Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Demokratie, ernst­ge­nommen

Neuere staatsrechtliche Literatur über Chancen und Risiken demokratischer Systeme

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), S. 110-112

„Unsere Demokratie” wirke, so schrieb kürzlich der Wirtschaftsrechtler Fritz Rittner, „recht bizarr wie ein verwinkelter, unberechenbar schwankender und ständig bedrohter Bau in chaotischer Zeit oder vielleicht genauer: wie ein ziemlich wüster Organismus, den keiner beherrscht und kaum einer versteht und der trotzdem – ähnlich wie der menschliche Körper – bisher einigermaßen befriedigend arbeitet, freilich permanent in Gefahr” (Rittner 2003: 646). Aber arbeitet dieser „Organismus” denn wirklich (noch) in befriedigender Weise? Immerhin haben die anhaltende Wirtschafts und Haushaltskrise der Bundesrepublik und die Parteispendenskandale einen längerfristigen Trend weiter verstärkt: Das Vertrauen der Bevölkerung in die parlamentarisch-demokratischen Institutionen schwindet, insbesondere in die großen „Volksparteien”. Die geringe Beteiligung an Parlaments- und Kommunalwahlen in Deutschland lässt sich inzwischen keineswegs mehr als ostdeutsche Besonderheit abtun: So stützte sich der von den Medien als „triumphal” dargestellte Wahlsieg der CSU bei der Landtagswahl im September 2003 nur auf die Stimmen von 34 Prozent aller Wahlberechtigten (was die Schwäche der SPD als Oppositionskraft freilich nicht in ein besseres Licht rückt).

Diese Entwicklung lässt sich nun entweder aus der Sicht der parlamentarischen Akteure selbst oder diverser Elitetheorien im Gefolge.. Schumpeters als zeitgemäße „Normalität” (vergleichbar der Beteiligung an den Präsidentenwahlen in den USA) schönreden. Sie kann aber auch mit Mängeln des heutigen parlamentarischen Institutionensystems erklärt und mit Forderungen nach sinnvollen Änderungen an diesem System verknüpft werden. Den letzteren Weg beschreitet der in Speyer lehrende Staatsrechtler
Hans Herbert von Arnim: Das System.

Die Machenschaften der Macht, Droemersche Verlagsanstalt: München 2001, 440 S., ISBN 3-426-27222-9; 22,90 Euro
Von Arnim legt hier – zum wiederholten Mal nach einigen anderen, ebenfalls „populärwissenschaftlich” angelegten Publikationen – eine schonungslose und häufig auch treffsichere Diagnose der Schwachstellen des gegenwärtigen parlamentarischen Regierungssystems vor. Die augenblickliche Verfasstheit dieses Systems, so seine These, fördere die Orientierung der Berufspolitiker vorrangig am Eigennutz statt am lauthals postulierten Gemeinwohl. Die wesentliche Erklärung hierfür sieht er in der Tatsache, dass „die Spieler und diejenigen, die die Spielregeln festsetzen, dieselben sind. Wie sollen sie dann aber bei Festlegung der Spielregeln ihre Eigeninteressen unterdrücken können?“ (23). Diese Kritik ist nicht etwa auf eine bestimmte Partei gemünzt, sondern trifft die gesamte „politische Klasse” und damit auch Gruppierungen, die ursprünglich mit dem Ziel einer Änderung dieser Mechanismen der Selbstbegünstigung angetreten sind: „Wie selbst die Führungen ehemals ,alternativer` Parteien notfalls ihre Prinzipien verleugnen, um an Macht und Posten zu kommen (und zu bleiben), haben in den vergangenen Jahren die Grünen besonders eindrucksvoll vorexerziert” (36).

Das Verdienst der Untersuchung von Arnims besteht darin, die Problematik nicht auf der Ebene wohlfeiler, moralisch begründeter Anklagen gegen einzelne Akteure abzuhandeln, sondern den Finger auf einige strukturelle, rechtlich institutionalisierte Schwächen des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik zu legen. Das Spektrum reicht dabei von den (immer wieder veränderten) Regelungen und Praktiken der Parteienfinanzierung über die Verzerrung der Chancengleichheit durch ein entsprechend zurecht geschneidertes Wahlrecht bis zur parteipolitischen Ämterpatronage bei der Besetzung von Führungspositionen in den Verwaltungen und der Absicherung politischer Konformität bei der Auswahl der Verfassungsrichter. Betrachtet werden auch die Mechanismen der Einflussnahme auf Medien und Wissenschaft, wodurch das System sich „seine eigene Wahrheit” schafft (230). So beschreibt von Arnim, warum in den Staats- und Politikwissenschaften, denen das Grundgesetz doch die Freiheit von Forschung und Lehre garantiert, der Hang zur Affirmation der bestehenden Machtverhältnisse so stark ausgeprägt ist: Die Verteidigung des politischen und wissenschaftlichen Status quo verschaffe den Wissenschaftlern eben Vorteile in Beruf und Status sowie sonstige Belohnungen. „Was berechtigt uns zu der Hoffnung, bei uns gäbe es keinen Opportunismus in der Wissenschaft?” (239).
Das Buch ist flott geschrieben, die Materie kenntnisreich und verständlich aufbereitet, auch wenn manches mehrfach wiederholt wird und manche Beispiele zu sehr nach Stammtisch klingen (so die Klage, dass eine „Hilfsschullehrerin” Innenministerin wurde: 39), was der Verfasser nicht nötig hätte.

Der Vorwurf, die von Arnim’sche Kritik am Parlamentarismus sei populistisch und würde sich auf den Bahnen reaktionärer Demokratiekritik in der Tradition Carl Schmitts bewegen, ginge allerdings fehl. Das Anliegen des Autors ist es keineswegs, an die Stelle eines dysfunktionalen Parlamentarismus die Herrschaft einer Elite oder des viel zitierten „starken Mannes” zu setzen, sondern die Demokratie durch institutionelle Veränderungen zu stärken. Sein Plädoyer für die Ausweitung plebiszitärer Beteiligungsformen verdient deshalb uneingeschränkte Zustimmung. Gleiches gilt für den Vorschlag einer Veränderung des Wahlrechts durch die Zulassung des Kumulierens und Panaschierens seitens der Wahlberechtigten, wodurch das System der starren Parteilisten aufgelöst würde. Das Votum für die Einführung der Mehrheitswahl anstelle der „minderheitenfreundlichen” Verhältniswahl (347ff.) ist allerdings bedenklich. Auch die Ambivalenz der vom Autor vorgeschlagenen Direktwahl der Ministerpräsidenten wird zu wenig deutlich: Einerseits wäre dies eine Stärkung demokratischer Einwirkungsmöglichkeiten, andererseits würden durch solche Personalplebiszite noch mehr mediale Bühnen für geschickte Selbstdarsteller geschaffen und, anders als bei Sachplebisziten, die Entpolitisierung der Öffentlichkeit weiter vorangetrieben.

Das gewichtigste Manko der Darstellung von Arnims besteht allerdings in der Ausblendung der gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehungen, in denen sich die politische Klasse bewegt. Ein anderer, wenn auch weniger bekannter Fachkollege ist da weit scharfsichtiger: Eindringlich beschreibt der inzwischen emeritierte Konstanzer Staatsrechtler Ekkehart Stein im Lehrbuch Staatsrecht das Problem:

In der Politik geht es „in erster Linie um Konflikte zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen mit gegensätzlichen Interessen. In welchem Maß aber eine Gesellschaftsgruppe ihre Interessen durchsetzen kann, ist nicht nur eine Frage der Überzeugungskraft auf Grund geistiger Argumente, sondern eine Frage der gesellschaftlichen Macht [.,.]. Die größte und gefährlichste Machtkonzentration der Gesellschaft besteht in der Wirtschaft. Es bedarf keiner weiteren Begründung, in welchem Ausmaß die staatliche Willensbildung durch den Einfluss des Kapitals geprägt wird. Daher kommt der Demokratisierung der Wirtschaft vorrangige Bedeutung zu” (Stein/Frank 2004: 60/61). Davon mag der gegenwärtig herrschende Zeitgeist freilich nichts wissen. Wer heute (noch) solche Thesen vertritt, sei es als Wissenschaftler oder als Gewerkschaftsführer, wird als „Traditionalist” diskreditiert. Modische Vokabeln wie „outputorientierte Legitimation” oder „lose Kopplungen verschiedener Arenen” bestimmen heute das Feld des politikwissenschaftlichen Diskurses über die Demokratie-frage und lassen das Problem gesellschaftlicher Herrschaft hinter einem Nebelvorhang verschwinden.

Da macht der Titel der Festschrift für Ekkehart Stein, die zwei seiner Schüler herausgegeben haben, besonders neugierig:

Heiko Faber/Götz Frank (Hg.): Demokratie in Staat und Wirtschaft. Festschrift für Ekkehart Stein zum 70. Geburtstag, Mohr Siebeck: Tübingen 2002, 434 S., ISBN 3-16-147910-6; 149,- Euro

Um das Ergebnis der Lektüre vorweg zu nehmen: Nur einige wenige Beiträge des Sammelbandes beziehen sich auf die Thematik des Titels. Das darin liegende Versprechen, sich mit einem der zentralen Aspekte im wissenschaftlichen Werk des Jubilars in aktueller Perspektive zu beschäftigen, wird von den meisten der Artikel hingegen kaum eingelöst. Immerhin skizziert Ingo Richter (163ff.) den Demokratiebegriff Steins und konstatiert richtig, dass dieser mit seinem Postulat einer Demokratisierung der Gesellschaft der „herrschenden Meinung” in der Rechtswissenschaft diametral gegenüber steht. Sodann präsentiert Richter das Ergebnis empirischer Jugendforschung, dass die Jugendlichen den Institutionen der repräsentativen Demokratie überwiegend ablehnend gegenüber stehen. Daraus ließe sich jedoch keineswegs ein generelles Desinteresse an politischen Fragen ableiten. Vielmehr favorisierten Jugendliche Formen plebiszitärer Demokratie und „direkte Aktionen”; ihr Verständnis von Demokratie würde den Positionen Ekkehart Steins näher kommen als der „herrschenden Meinung”. Zwar könnten, so schließt Richter seinen Beitrag ab, Meinungsumfragen keine Grundlage für die Auslegung des Gesetzes sein. Das Grundgesetz weise aber „durch eine reflexive Auslegung seines Demokratiebegriffes selber einen Weg zur Berücksichtigung der jugendlichen Einstellung zur Demokratie”.

In deutlichem Gegensatz hierzu verteidigt Dirk Ehlers unter dem — für Unkundige missverständlichen — Titel Die Staatsgewalt in
Ketten (125ff.) die restriktive Demokratieauffassung des Bundesverfassungsgerichts. Da-nach ist zum Einen der in Art. 20 GG gemeinte demokratische Souverän nur das deutsche Volk als Gesamtheit aller deutschen Staatsangehörigen, weshalb die Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer in Hamburg und Schleswig-Holstein im Jahre 1990 für verfassungswidrig erklärt wurde (was nach Abschluss des Maastricht-Vertrages den Gesetzgeber aber nicht daran hinderte, schon Ende 1992 durch eine Änderung des Art. 28 Grundgesetz das Kommunalwahlrecht auch für EG-Ausländer einzuführen). Zum Zweiten wird der Anspruch des Demokratiegebotes auf die Wahrung der sogenannten „Legitimationskette” bis hinunter zur untersten Ebene staatlicher Verwaltung verkürzt und auf der Grundlage dieses höchst fragwürdigen Konstrukts die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst beschnitten. Gleichwohl feiert Ehlers die Legitimationskettentheorie als „herausragenden Erfolg des demokratischen Rechtsstaats”, was der Intention des Jubilars wohl kaum entsprechen dürfte.

Dieter Sterzel hingegen bemüht sich in seinem Beitrag Mitbestimmung als Verfassungsauftrag (215ff.) um eine Fortentwicklung des Stein’schen Ansatzes. Er versucht, zugunsten des Postulats einer auch den wirtschaftlichen Bereich umfassenden Demokratisierung die grundrechtliche Ebene fruchtbar zu machen: Der in den Grundrechten verankerte Freiheitsanspruch des Einzelnen müsse, so Sterzel, „im Lichte der Sozialstaatsklausel auch dort zur Geltung gebracht werden, wo als Folge wirtschaftlicher Ungleichgewichts lagen und daraus sich ergebender sozialer Abhängigkeit die Bedingungen freier Selbstverwirklichung nicht gegeben sind und die Chance der Selbstverwirklichung des Individuums deshalb nicht gewährleistet ist”. Daraus leitet der Autor die grundrechtlich fundierte Pflicht des Staates ab, im Rahmen der Gesetzgebung zur Betriebsverfassung entsprechende Mitbestimmungsregelungen zugunsten der abhängig Beschäftigten zu gewährleisten.

Auch Wolfgang Piepenstock behandelt die ökonomische Situation der Bevölkerung aus menschenrechtlicher Perspektive, und zwar unter dem ansonsten häufig vernachlässigten Gesichtspunkt der internationalen Sozialrechte (377ff.). Er untersucht insbesondere den Normcharakter des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 und stellt richtig fest, dass diesem trotz seines begrenzten Durchsetzungsinstrumentariums Rechtsverbindlichkeit für die Bundesrepublik und ihre Regierung zukommt. Dargestellt werden sowohl die Außenverpflichtungen des Staates (wenn z.B. unter Beteiligung deutscher Unternehmen in Drittländern unter Missachtung des Paktes produziert wird) als auch die Probleme, die sich aus dem Rückzug des Staates und die „Deregulierung” der Wirtschaft für die Durchsetzung dieser Menschenrechte ergeben. Der Beitrag schließt mit der Aufforderung, nach Strukturen zu fragen, die geeignet sind, eine Durchsetzung der Sozialrechte zu fördern. Diese Aufforderung dürfte derzeit bei den politischen Parteien durchweg auf taube Ohren stoßen, ist aber wohl auch eher an NGOs wie z.B. Attac adressiert.

Andere Beiträge des Sammelbandes bieten, für sich genommen, durchaus interessante Lektüre (so der Artikel von Erhard Denninger zur Problematik der Schleierfahndung oder von Christian Grimm zur Gleichstellung der Frauen hinsichtlich des Waffendienstes bei der Bundeswehr), der Bezug zum Titel des Werkes wird dabei jedoch nicht erkennbar. So drängt sich denn auch hier wie bei vielen anderen Festschriften der Eindruck auf, etliche der Autoren und Autorinnen – über deren Beruf und Wirkungsort der Band leider nichts verrät – hätten einfach in ihre Schubladen gegriffen oder auf ihr Dateieinverzeichnis geklickt, statt sich der Herausforderung zu stellen, etwas Neues zum Demokratieproblem zu erarbeiten. Recht gründlich behandelt wird dagegen ein demokratietheoretischer Aspekt in der Habilitationsschrift eines jüngeren Juristen, der inzwischen an der Universität Bielefeld lehrt:

Andreas Fisahn: Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, Mohr Siebeck: Tübingen 2002, 396 5., ISBN 3-16-147781-2; 89 Euro
Am Anfang steht die berechtigte Verwunderung des unbefangenen Wissenschaftlers: Fisahn äußert sein Befremden über die Tatsache, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungsprozessen der Verwaltung von der heutigen rechtswissenschaftlichen Literatur keineswegs der demokratischen Willensbildung zugeordnet, sondern überwiegend mit Effektivität und Akzeptanzgesichtspunkten begründet wird. Angesichts dieses Befundes möchte der Autor , juristische Archäologie“ betreiben, indem er versucht, die „verschüttete bzw. weg gedrängte demokratische Dimension” der Öffentlichkeitsbeteiligung zu Tage zu fördern (7). Dies gelingt ihm durch die weit ausgreifende Darstellung von Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung in der jüngeren deutschen Verwaltungsgeschichte. Unter der erklärenden Überschrift Dezentrale Beteiligung als Kompensation für die verspätete Demokratie in Deutschland spannt er den Bogen vom Mühlen- und Wasserrecht im Preußischen Allgemeinen Landrecht bis zur Eisenbahn- und Enteignungsgesetzgebung des 19. Jahrhunderts, um sodann den Funktionswandel der Beteiligungsrechte im Kontext autoritärer Vergemeinschaftung zu schildern.

Vor dem breit dargestellten Hintergrund der historischen Entwicklung beschreibt Fisahn ausführlich die Gesetzgebung und die fachwissenschaftliche Diskussion um Beteiligungsrechte an Verwaltungsverfahren in der Bundesrepublik, wobei das Spektrum von den verschiedenen Planfeststellungsverfahren bis zum Abfall-, Immissionsschutz- und Naturschutzrecht reicht. Diese Untersuchung mündet in die Kritik, dass die Beteiligungsrechte durch die Beschleunigungsgesetzgebung der 1990er Jahre sogar hinter den im Kaiserreich erreichten Stand zurückgefallen seien (8, 278ff.). Statt nun nach einer sozialwissenschaftlichen Erklärung für diese aktuelle Entwicklung zu suchen, beschäftigt sich Fisahn im Abschlussteil seiner Arbeit mit den unterschiedlichen Konzeptionen von Demokratie. Er konstatiert, dass das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen noch von einem offenen, die Rückkoppelung zwischen Staatsorganen und Volk betonenden Demokratiemodell ausging, in jüngerer Zeit hingegen hierarchische Demokratievorstellungen in der Art der (oben erwähnten) „Legitimationskettentheorie” favorisiert. In Auseinandersetzung mit diesem – in der Tat uneinheitlichen – Demokratieverständnis entwickelt der Autor seinen eigenen Ansatz: Das Verfassungsgebot der freien und gleichen demokratischen Teilhabe sei gleichzeitig als strikte normative Regel so-wie als Prinzip im Sinne eines Optimierungsgebotes zu denken und ziele auf die „Aufhebung der Besonderung des Staates” (332). Das demokratische Prinzip verlange „die freie und gleiche Beteiligung derjenigen, auf deren Leben sich die Entscheidungen auswirken können”. Nicht vereinbar mit einer solchen Anerkennung gleicher Selbstbestimmungsrechte sei indessen „ein ungleicher Einfluss auf staatliche Entscheidungen, der sich aus besonderen wirtschaftlich/sozialen Stellungen oder rechtlichen Privilegien ergibt” (331).

In ihrer Konsequenz und Überzeugungskraft trifft sich dieser Ansatz mit der von Ekkehart Stein vertretenen Demokratieauffassung. Die Schussfolgerungen hieraus für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sind allerdings etwas knapp geraten und beschränken sich auf eine treffende Kritik an der Beschleunigungsgesetzgebung sowie die Bewertung von Verfahrensfehlern. Zu den gesellschaftlichen Hintergründen der „Beschleunigung” durch Abbau demokratischer Beteiligung hätte man bei einem historisch so geschulten Autor etwas mehr als nur den kurzen Hinweis erwartet, dass die empirischen Grundlagen für die Rechtfertigung mit einer angeblichen „Gefahr für den Standort Deutschland” fragwürdig sind (342).

Mit globaler Perspektive und weitaus grundsätzlicher als die eben vorgestellten Werke widmet sich die neueste Monografie von Friedrich Müller, der sich vor allem als Verfassungstheoretiker einen Namen gemacht hat, der Demokratiefrage:

Friedrich Müller: Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht. Nationale, staatenlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung, Duncker & Humblot: Berlin 2003, 152 S., ISBN 3-428-11165-6; 54 Euro

Müller kritisiert mit Recht, dass „das Denken von Demokratisierung allein in normierten Einrichtungen und Verfahren” zu stark dem „veralteten Diskurs von Demokratie als bloßem Herrschaftsdiskurs verhaftet” sei (21). Die Defizite dieser normierten Verfahren von Demokratie auf nationaler ebenso wie auf supranationaler Ebene werden sodann plastisch herausgearbeitet. Ähnlich wie von Arnim bemängelt Müller die traurige Wirklichkeit des „freien” Mandats der Abgeordneten in Deutschland (50, 103), beschränkt sich aber nicht auf diese institutionellen Aspekte, sondern lenkt den Blick auch auf die sozialen Voraussetzungen von Demokratie: Diese werde nicht „ohne eine sozial ausgleichende Politik überleben, die den Rahmen dafür schafft, dass de facto das ganze Volk demokratisch partizipieren kann” (49). Deshalb prangert Müller auch die gegenwärtige Praxis sozialer Exklusion an: „Durch den Skandal aller Formen ketten reaktiver Ausschließung von Personen von den gesellschaftlichen Leistungssystemen fehlt ihre geäußerte Meinung, ihr moralischer Diskurs, fehlen ihre Wahlaktivität und politisches Engagement” (72). Ob die Protagonisten von Hartz IV wohl soweit denken?

Den Gegensatz zwischen normativem Anspruch und realer Praxis der Machtausübung macht Müller auch auf der Ebene der EU dingfest: „Die Bürger Europas können nach wie vor frei sagen, was sie denken, und frei wählen; aber über die für sie entscheidenden Fragen befindet die Europäische Zentralbank, die demokratische Rechenschaft nicht schuldig ist” (68). Dass sich die EU nach dem Vertrag von Maastricht als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts” bezeichne und dabei die Demokratie nicht erwähnt werde, sei nicht nur ein Lapsus (127). Noch eine Ebene höher geht der Autor, wenn er die entdemokratisierende Wirkung der durchweg an ökonomischen Interessen orientierten Globalisierung beschreibt. Als neue supranationale Machtzentren bilden IWF, Weltbank, WTO und OECD nach Müller „klammheimlich eine Art planetarer Exekutive. Mit ihrer Hilfe wendet der Westen seine ökonomischen Modelle ebenso abstrakt wie brutal auf Gesellschaften der sogenannten Dritten Welt an” (62).

Ebenso weit reichend wie seine Kritik an den realen Herrschaftsverhältnissen sind auch die Alternativvorschläge für eine „Globalisierung von unten”, die Müller unterbreitet. Nicht wenige dieser Vorschläge setzen auf der Ebene des Nationalstaates an, dem der Autor mit Recht auch angesichts der Globalisierung noch wichtige Funktionen zuschreibt (51). So schlägt er Sanktionen gegen politische Parteien bei geringer Wahlbeteilung vor: Danach würden bei 60 Prozent Wahlbeteiligung nur 60 Prozent der Abgeordnetensitze verteilt werden (102). Ein solches Instrument wäre indessen nicht unproblematisch. Es könnte die Parteipolitiker zu einer größeren Berücksichtigung der Wählerinteressen veranlassen, aber auch nur vordergründig auf den Wahlakt fokussierte, „populistische” Medienkampagnen auslösen. Überzeugender sind dagegen die Plädoyers für mehr Volksentscheide und die Einführung von Beteiligungshaushalten nach dem Vorbild von Porto Alegre (104ff.; Müller erweist sich hier als exzellenter Kenner der entsprechenden Debatten in Brasilien, wo auch einige seiner Bücher erschienen sind.).

Der ldee eines Weltparlaments wird eine Absage erteilt; statt dessen setzt Müller auf die Aktivität von NGOs und anderer globaler Netzwerke. Diese seien eine „wirksame Kraft der ständigen Beunruhigung, der Erschwerung faktischer (und undemokratischer) globaler Herrschaft. Dies ist die realistische Wendung des neuen Konzepts der Demokratietheorie” (79). Die Kritik an der mangelnden Legitimation der NGOs seitens der Vertreter des klassischen Parlamentarismus weist er zurück: „Wenn die Gewählten nicht mehr entscheiden und die Entscheider nicht gewählt sind, müssen die im exemplarischen Widerstand Stehenden auch nicht auf traditionell national-staatliche Weise ,gewählt` sein. Sie legitimieren sich – vorerst – durch ihr Engagement und durch die Offenheit der Diskussion darüber, auf die sie selbst den größten Wert zu legen haben” (80). Demokratie sei gerade auch dort, „wo normale Leute sich um das Gemeinwohl abmühen” – freilich eine etwas vage Formel. Dort seien die Menschen nicht als „Menge” (multitude) vorhanden, sondern als „Volk” (120). Damit scheint Müller sich implizit von Michael Hardt/Antonio Negri abzugrenzen, die in ihrem Buch Empire die multitude als handelndes Subjekt favorisieren (im Literaturverzeichnis indessen auch nicht genannt werden). Müller hingegen bezieht sich explizit auf die Demokratietheorie von Rousseau, die er konsequent und überzeugend weiterentwickelt.

Der Autor hat Recht, wenn er auf die Erfolge von NGOs durch Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit bei gravierenden Menschenrechtsverstößen verweist. Zugleich aber wird die Schwäche auch weltweiter Mobilisierung „von unten” belegt, wenn er den alten und neuen US-Präsidenten Bush nach den Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg zitiert: „Die Leute haben ihre Auffassung äußern dürfen, und ich werde jetzt den Krieg beginnen” (134, Anm. 42). Aber lässt es sich dem Autor Müller anlasten, wenn er auf dieses Dilemma der realen Machtverteilung keine erschöpfende Antwort zu geben weiß? Immerhin vermittelt sein Buch eine Fülle neuer Denkanstöße für den Fortgang der Demokratiedebatte – auch wenn die Durchstrukturierung des Argumentationsgangs mitunter zu wünschen übrig lässt und Wiederholungen nicht ausbleiben. Eilige seien deshalb auf eine gut lesbare Zusammenfassung der Darstellung in Gestalt eines Zeitschriftenbeitrages verwiesen (Müller 2004). Eine plausible Antwort auf die angebliche Alternativlosigkeit herrschender Politikkonzepte sind Arbeiten wie die Müllers allemal.

Literatur

Rittner, Fritz 2003: Demokratie als Problem: Abschied vom Parlamentarismus?; in: Juristenzeitung, 58. Jg., H. 13, S. 641-647
Müller, Friedrich 2004: Einschränkung der nationalen Gestaltungsmöglichkeiten und
wachsende Globalisierung; in: Kritische Justiz, 37. Jg., H. 2, 5.194-201 Stein, Ekkehart/Frank, Götz 2004: Staatsrecht,
19. Aufl. Tübingen

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