Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Wester­welles Weg

Die politische Karriere eines liberalen Parteiführers*

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), S.77-83

Nimmt man allein die Wahlergebnisse der letzten Zeit und schaut auf die Meinungsumfragen, dann steht die FDP im Grunde gar nicht schlecht da. Und doch wirkt die FDP merkwürdig verunsichert, ängstlich, timide, mutlos. Auch ihr Vorsitzender ist erheblich ruhiger geworden, vorsichtiger, wohl auch misstrauischer. Noch vor drei Jahren hatte man das ganz anders erlebt: Die Freien Demokraten rasten, wie gut erinnerlich, enthemmt durch die politische Landschaft, dröhnend und prahlerisch. Sie veranstalteten im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 ein lautes und hybrides Spektakel, agierten wie im Fieber – Guido Westerwelle stets und überall vorweg. Doch folgte diesem Karneval der übliche Aschermittwoch. Wirklich erholt haben sich die FDP und ihr Vorsitzender vom Katzenjammer der Herbst- und Wintermonate 2002/2003 bis heute nicht.

Was hat es mit Guido Westerwelle auf sich, der einige Zeit lang das Fernsehpublikum der Nation, aber auch Teile des jung-neoliberalen Bürgertums der Republik in seinen Bann zu ziehen vermochte? Was zeichnet das Phänomen Westerwelle aus? Wieso wurde er in den 1990er Jahren zum Heilsbringer in der altliberalen FDP? Und ist es da-mit unwiderruflich vorbei? Muss Westerwelle, muss die FDP insgesamt sich „neu erfinden”, wie es in den üblichen journalistischen Kommentaren gerne heißt? Versuchen wir eine Zwischenbilanz der Ära Westerwelle und ihrer Bedeutung für die Geschichte des bundesdeutschen Liberalismus.

Der Aufstieg eines ewig jungen Funktionärs

Ohne Zweifel war Westerwelle, als die Freien Demokraten ihn 1994 für das Generalsekretariat aussuchten, nach Jahren einer höchst mittelmäßigen Führungsgarnitur das erste große Talent an der Spitze der Freien Demokratischen Partei. Mehr noch: Von seiner Sorte hatte es in der Historie der Liberalen nie besonders viele Exemplare gegeben. Denn Westerwelle war ehrgeizig. Er strebte alsbald auch den Vorsitz seiner Partei an und musste nicht zum Jagen getragen werden — im Unterschied zu etlichen seiner Vorgänger von Reinhold Maier (1957-1960) über Walter Scheel (1968-1974) bis Klaus Kinkel (1993-1995). Er brannte auf die Führung seiner Partei. Überdies trug er in sich eine politische Mission: In den 1980er und 1990er Jahren sah er sich als Neuerer des Liberalismus und fühlte sich in diesen beiden Jahrzehnten als Beauftragter und Repräsentant eines zukünftigen Generations- und Lebensgefühls. Westerwelle hatte seinerzeit ein klares und schroffes Feindbild: alle 68er und Grün-Alternativen. Das gab seinem eigenen Modell die kontrastreiche Abgrenzungsschärfe. Er war ein aggressiver Versammlungsredner, der seine Zuhörer, soweit sie ihm zustimmend folgten, agitatorisch, mit lauter Stimme und schneidigen Stakkato-Sätzen mitreißen konnte. Viele Gestalten dieses Kalibers hatte der oft honoratiorenhaft behäbige Liberalismus in Deutschland nicht hervorgebracht. Dort überwog der Typus des behäbigen Zigarrenrauchers wie Theodor Heuss, des farblosen Kanzlerbewunderers wie Franz Blücher (1949-1957 Vizekanzler unter Adenauer), des schwäbischen Regionalpatrioten wie Reinhold Maier, des beflissenen Mittelmaßopportunisten wie Erich Mende (FDP-Vorsitzender 1960-1968); des unpolitischen Beamten wie Klaus Kinkel, des unauffälligen Studienrats wie — unmittelbar vor Westerwelle — Wolfgang Gerhardt (Parteivorsitzender 1995-2001).

Im Grunde aber war Westerwelle ein geradezu klassischer Parteipolitiker. Im öffentlichen Bewusstsein firmierte Westerwelle zwar als der moderne Typus des Medien-und Eventpolitikers. Aber das war nicht seine primäre Ressource, nicht die Voraussetzung seines Aufstiegs. Westerwelle hatte die Ochsentour absolviert (vgl. Lütjen/Walter 2002: 390ff.; Walter 2001: 22ff.). Er glich darin weitaus stärker den 011enhauers, Kohls, auch Scharpings der Parteiendemokratie als den nachvolksparteilichen europäischen Eventpopulisten. Westerwelle gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Jungliberalen. In deren Bundesvorstand wurde er Anfang der 1980er Jahre Pressereferent, von 1983 bis 1988 dann Vorsitzender. Als Chef der liberalen Jugendorganisation nahm er schon als blutjunger Mensch an den Sitzungen des FDP-Bundesvorstandes teil. Vorteilhaft für ihn war überdies seine Bonner Herkunft und Ansässigkeit. Da er die Bundeshauptstadt auch während des Studiums niemals verließ, konnte er früh schon intensive Kontakte zur Bundespartei, zur Bundestagsfraktion, auch zu jungen Journalisten knüpfen, die für sein weiteres Fortkommen nützlich waren. Und es ging immer rasch voran. Der 1961 geborene Westerwelle war der jüngste Vorsitzende, den eine der großen Jugendorganisationen je besessen hatte. Westerwelle wurde 1994 zum jüngsten Generalsekretär, den eine im Bundestag vertretene Partei je bestellt hatte. Und 2001 avancierte Westerwelle zum jüngsten Parteivorsitzenden, den die Republik an der Spitze einer der alt etablierten Parteiorganisationen jemals gesehen hatte.

Zwischen Avantgarde und Minderheit: Das Projekt einer liberalen Identi­täts­partei

Schon dieser schnelle Aufstieg zeigte die ungewöhnliche Energie Westerwelles. Westerwelle war zwar den klassischen Weg durch die Parteiinstitutionen gegangen, aber er Begriff sich nicht als Exekutivbeamter der vorgegebenen Parteimentalität. Westerwelle war zweifellos ein Anführer, der der Organisation, welcher er vorstand, auch seinen Willen aufzwingen wollte. Dazu brauchte man eine Idee von dem, wohin es zu gehen hatte. Über eine solche Leitvorstellung verfügte Westerwelle — apodiktisch fast, gleichsam missionarisch. Westerwelle strebte — wie er es nannte — die „liberale Identitätspartei” an, die um ihrer selbst willen gewählt werden sollte. Sein Jugendtrauma war die FDP, die sich lediglich als Koalitionsannexe definierte, als Funktionspartei und mehrheitsvermittelnde Kraft für eine der beiden Volksparteien. Einer solchen freidemokratischen Partei fehlte ein eigenes, sich selbst tragendes Selbstbewusstsein. Dieses Manko hatte er 1982-1984 in den prägenden Jahren seiner politischen Sozialisation während des liberalen Koalitionswechsels von der SPD hin zur Union erlebt. Einer solchen Partei drohte Zerfall und das politisch-parlamentarische Aus (vgl. Berg 1984: 62; Casdorff 1986). Die eigenständige liberale Identitätspartei im gleichen Abstand zur Union und zur Sozialdemokratie wurde infolgedessen für zwei Jahrzehnte zum visionären Projekt des Guido Westerwelle; daran hielt er verbissen und trotz aller Rückschläge unbeirrt fest.

Seine Kraft und sein Selbstbewusstsein zog er dabei aus einer ambivalenten Erfahrungsstruktur. Westerwelle fühlte sich als Avantgardist einer neuen Generation — das beflügelte ihn. Doch zugleich war er im wirklichen Leben in seiner eigenen Kohorte ein fast isolierter Minderheitenvertreter — das stählte seinen Behauptungswillen. Westerwelle spürte früh, schon zu Beginn der 1980er Jahre, dass sich die Kultur der 68er und der alternativen Bewegungen dem Ende zuneigte, dass ein neuer Habitus, neue Normen und Einstellungen allmählich bei den Jungen entstanden. Doch seine eigene Kohorte fand sich noch in den Neuen Sozialen Bewegungen wieder. Als Westerwelle 16 Jahre alt war, identifizierten sich die meisten der gleichaltrigen Jugendlichen mit den Protesten gegen die Atomkraft; als Westerwelle 20 Jahre alt wurde, marschierte seine Kohorte in Sternmärschen und Großdemonstrationen gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen. Die „Generation Westerwelle”, von der hernach im politischen Feuilleton der Montagsmagazine und Donnerstags-illustrierten die Rede war, wurde nie zum Nukleus der traditionellen oder neoliberalen FDP; sie bildet bis heute die Kernwählerschaft der „Grünen”. Aber in dieser Kohorte musste Westerwelle politisch argumentativ und persönlich kulturell tagtäglich bestehen. Das schärfte zweifellos seine Diskursfähigkeit, verlieh ihm Biss, Witz und Ehrgeiz.

Der Niedergang durch einen dogmatisch verengten Libera­lismus

Doch Minderheitenmenschen neigen oftmals zur Intransigenz. Dogmatische Züge jedenfalls waren bei Westerwelle unverkennbar. Und in seiner Zeit als Generalsekretär übertrug sich ein Teil des Dogmatismus auch auf die Programmatik und Strategie der FDP insgesamt. Die Partei verengte sich auf wenige Themen, im Grunde vor allem auf das eine immer gleiche Postulat nach kräftiger Steuersenkung. Und sie verengte sich auf eine einzige Zielgruppe: die moderne, mobile, flexible Schicht der jungen Erfolgreichen im wachsenden Sektor einer neuen Ökonomie. Das war für Westerwelle die Gruppe der Zukunft. Mit ihr im Bunde zu stehen, musste irgendwann auch für die FDP hohe Prämien abwerfen.

Mit diesem Versprechen lockte Westerwelle jedenfalls Parteitag für Parteitag die klassischen Honoratioren, die sehnsüchtig auf bessere Zeiten hofften. Westerwelle war der Prophet einer leuchtenden Zukunft – und die Freien Demokraten folgten ihm durch die Wüste nahezu unaufhörlicher Wahlniederlagen. Westerwelle predigte den Aufstieg, aber die FDP fiel in den 1990er Jahren, in der Ära seines Generalsekretariats, immer tiefer. Sie war in mehreren Ländern nicht einmal mehr dritte oder vierte politische Kraft, sondern landete weit abgeschlagen auf dem fünften oder gar sechsten Rang im Parteienwettbewerb (vgl. Walter 2002: 145ff.). Die FDP hatte es im Grunde häufig erlebt, von Dehler bis Lambsdorff: Ihr nutzten vorne nicht diejenigen mit scharfem Profil und unmissverständlicher Eindeutigkeit. Thomas Dehler, 1954 bis 1957 Parteivorsitzender, hatte Mitte der 1950er Jahre mit seinem maßlosen deutschlandpolitischen Fundamentalismus die Bundesregierung gesprengt und die FDP gespalten. Lambsdorff, Wirtschaftsminister von 1977 bis 1984 und von 1988 bis 1993 Parteivorsitzender, hatte mit seinem permanenten rhetorischen marktwirtschaftlichen Rigorismus den Kompromisscharakter der bürgerlichen Koalitionspolitik und seiner eigenen Partei diskreditiert. Auch Westerwelle stand in dieser Linie. Er trat regelmäßig mit forschen Unbedingtheiten an die Öffentlichkeit, forderte apodiktisch die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, das verfassungsrechtliche Verbot staatlicher Verschuldung und dergleichen mehr. Nichts davon war unter Koalitionsbedingungen in komplexen Gesellschaften ernsthaft durchzusetzen. Das Ergebnis langer Verhandlungen wirkte vor der Folie der Westerwelleschen Radikalität stets fade, kleinlich, gering. Die FDP wurde so die Partei, die regelmäßig als Tiger sprang und stets als Bettvorleger landete – so nahm es die Öffentlichkeit wahr. Zugleich kompromittierte die Methode Westerwelles das Kabinett der späten Kohl-Jahre insgesamt. Je ungeduldiger Westerwelle die Reformpauke schlug, desto stagnierender wirkte die Bundesregierung mit den Ministern der FDP. Auf diese Weise dürfte Westerwelle einen Teil der Wähler in die Arme der SPD getrieben haben. Diejenigen, die Angst vor dem neoliberalen Veränderungsfurore bekamen, zeigten sich für die Schutzversprechungen von Oskar Lafontaine empfänglich. Diejenigen, die sich am Reformstau störten, den auch Westerwelle ständig zum Thema machte, versuchten es 1998 mit Schröder. Zusammen ergab das eine klare Mehrheit für den Regierungswechsel; die Freien Demokraten verloren ihre Kabinettsposten.

Vom Rausch der Tabubrüche zur erschöpften Normalität

Doch mit der „putzmunteren Opposition”, die Guido Westerwelle daraufhin versprach, wurde es ebenfalls nichts. Die Europawahlen 1999 wollte er zur Protestwahl der gesellschaftlichen Mitte und ihrer Partei – der FDP also – machen. Auch das ging daneben: Die Freien Demokraten scheiterten abermals an der 5-Prozent-Hürde. Die Wende zum Besseren für die Liberalen kam ohne Zutun von Westerwelle half vor allem die Krise der CDU in der Spendenaffäre 1999/2000. Hier absorbierte die FDP enttäuschte CDU-Wähler und vermehrte dadurch ihr Elektorat. Dann erfand Jürgen Möllemann überdies das „Projekt 18”, ersann die Installation eines Kanzlerkandidaten, kreierte die „Partei für das ganze Volk”. Westerwelle, dessen eigenes Projekt von der radikal neoliberalen Partei des neu ökonomischen Jungbürgertums 1999 endgültig und ziemlich kläglich gescheitert war, sprang auf den Zug auf, ließ sich zum Kanzlerkandidaten küren (Carstens 2002). Wie im Rausch folgten er und die Freien Demokraten insgesamt über Monate den verwegenen Aussichten auf ganz neue Größendimensionen des Wählerzuspruchs. Auch die Politik des Tabubruchs und der Provokation, die Möllemann lustvoll praktizierte, wurde von Westerwelle und dem größten Teil seiner Partei begeistert mitgetragen. Erst die mit antisemitischen Ressentiments kalkulierenden Aus-fälle Möllemanns und der bescheidene Ausgang der Bundestagswahl 2002 ernüchterten die FDP, schockierten und zügelten den Parteivorsitzenden.

Die FDP hatte sich mit dieser Bundestagswahl wirklich verändert; ihre Wählerschaft war proletarischer, männlicher, jünger, östlicher geworden (Walter 2004: 32ff.). Doch wurden die altliberalen Parteihonoratioren des ungewohnten Zuwachses nicht sonderlich froh. Sie fürchteten nun um die bürgerliche Seriosität ihrer Partei. Von der Politik des Tabubruchs ließen sie nun scheu die einmal schon verbrannten Hände, auch der. Parteivorsitzende. Eine solche Politik trug zwingend die innere Dynamik des Extremismus in sich. Denn immer musste die jeweils nächste Provokation noch ein Stück härter, unverschämter, frivoler ausfallen, damit sie überhaupt wirken konnte. Das aber entgrenzte und enthemmte Politik, radikalisierte sie tendenziell. Dafür taugten die freidemokratischen Honoratioren dann doch nicht. Bestürzt sahen sie, dass dergleichen schließlich tödlich ausgehen konnte. Erschrocken, erschöpft, ja um Jahre gealtert war vor allem der Vorsitzende der Partei, Guido Westerwelle (Carstens 2003). Bis in den Sommer 2003 hinein wirkte die im Jahr zuvor noch wie aufgedreht agierende FDP, wirkte auch ihr Parteichef gelähmt, apathisch am Rande des politischen Geschehens stehend (Riehl-Heyse 2002).

Alsbald ließen sich im Winter 2002/2003 auch erste Stimmen vernehmen, die den Vorsitzenden zur Disposition stellten – in der FDP galt Loyalität zum jeweiligen Vorsitzenden nie besonders viel (Neubacher/Palmer 2002). Aber ein Chor wurde daraus nicht. Die FDP war in diesen Monaten insgesamt zu sehr ermattet, erschüttert, verwirrt, um zielstrebig über Führung und Richtung zu debattieren, gar einen Aufstand gegen die Parteispitze entfesseln zu können. Im übrigen: Fast alle hatten ja mitgemacht, hatten sich wie im Fieberwahn von den populistischen Sirenengesängen des „Projekts 18” betören und hinreißen lassen. Insofern waren die Freien Demokraten unten und ihr Vorsitzender oben gleichsam in einer kollektiven Irrtumsgemeinschaft zusammengekettet. Nun sind harte Proben, schwere Herausforderungen, selbst schlimme Niederlagen nicht nur schädlich für politische Anführer. Sie können daraus lernen, daran wachsen, da-durch reifen. Westerwelle jedenfalls veränderte sich. Er machte nun nicht jede juvenile Albernheit mehr mit, nur um auf den Bildschirmen in den Wohnzimmern der Nation aufzutauchen. Er stellte sich nicht mehr vor jedes Mikrophon, machte sich in der Medienwelt auffällig rar — und wurde dadurch auch wieder ein wenig interessanter. Seine politischen Maximen klangen ebenfalls nicht mehr so dröhnend. Die Botschaft war bescheidener geworden, wieder näher an die alte FDP herangerückt. Westerwelle wies seiner Partei moderat die Rolle des „Scharniers der Vernunft” zu, rückte sie stärker und prinzipieller in das bürgerliche Lager (Jaklin 2003). So ging es ein Stück zurück zu Hans-Dietrich Genscher, den er eigentlich ein für allemal hinter sich lassen wollte. Immerhin: Die FDP kam zur Ruhe, fasste bei Wahlen wieder Tritt, sicherte ihre parlamentarischen Positionen auch in den Ländern. Die Freien Demokraten hatten ohne Zweifel schon schlechtere Zeiten gesehen (Carstens 2004).

Die prekäre Lage eines Führers ohne Gefolg­schaft

Insofern könnte Westerwelle ä la longue auch gestärkt aus der Krise des Eventpopulismus hervorgehen. Sicher ist das jedoch nicht. Mitunter wirkt Westerwelle so, als glaube er selbst nicht mehr an die Überzeugungskraft seiner politischen Vorschläge. Es ist, so scheint es, viel kaputt gegangen, auch in ihm selbst. Ein dafür typisches Indiz: Den wichtigsten Ministerposten, den die Freien Demokraten gouvernemental anzustreben pflegen, die Leitung des Auswärtigen Amts, hat er nicht mehr im Visier, weil es ihm die früheren Granden in dieser Position — Scheel, Genscher, Kinkel — nicht zutrauen und dies auch laut kundtun (Bornhöft u.a. 2004). Es stellt sich die Frage: Wie krisenresistent ist Westerwelle? Er war nie der Typus, der beim abendlichen Bier politische Freundschaften schließen und innerparteiliche Mehrheitsbündnisse schmieden konnte. Auch gesellig durch Landesverbände und Ortsgruppen zu tingeln, war nie sein Fall. Emotional verbundene Netzwerke und Seilschaften fehlen ihm also (Friedebold 2003). Selbst der Unterstützung der Jungliberalen kann er sich nicht mehr selbstverständlich sicher sein (Deutschländer 2003). Anders denkende Berater erträgt er schwer (Schmiese 2003).

Sein größtes Plus ist gewiss die Konkurrenzlosigkeit. Möllemann ist nicht mehr da, Walter Döring hat sich in Baden-Württemberg selbst vom Spielfeld geworfen. Und die „Generation Westerwelle” hat es eben in der FDP nie wirklich gegeben. Westerwelle war immer der Avantgardist ohne Gefolgschaft — er ist dadurch aber auch ohne Rivalen innerhalb seiner Altersgruppe geblieben. Das mag ihn vor Herausforderern schützen. Doch sicher darf sich ein Chef der Liberalen niemals fühlen: Viel Geduld, das lehrt die Geschichte der FDP, haben die liberalen Individualisten ihren Vorsitzenden gegenüber nie gezeigt. Hier waren und sind sie immer besonders leistungsorientiert: Bleibt der Erfolg aus und klappt es mit dem Regierungswechsel 2006 wieder nicht, so wird sich der Daumen des deutschen Bürgertums über Guido Westerwelle senken.

* Der Beitrag beruht auf einer Studie des Autors über die Parteivorsitzenden der FDP nach 1945. Sie erscheint im Frühjahr 2005 in: Daniela Forkmann/Michael Schlieben (Hg.): Parteivorsitzende nach 1945 (VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden).

Literatur

Berg, Rainer 1984: Kritisch, aber solidarisch; in: Neue Bonner Depesche 1/1984
Bornhöft, Petra u.a. 2004: Merkels Dominotheorie; in: Der Spiegel Nr. 21, 17. Mai, S. 22-24 Casdorff, Stephan A. 1986: Laute Kritik der „Julis”; in: Bonner Rundschau, 12. März
Carstens, Peter 2002: Das Ende einer politischen Allianz; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Oktober
Carstens, Peter 2004: Lautstarke Bescheidenheit; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September Carstens, Peter 2003: Dämpfer in der Windstille; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai
Deutschländer, Sandra 2003: Guido Westerwelle fällt bei Jungen Liberalen in Ungnade; in: Financial Times Deutschland, 20. Oktober
Friedebold, Fritz 2003: Liberale lest die Papiere; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. November
Jaklin, Philipp 2003: Liberale Masochisten; in: Financial Times Deutschland, 31, Oktober Lösche, Peter/Walter, Franz 1996: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt
Lütjen, Torben/4Valter, Franz 2002: Medienkarriere in der Spaßgesellschaft? Guido Westerwelle und
Jürgen W. Möllemann; in: Alemann, Ulrich von/Marschall, Stefan (Hg.): Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden, S. 390-419
Neubacher, Alexander/Palmer, Hartmut 2002: Von Parteifreunden umzingelt; in: Der Spiegel, Nr. 46, 11. November, 5.176-177
Riehl-Heyse, Herbert 2002: Herumrudern im Tal der Tränen; in: Süddeutsche Zeitung, 20. Oktober
Schmiese, Wulf 2003: Wut in der Champagner-Etage; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5. Oktober
Walter, Franz 2001: Westerwelle – oder die Sendung des Alleinunterhalters; in: Berliner Republik, 3. Jg., H.2, S. 22-26
Walter, Franz 2002: Politik in Zeiten der neuen Mitte, Frankfurt/Main
Walter, Franz 2004: Zurück zum alten Bürgertum: CDU/CSU und FDP; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40, 27. September, S. 32-38

nach oben