nur das ihm Gebührende.

Mit der höchsten Steigerung des Talents, mit der Naturgabe, verfährt die Logik des praktischen Sinns weniger ehrerbietig. Paradoxerweise. Entscheidet die Mitgift doch hier so gut wie alles, die Ausbildung beinahe nichts. Gleichwohl erkühnen sich ganz gewöhnliche Menschen des Vergleichs mit den Auserwählten, modellieren sie ihre Körper, ihr Äußeres, ihr Antlitz nach den Abbildern der Unikate, verwandeln sie in eine oftmals harte Arbeit, in Tortur, was als Dasein ohne Grund und Auftrag jeder Arbeit spottet. Ihre verzweifelten Bemühungen enthüllen eine kulturelle Konstellation, die der Natur, die Mühe noch verlangt, gewogener ist als der Natur, die feiert. Noch. — Noch? Ist nach dem Schönheitswahn der Talentewahn nicht bereits ausgebrochen? Kann der-weil nicht jeder schreiben, der den Griffel halbwegs halten kann? Und singen, was die Stimmbänder erlauben? Und schauspielern, dass sich die berühmten Balken biegen? Dem Herrn ins Handwerk greifen, zwanghafte Kultivierung, Maskerade, Chirurgie mit oder ohne Messer, die die Schöpfung mit verbissenen Lippen nachäfft, so geht die Melodie, nach der der Geist der Zeit sein Spottlied auf die Zeit des Geistes trällert. Kulturgesellschaft? Du liebe Güte! — Verbeugung des Kulturpessimisten. Spärlicher Applaus. Abgang.

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Rückkehr des Analytikers. In der ebenso tatkräftigen wie überwiegend aussichtslosen Weigerung, naturgegebene Unterschiede hinzunehmen, artikuliert sich ein Ungerechtigkeitsempfinden, für das es scheinbar keinen Adressaten gibt. Wo ist die juristische oder öffentliche Instanz, die Klagen gegen das Unrecht der Natur auch nur zur Kenntnis nähme? Kein Tatbestand, ergo auch kein Verfahren, „Revision” der Güterverteilung auf eigenes Risiko und zum vorzüglichen Nutzen der Geschäftemacher dieser Branche. Besitzen die Kläger nicht dennoch dasselbe Recht auf Anhörung wie Voltaire, der das Erdbeben von Lissabon als „skandalösen Unfug der Natur” verurteilte? Größeres Recht vielleicht sogar als dieser? Ist es wirklich nur schicksalsblinde Fügung, die die einen mit überragenden Begabungen, kräftiger Konstitution, gewinnendem Äußeren ausstattet, andere nur eben so bedenkt, noch andere mit Handikaps versieht? Bilden diese Differenzen nicht das vorläufige, revidierbare Fazit einer weit in die Vergangenheit blicken-den Bildungsgeschichte menschlicher Sinne und Vermögen? Muss man in und hinter ihnen nicht das Wirken sozialer und kultureller Mächte aufspüren, die die Individuen auf Kasten, Schichten, Stände und Klassen verteilten, in begüterte oder notleidende Familien hineinversetzten, in kulturell reiche oder karge Milieus? Ist, was wir allzu eilig und oberflächlich als Urteil der Natur bezeichnen, nicht in Wahrheit das Produkt der sozialen Vererbung, gespeichertes Unrecht, weit kritikwürdiger als das Lissabonner Beben?

Die „natürlichen” Unterschiede sowie die aus ihnen erwachsenden Vor- und Nach-teile sind ebenso willkürlich wie jene, die wir auf den ersten Blick als gesellschaftlich bedingt erkennen. Es gibt kein Dokument der Kultur, das nicht auch eines der Barbarei wäre, heißt es sinngemäß bei Benjamin. Wir stehen bezaubert vor den Werken Myrons oder Tizians und übersehen den Friedhof unterdrückter Möglichkeiten, der sich unmittelbar dahinter erstreckt. Schuldlos schuldig, gleich ihnen, ist das schöne Gesicht im Alltag. „Eigentum ist Diebstahl!” wetterte Proudhon. Die Schöpfungen von Phantasie und Intellekt, Anmut, Grazie, das ganze Universum interesselosen Wohlgefallens, auch: Diebstahl? Gewiss, nur ohne haftbaren Dieb. Das Unrecht ist verjährt seit abertausend Jahren. Ein Feldzug gegen alles Schöne und Gelungene, auf seine Auslöschung bedacht, wäre die reine Barbarei. — Also kein Prozess, trotz Tatbestand? Jedenfalls kein rückwirkender. Auf die Gegenwart, mehr noch auf die Zukunft bezogen, stiftet der Versuch einer Wiedergutmachung durchaus Sinn.

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Unter den gesellschaftlich umlaufenden Begründungen für die Ungleichheit unter den Menschen kommt dem Phänomen der Verantwortung herausgehobene Bedeutung zu. Jemand genießt höheres Ansehen, gebietet über einen reicheren Fundus an Existenzmitteln, an Entfaltungsmöglichkeiten, weil seine Funktion mit einschneidenden Konsequenzen für das Leben und Überleben anderer einhergeht. Ob der Betreffende unmittelbar mit Menschen oder mit Dingen befasst ist, ob er, im ersten Fall, Verantwortung für viele oder wenige trägt, ist dabei nebensächlich. Entscheidend sind die Auswirkungen seines Tuns wie seines Unterlassens für andere Menschen, und hierbei reichen sich der Staatsmann, der Pilot, der Lotse, der Richter und der Arzt die Hände.

Gewöhnlich fügt sich der Alltagsverstand in Differenzen, die mit den langfristigen und schwerwiegenden Folgen des Handelns einzelner begründet werden. Wer im Flug-zeug sitzt oder einer ernsten Operation entgegensieht, billigt den für das jeweilige Gelingen Verantwortlichen leichten Herzens ein Mehrfaches ihrer tatsächlichen Bezüge zu. Versagen sie, schlägt die wohlfeile Gesinnung in die Erbitterung darüber um, dass alles Geld dieser Welt offenkundig nicht genügt, um das mindeste zu gewährleisten, dessen man sich in solchen Situationen zu versehen wünscht, Pflichtbewusstsein und Zuverlässigkeit. Dann geht jede Putzfrau sorgsamer zu Werke.

Die generöse wie die empörte Haltung zeugen von der tiefen Verankerung der „Verantwortung” im Begründungshaushalt der Ungleichheit. Kritik vermag hier wenig aus-zurichten. Dass der Minister, der Chirurg, der Flugkapitän ihre Professionen frei gewählt haben, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Verantwortung, dass sie, vor die Wahl gestellt, weniger Geld oder weniger Entscheidungsbefugnisse zu akzeptieren, finanzielle Abschläge mit hoher Wahrscheinlichkeit als das geringere Übel ansähen, mag alles richtig sein, verunsichert die spontane Zustimmung zu dieser Ungleichheit je-doch nur marginal. Am ehesten noch in bezug auf die Politiker, denen man alles zutraut, auch Gier. Das betagte Gegenargument, demzufolge hohe Verantwortung ein Genuss und deshalb Lohn genug sei, dass deren Abwesenheit eigentlich reiche Entschädigung verdiene, es greift nicht recht.

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Die Inanspruchnahme der Unparteilichkeit als sozialer Unterscheidungsgrund kann als eine Variante des Verantwortungsdiskurses gelten. Seiner Verantwortung gerecht werden heißt, sie gegen jedermann zu üben, ohne Ansehen der Person, sine ira et studio, heißt insbesondere, sie sich nicht abkaufen zu lassen. Vielfältig wie ihre Anlässe sind die Erscheinungsformen von Bestechung und Bestechlichkeit. Der Verkäufer, der „treue” Kunden durch Leistungen außer der Reihe an sich bindet, gibt dafür ein lässliches Exempel, der Baudezernent, der sich für die Vergabe eines Auftrags schmieren lässt, ein justiziables. Je mehr einer aufgrund seiner Funktion zu vergeben hat, desto anfälliger für Vorteilsnahmen ist er objektiv, desto sicherer wollen wir sein, dass er unparteiisch agiert, persönlich unabhängig, sachbezogen. Der Gesetzgeber soll einzig seinen politischen Überzeugungen, der Richter dem Gesetzbuch sowie Verfahrensregeln folgen, der Polizist auf Abstand bleiben zum „Milieu”.

Die Verwirklichung dieser Forderungen ringt mit der Schwäche der menschlichen Natur, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß. Der Begünstigte von heute kandidiert für  den Geschädigten von morgen, und daher liegt es im Interesse aller, der Verführbarkeit rechtzeitig und pragmatisch vorzubeugen. Wir verabscheuen die Korruption, tragen gegenüber der legalen Bestechung gesellschaftlicher Funktionsträger dagegen kaum Bedenken. Sie sollen Gehälter beziehen, die der Charakterstärke über jene Schwelle helfen, die Versuchung heißt. Was der Verweis auf Leistung und Qualifikation nur schwerlich erreichen kann, bewirkt das Gespenst einer notorisch parteiischen Wahrnehmung öffentlicher Ämter beinahe zwanglos: unsere stillschweigende Zustimmung zur Außerkraftsetzung der Gleichheitsregel. Wieder ist es der Politiker als sozialer Typus, dem wir die Zulage noch am ehesten missgönnen, um so mehr, als wir seiner Parteinahme für Wirtschaftsinteressen tagtäglich gewahr werden; er mag zum Teil dem
Straßenpolizisten überlassen, was er umsonst, weil ohne die erhoffte Wirkung für sich beansprucht.

Eine Bedingung behalten wir uns freilich vor: das „Charaktergeld” gehört dem Individuum nur als dem Repräsentanten der Funktion. Die wilde Vorteilsnahme, die sich der legalen aufpfropft wie ein Prachtgewand dem an sich schon erlesenen Kostüm, findet vor dem Gerichtshof des alltäglichen Ungerechtigkeitsempfindens keine Gnade. Der „Volkszorn” über bestechliche Funktionsträger bestätigt indirekt die verbreitete Anerkennung der Unparteilichkeit als diskussionswürdiger Grundlage sozialer Privilegien auf Zeit und für begrenzte Zwecke.

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Liegen die hier versammelten Bestimmungsgründe hinnehmbarer Ungleichheit wirklich auf derselben Ebene? Wechselt, wer von Einkommen, Bildung, Begabung, öffentlichen Ämtern spricht, nicht fortgesetzt die Sphäre? Müssen sich ökonomische Rangordnungen zwangsläufig in kulturelle und politische übersetzen? Wäre, mit anderen Worten, der tolerierbare Spielraum für soziale Unterschiede nicht erheblich größer, wenn sie sich in ihren angestammten Grenzen hielten? Das wäre zweifelsfrei der Fall. Nichts vertritt der Chancengleichheit, schon der formalen, anmaßender den Weg als die freie Konvertierbarkeit von Geld, öffentlichem Einfluss und politischer Macht. Um arglos mit sozialen Abstufungen umgehen, um Gefallen an „komplexer Gleichheit” finden zu können, muss gewährleistet sein, „dass die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Gutes nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen Gutes” (Walzer 1992: 49). Nur verhält es sich nicht so. – Der Springpunkt der illegitimen Übertragungsrechte liegt in der Dominanz des Kapitals außerhalb des Marktes; sie vor allem verleiht dem Gegenwartskapitalismus sein zudringliches Wesen. Beschränkung, Einhegung ökonomischer Macht, so dass die Wirtschaft tatsächlich in der Wirtschaft stattfindet und nur dort, ist die Grundbedingung dieses differenzierten Gerechtigkeitsverständnisses; sie fordert nichts Geringeres als den Mut, mit dem Kapitalismus in seiner jetzigen Gestalt zu brechen.

* Dieser Beitrag beruht auf einem Abschnitt aus Wolfgang Englers Buch Bürger, ohne Arbeit. Für
eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, das Ende Februar 2005 im Aufbau Verlag erscheint.

Literatur

Anderson, Elisabeth S. 2000: Warum eigentlich Gleichheit?; in: Krebs, Angelika (Hg): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismusforschung, Frankfurt/Main, S.117-171
Bourdieu, Pierre 1984 [1979]: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt Main [frz. Orig.: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris] Bourdieu, Pierre 1987 [1980]: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main [frz.
Orig.: Le sens pratique, Paris] Giddens , Anthony 1997: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt/Main
Gosepath, Stefan 2004: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/Main Krugman , Paul 2000: Schmalspur-Ökonomie. Die 27 populärsten Irrtümer über Wirtschaft, Frankfurt/Main(New York Rawls, John 1975: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main Sen, Amartya 2002: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München Walzer, Michael 1992: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/MainlNew York

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