Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Der lange Weg zum Arbeitsamt

Zur Geschichte des „erzwungenen Müßiggangs”

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), S.34-45

„Die erste Regel muss absolut gelten: Es ist immer noch besser die Menschen damit zu beschäftigen, Löcher zu graben und wieder aufzufüllen als sie überhaupt nicht zu beschäftigen. […] Erzwungener Müßiggang [idleness] ist eine Verschwendung wahrer Ressourcen, eine sinnlose Verschwendung von Leben, die aus keinem finanziellen Grund gerechtfertigt werden kann.” (Beveridge 1944: 147) Warum ist es sinnvoll, die Menschen in sinnloser Arbeit zu beschäftigen? Warum ist der Müßiggang im Verhältnis zur stupidesten und sinnlosesten Tätigkeit eine Verschwendung menschlichen Lebens? Hinter der Auflösung dieses Rätsels steht die noch recht junge Geschichte der „Arbeitslosigkeit”, die Entdeckung und Problematisierung jenes „erzwungenen Müßiggangs”, auf deren Grundlage der hier zitierte William Beveridge als einflussreicher sozial- und wirtschaftspolitischer Regierungsberater zwischen 1909 und 1944 das weit über England hinausreichende Konzept des modernen Wohlfahrtsstaats ausarbeiten wird. In Zeiten, in denen gleichsam mit technokratischer Semantik von einem „Um-oder Abbau” des Wohlfahrtstaates die Rede ist, mag eine Genealogie seiner Herkunft vielleicht mehr zu sein als die historische oder sentimentale Erinnerung an eine allmählich verblassende Gestalt unserer jüngsten Vergangenheit (vgl. auch Bohlender 2004).

Gespenster

Die Figur des „Arbeitslosen” ist nicht älter als hundert Jahre. Zuvor gab es die Armen, die Bettler und Vagabunden; es gab die Ausgestoßenen, die Vertriebenen und diejenigen ohne „Heim und Herd”, die regelmäßig die Spitäler, Bettler depots und Arbeitshäuser bevölkerten. Sie alle waren noch im 19. Jahrhundert Teil einer von der Politischen Ökonomie so bezeichneten „überschüssigen Bevölkerung” (redundant population), der man aufgrund objektiver Naturgesetze keinen Platz im sozialen und ökonomischen Raum zuweisen konnte (vgl. Bohlender 1998). „Sobald es […] dem Kapital einfällt […], nicht mehr für den Arbeiter zu sein”, schreibt Marx im Jahre 1844, „ist er selbst nicht mehr für sich, er hat keine Arbeit, darum keinen Lohn, und da er nicht als Mensch, sondern als Arbeiter Dasein hat, so kann er sich begraben lassen, verhungern etc. […]. Die Nationalökonomie kennt daher nicht den unbeschäftigten Arbeiter, den Arbeitsmenschen, soweit er sich außer diesem Arbeitsverhältnis befindet. Der Spitzbube, Gauner, Bettler, der unbeschäftigte, der verhungernde, der elende und verbrecherische Arbeitsmensch sind Gestalten, die nicht für sie, sondern nur für andre Augen, für die des Arztes, des Richters, des Totengräbers und Bettelvogts etc, existieren, Gespenster außerhalb ihres Reichs.” (Marx 1981: 523f.; Hervorh. i. Orig.)

Die Entdeckung der Arbeits­lo­sig­keit

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt man, für diese Gespenster einen Namen zu suchen. Sie treten langsam aus dem Niemandsland zwischen Arbeitsmarkt und Arbeitshaus heraus und finden Eingang in die ersten großen social surveys, die soziographischen Enqueten, staatlichen Untersuchungskommission und Landesstatistiken. Gegen Ende des 19. Jahrhundert wird fast zeitgleich in England, Frankreich, Deutschland und der Westküste der USA die „Arbeitslosigkeit” (unemployment, chömage) entdeckt (vgl. Topalov 1994; Walters 1994; Vobruba 2000: 24ff.). Man kann sie allerdings noch nicht richtig begreifen: Die ersten Statistiken von 1895 (Deutschland), 1896 (Frankreich) und 1901 (England) sind noch nicht ausgefeilt genug in der klassifizierenden und kategorialen Erfassung dessen, was es heißt, nicht beschäftigt, unterbeschäftigt, saisonal oder gelegentlich beschäftigt zu sein. Es fehlt vor allem die eindeutige, gesetzlich fest-gelegte und in Hinblick auf Versicherungsansprüche relevante Referenz: nämlich die Bestimmung von Arbeit, Erwerbstätigkeit und Beschäftigung.

Im Jahr 1896 hält der Historiker und aufgeklärte konservative Politiker Hans Delbrück auf dem „Evangelisch-Sozialen Kongreß” in Stuttgart das Hauptreferat mit dem Thema Die Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit. Zur Diskussion stand die Einführung einer möglichen „Arbeitslosenversicherung” in konsequenter Fortsetzung der Bismarckschen Sozialgesetzgebung. Jedoch war es zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, auf statistisch nachprüfbare, allgemeine Kriterien für den Status „wirklicher, unverschuldeter Arbeitslosigkeit” zurückzugreifen. Für Delbrück, der strikt in juridischen und moralischen Kategorien argumentiert, schien dies überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit; und so fragt er:

„Ist ein Uhrmacher arbeitslos, wenn er nicht Uhren machen, aber als Feinmechaniker Beschäftigung finden könnte? Nein. Wenn aber als Grobschmied? Oder Straßenkehrer? Ist ein Mann arbeitslos, der in Köln keine Arbeit findet, aber in Bonn? Soll er aus-wandern? Wo soll er die Familie hinbringen? Ist ein Mann arbeitslos, der im Sommer tüchtig verdient hat – nehmen wir einen Maurer – und im Winter aussetzt? Er hat ein Haus, einen Acker, er kann sich während dieser Zeit, wo er nicht in seinem Handwerk tätig ist, mit häuslichen Verrichtungen beschäftigen. Ist der Mann arbeitslos? […] Nun aber erst kommen die Fragen: Warum bist du arbeitslos geworden? Hast du Streit gehabt? Warst du faul? Oder hat dir dein Meister etwas Unrechtes zugemutet? Wer ist im Recht gewesen? Wie soll entschieden werden? […] Wir finden schon bei der Frage ,ist der Mann arbeitslos oder nicht?‘ Dinge, die rein individuell entschieden werden müssen. Eine rein individuelle Entscheidung aber kann eine Behörde nicht treffen. Das würde die reine Willkür werden. Also eine öffentliche Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist schon wegen des mangelnden Begriffs der Arbeitslosigkeit im legislatorischen System nicht ausführbar.“ (zit. n. Pankoke 1990:113f.)

An diesen konkreten Fragen Delbrücks lässt sich sehr gut erkennen, welche Beunruhigung zu dieser Zeit den politischen Konsens erschütterte. Die Arbeitslosigkeit ist zwar als ein gesellschaftliches Massenphänomen entdeckt; die jüngst (1892) gegründete Kommission für Arbeiterstatistik hat sie zum legitimen und messbaren Gegenstand der Diskussion gemacht. Aber sie entzieht sich der allgemeinen Regel des Rechts, der Juridifizierbarkeit. Und so steht man vor der Frage, sie entweder als ein individuelles, moralisches Problem zu behandeln und sie den Gewerkschaften, den Kirchen, den Kommunen, der Familie und den Wohlfahrtsverbänden zu überantworten oder in der Arbeitslosigkeit ein soziales Problem zu erkennen, und es demzufolge dem Bereich der industriellen Lebensrisiken – wie Unfall, Krankheit und Alter – zuzurechnen, Im ersten Fall wäre der Arbeitslose ein Objekt der Armenfürsorge und Arbeitslosigkeit lediglich ein Unterfall individuell verschuldeter oder zufälliger Verarmung. Im zweiten Fall müsste man eingestehen, dass die Arbeitslosigkeit gewissermaßen kausal statistisch an die industrielle Vergesellschaftung der Bevölkerung geknüpft ist, dass sie zur industriekapitalistischen Lebensweise gehört. Wie der Betriebsunfall, die Krankheit und der Verschleiß durch körperliche Arbeit müsste dieses Lebensrisiko versicherungstechnisch, arbeitsrechtlich und sozial gesetzlich gedeckt werden (vgl. Ewald 1993).

Charles Booth und das Problem der Gelegen­heits­a­r­beit

Die ersten Schritte zur Klärung des ominösen Begriffs der „Arbeitslosigkeit” und folglich zur technologischen Regierbarkeit des Problems kommen unbeabsichtigterweise aus dem konservativen Lager. Der Liverpooler Geschäftsmann Charles Booth investierte seine Energie und einen großen Teil seines Vermögens in eine quantitative Armutsuntersuchung, die beweisen sollte, dass das Ausmaß der Armut in London nicht den Ergebnissen einer Umfrage der Social Democratic Federation entsprach, die Anfang der 1880 Jahre veröffentlicht worden war. Danach sollten 25 Prozent der Londoner Arbeitsbevölkerung in Armut leben. Um diese horrende Zahl zu bestreiten, unternahm Booth, vertraut mit den organisatorischen und statistischen Techniken der modernen Geschäftswelt, eine eigene Untersuchung, die 1889 unter dem Titel Life arid Labour of the People in London ihre ersten Ergebnisse präsentierte (vgl. Topalov 1994: 216ff.; Desrosieres 1998: 254ff.). Allerdings waren diese wenig erfreulich. Die Social Democratic Federation hatte mit ihren Zahlen nicht über-, sondern untertrieben. Über 30 Prozent der in London arbeitenden Bevölkerung lebte demzufolge unterhalb der von Booth definierten und seither etablierten, sogenannten Poverty Line, eine Armutsgrenze, die er zu dieser Zeit bei einem wöchentlichen Familieneinkommen von 21 Shilling festlegte. Neben dem technischen Instrument der Armutsgrenze sollte Booth aber noch eine weitere Entdeckung machen. Er klassifizierte nämlich erstmals die Verteilung der Armut im großstädtischen Raum, d.h. er bildete Einkommenskategorien von A bis H, um so die Arbeits- und Armutsbevölkerung genauer zu spezifizieren. Die Kategorie A umfasste die sogenannten Faulenzer (loafer), Säufer (drunkards) und Halb kriminellen (semicriminals); in der Kategorie B vereinte er diejenigen, die durch Gelegenheitsarbeit von der Hand in den Mund lebten (casual hand-to-mouth earnings); Kategorie C und D war den Einkommensgruppen zugeordnet, die aufgrund saisonaler Beschäftigung nur einen geringen Durchschnittslohn erhielten. Unter die Kategorien E bis H subsumierte er dann die regulär Arbeitenden und relativ gutbezahlten Gruppen (working class, lower middle class, upper middle class).

Die entscheidende Schlussfolgerung die Booth‘ Untersuchung und Klassifizierungsarbeit erbrachte und die dann von seinen sozialwissenschaftlichen Nachfolgern geteilt wurde, lässt sich folgendermaßen resümieren: Das Problem der Arbeitslosigkeit ist keineswegs ein Problem der Beschäftigungslosigkeit oder der Arbeitswilligkeit, sondern ein Problem der Arbeit selbst, d.h. des Arbeitsverhältnisses, der Beschäftigungsdauer, des regulären Arbeitslohnes und der Zustände am Arbeitsplatz. Bis auf die Kategorie A, die später sogenannten „Unbrauchbaren” (unemployables), waren die „Armen” in Kategorie B, C und D weder arbeitslos noch arbeitsunwillig. Sie waren einfach deshalb arm, weil sie arbeiteten wie sie arbeiteten. Mit Booth konstituiert sich erstmals die Arbeit und der Arbeitsmarkt als ein mögliches politisches Interventionsfeld, das sich jedoch im weiteren Verlauf in zwei unterschiedliche Richtungen oder Linien zersplitterte. Die eine Linie, die der Soziopolitiker und politischen Ökonomen, forderte eine soziale Reorganisation und politische Regulierung des Arbeitsmarktes und zwar in Hinblick auf eine Normalisierung der Arbeit (decasualization). Die andere Linie, die der Biopolitiker und Anthropometriker, forderte eine eugenische Organisation und rassehygienische Regulierung der Bevölkerung und zwar unter der drohenden Gefahr einer Degenerierung der Bevölkerung (degeneration). Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es nicht zu Berührungen, Überschneidungen und Verknotungen beider Linien gekommen wäre (vgl. hierzu Weingart u.a. 1988; Niemann-Findeisen 2004).

John A. Hobson oder die Ökono­mi­sie­rung der Arbeits­lo­sig­keit

Wenn von Charles Booth – dem viktorianischen Unternehmer – der erste Anstoß kam, die „Arbeitslosigkeit” zu einem politischen Interventionsfeld zu konstituieren, so war es der liberale Ökonom John A. Hobson – eher bekannt als Imperialismustheoretiker – der sie in den ökonomischen Diskurs einführte und verankerte. Bis dahin blieb die Arbeitslosigkeit ein Gespenst außerhalb des Reichs der Ökonomen, oder sie erschien lediglich an deren ausgefransten Rändern. Für neoklassische Autoren gab es im Grunde nur ein Erklärungsprinzip für die massenhafte Freisetzung des Produktionsfaktors Arbeit: die Starrheit und Inflexibilität der Löhne im Verhältnis zu den Preisschwankungen auf dem Gütermarkt. In the long run aber, so der Konsens der Autoren, sollten die Lohnkosten sich diesen Schwankungen anpassen, die Löhne würden sinken und der Arbeitsmarkt somit wieder geräumt werden.

Hobson jedoch vertrat diesem Argument gegenüber eine abweichende Haltung (vgl. Hobson 1896). Er fragte: Was genau sind die ökonomischen Ursachen für das Phänomen „Arbeitslosigkeit”? Seine Antwort ist deshalb interessant, weil sie das Problem auf durchaus radikale Weise verschiebt und einen Berührungspunkt zu den Untersuchungen von Booth herstellt (vgl. Walters 1994, 273f.). Nach Hobson ist das Problem der Arbeitslosigkeit im Grunde ein Problem der Einkommensverteilung. Das industrielle Produkt des gesellschaftlichen Reichtums ist auf massive Weise ungleich geteilt. Die Arbeiter leben geradeso von dem, was ihre Existenz mehr schlecht als recht sichert, während die Kapitalisten weitaus mehr zur Verfügung haben, als sie verausgaben können. Sie sind gewissermaßen gezwungen zu „sparen”, d.h, sie investieren in Fabriken und andere Produktionsmittel. Zwar schaffen diese Investitionen vorerst Beschäftigung, aber die Verwendung der Produktivkräfte für diese Investitionen stehen in keinem Verhältnis zur Nachfrage nach jenen Waren und Gütern, die in den neugeschaffenen Fabriken und mit den neuerworbenen Produktionsmitteln erzeugt werden. Es kommt zu einer Güterschwemme (glut), in deren Folge die Produktion gedrosselt und die Arbeiter „aufs Pflaster geworfen werden”. Die Wurzel des gesamten Übels liegt also in dem, was Hobson over-saving oder aus einer anderen Perspektive underconsumption — Unterkonsumtion — nennt — ein Problem, das in der klassischen politischen Ökonomie lediglich von Simonde de Sismondi (1773-1842) und Thomas R. Malthus (1766-1834) thematisiert, aber von den Neoklassikern ignoriert wurde.

Für Hobson ist Arbeitslosigkeit kein Randphänomen einer industriekapitalistischen Produktionsweise, sondern ein dauerhaftes und systematisches Problem mitten im Zentrum dieser Wirtschaftsform. In ihr ist der Arbeitsmarkt auf eine solche Weise mit dem Gütermarkt verkoppelt, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen immer Unterkonsumtion und damit systematisch Surplus-Arbeit entsteht. Diese Surplus-Arbeit liegt ungenutzt außerhalb der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums; sie scheint überflüssig, aber nur deshalb, weil andere zu viel sparen. Hobsons Perspektive ist nicht die einer Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die ihrer mangelhaften Effizienz. Die Gesamtheit der scheinbar „überflüssigen” Arbeitskraft ist in Wirklichkeit ein ungenutztes Produktivitätspotential, ein Quantum jener möglichen Steigerung des Nationalreichtums, das verloren gegeben wird. Die industriekapitalistische Produktionsweise könnte also effizienter gestaltet werden, wenn ihr eine intelligente Ökonomie des Sparens und des Verausgabens implementiert würde. Mit Hobson wird die Wegstrecke zu Keynes und dessen Vorstellung einer Konjunktur- und Nachfragesteuerung ein ganzes Stück verkürzt.

Aber nicht das ist vorerst entscheidend an der Unterkonsumtionstheorie. Wichtiger ist vielmehr folgendes: Hobsons Analyse eröffnet den Raum, ein kürzlich erst gesellschaftlich und politisch wahrgenommenes Problem — die „Arbeitslosigkeit” — in den ökonomischen Diskurs zu übersetzen und zu transferieren. Dort, also innerhalb der ökonomischen Logik und Maschinerie, erscheint die „Arbeitslosigkeit” jedoch nicht als soziales oder politisches Problem, sondern als ökonomisches Effizienzproblem. Fortan wird man die „Arbeitslosigkeit” zu einer ökonomischen Variable ernennen, sie ins Spiel der Mechanismen, Hypothesen- und Modellbildung einbinden. Sie wird sogar zu einem — bis vor kurzem noch — bedeutenden Indikator des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Stabilitätsgesetz von 1967).

Der neue Pakt gegen „Arbeits­lo­sig­keit”: Lebens­lauf­po­litik

Wenn das Gespenst der Arbeitslosigkeit nun langsam beginnt, im diskursiven Raum der Ökonomen ein Gesicht und eine Gestalt anzunehmen, so hatte dies umgekehrt für die Sozialpolitik und den Argumentationsspielraum der Soziopolitiker eminente Folgen. Durch die Lücke der von Hobson diagnostizierten Unterkonsumtion hindurch beginnt eine Kommunikation zwischen Ökonomie und Sozialpolitik. Es entsteht eine Verknüpfung zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen, die für die Neoklassiker bis dahin undenkbar gewesen war: für sie gehörte das ökonomische Spiel von Angebot und Nachfrage einer anderen Rationalität an als das soziale oder politische Spiel der Fürsorge und des Gesetzes. Statt einer Verbindung sollten hier Grenzlinien gezogen werden, sollte der Staat oder die Regierung ein der Ökonomie angemessenes Grenzregime etablieren. Mit Hobsons liberaler Mangeldiagnose (Effizienz- und Rationalitätsmangel) aber wird dieses Regime durchlöchert. Es entsteht auf der einen Seite eine moderne Sozial- und Wohlfahrtsökonomie und auf der anderen Seite entwickeln sich die ersten Konturen einer sozial relevanten Arbeitsmarkt-, Lohn-, Steuer- und Zinspolitik. Schon Hobson schlägt folgende Maßnahmen vor: Um den Standard des Ausgabeniveaus der arbeitenden Bevölkerung zu erhöhen und das Sparvolumen zu begrenzen, soll die Besteuerung großer Einkommen eingeleitet, die Löhne erhöht und der Arbeitstag verkürzt werden. Sozialpolitik hört damit endgültig auf, eine rein moralische Wohlfahrt- und Barmherzigkeitspraxis zu sein. Sie professionalisiert und ökonomisiert sich. Sie steht der Ökonomie auf gleichem Niveau gegenüber, weil ihre jeweiligen Sprachen ineinander übersetzt werden können. Beide arbeiten getrennt, aber für dieselbe Sache: eine gesunde, stabile Arbeitsbevölkerung hier und ein gesundes, stabiles Wirtschaftswachstum dort. So in etwa könnte man die Geschäftsgrundlage nennen, auf der zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich eine neue Koalition, eine neuer Pakt formiert.

Der alte Pakt war gegen das subproletarische Gespenst des Pauperismus geschmiedet worden, gegen die Figur des Bettlers, des Vagabunden, der Prostituierten und gegen das halb kriminelle Milieu. Der neue Pakt dagegen hat für die Figur des „unbrauchbaren Pauper” keinen ernsthaften Problematisierungsbedarf mehr. Schon Booth bezifferte den Umfang der in Kategorie A klassifizierten „Faulenzer” und „Säufer” auf nicht mal ein Prozent der Londoner Bevölkerung. Für sie sollte der zwangsweise Verbleib in Irrenanstalten, in Arbeits- oder Farmerkolonien ausreichen, sogenannte Reformatory Detention Colonies (vgl. Webb 1911: 150ff.). Der neue Pakt aber zielt im Grunde nicht mehr direkt auf Individuen oder Gruppen, sondern auf die Steuerung und Regulierung von Prozessen und Vorgängen, die die Lohn- und Erwerbsarbeit der Bevölkerung und damit ihr Leben und ihr Einkommen unfreiwillig fragmentarisiert und prekarisiert. Arbeitslosigkeit ist diesem Verständnis zufolge ein Bestandteil des industriellen Arbeitsverhältnisses, ja mehr noch: Es ist ein Problem der unaufhaltsamen Durchsetzung einer bisher ungesteuerten industriekapitalistischen Lebensweise.

Genau dieser Kerngedanke des neuen Paktes steht im Zentrum von William Beveridges 1909 veröffentlichten Studie mit dem Titel Unemployment. A Problem of Industry. Der damals 30 jährige Ökonom und Sozialpolitiker beginnt seine Monographie mit der folgenden einschlägigen Passage:

„Das Problem der Arbeitslosigkeit liegt in einem spezifischen Sinne an der Wurzel der meisten anderen sozialen Probleme. Die Gesellschaft ist auf Arbeit gegründet; sie erlegt ihren Mitgliedern Verpflichtungen auf, die in den meisten Fällen nur durch einen Arbeitslohn erfüllt werden können. Bettler werden eingesperrt und Pauperismus gebrandmarkt. Die ideale Einheit dieser Gesellschaft besteht aus Ehemann, Ehefrau und Kindern, deren Unterhalt von den Einkünften des ersteren gewährleistet wird. Ein solcher Haushalt benötigt ausreichend Raum und Luft – aber wie, wenn das Einkommen zu unregelmäßig ist, um den Mietzins zu zahlen? Die Kinder müssen von den Eltern unterstützt werden – aber wie, wenn der Vater keine Beschäftigung hat? Die Ehefrau, soweit sie gebärfähig ist und Kinder erzieht, sollte keine andere Aufgabe übernehmen – aber wie, wenn der Verdienst des Ehemanns ausfällt und sie arbeiten muss? Überall dieselben Schwierigkeiten, überall erscheint eine vernünftige Beschäftigungssicherung für den Versorger [bread-winner] die Basis aller privaten Pflichten und aller intakten sozialen Verhältnisse.” (Beveridge 1909: 1)

Die Problematisierung einer intakten industriellen Lebensweise, die Beveridge hier umreißt, konzentriert sich also auf einen Punkt: Beschäftigungssicherung. Eine solche Beschäftigungssicherung muss allerdings spezifischen Anforderungen genügen. Die erste Anforderung besteht darin, die moderne industriekapitalistische Gesellschaft mit all ihren zyklischen Störungen, saisonalen Brüchen und technologischen Konversionen zu akzeptieren. Eine antikapitalistische, revolutionäre Lösung wird zurückgewiesen. Die zweite Anforderung besteht darin, nicht nur Beschäftigungssicherung in dieser modernen Gesellschaft herzustellen, sondern sie mit und für die Industrie zu konzipieren. Kurz gesagt: Die Beschäftigungssicherung muss die Arbeits- und Erwerbsbevölkerung einerseits vor den Umwälzungen und Unsicherheiten des industriellen Lebens schützen und andererseits eine mobile und effiziente Arbeitsbevölkerung formieren, die den Erfordernissen der Industrie und des industriellen Lebens gewachsen ist. Eine Politik der Beschäftigungssicherung darf beispielsweise die Arbeitslosigkeit niemals gänzlich zum Verschwinden bringen. Denn der überaus fluide industrielle Raum, mit seinen unterschiedlichen Märkten, Produktionsrhythmen, Zirkulationszeiten und Warenketten, benötigt eine gewisse Schwankungsreserve an Arbeitskraft. Diese „industrielle Reservearmee” darf jedoch wiederum nicht in die Verelendung fallen und damit ihre Nützlichkeit für den industriellen Produktionsprozess verlieren.

Für diese, wie man sieht, äußerst komplexe Konstellation schlägt Beveridge drei Maßnahmen vor, die er unter die Rubrik De Casualization of Labour stellt:

  1. The Averaging of work and earnings, also die gesetzliche Festlegung eines Normalarbeitstages (6 Tagewoche, 8-10 Stunden) und eines Mindestlohnes. Es geht um eine Normalisierung von Arbeitszeiten und Arbeitslöhnen.

  2. Labour Exchanges, also die Einrichtung von landesweit verteilten Arbeitsbörsen oder Arbeitsämtern, mit Meldepflicht für alle Arbeitslosen, Ausbildungsprogrammen und Stellennachweispflicht für die Arbeitgeber.

  3. Unemployed insurance, also eine Versicherungstechnologie, die das nun akzeptierte industrielle Risiko der „Arbeitslosigkeit” gleichmäßig auf die Erwerbsbevölkerung verteilt (vgl. Beveridge 1909: 192ff., 219ff.)

Worum geht es Beveridge mit diesen drei Maßnahmen: sicher nicht darum, die Funktion des kapitalistischen Arbeitsmarktes – nämlich die Regulierung und Verteilung von Arbeits- und Einkommensströmen – zu beseitigen. Vielmehr will er sie ausdehnen, stabilisieren und homogenisieren. Von Glasgow bis Dover, von Liverpool bis York sollen vergleichbare Arbeits-, Lebens- und Einkommensbedingungen herrschen, es sollen vergleichbare Lebensläufe, Lebenslagen und Lebensführungen vorfindbar sein. Die Herstellung einer solchen stabilen Lohnarbeiterlage käme nicht allein den Arbeitern, sondern ebenso auch der Industrie zugute. Für den Arbeitslosen und den Gelegenheitsarbeiter prophezeit Beveridge allerdings harte Zeiten. Eine Politik der De-Casualization ist für ihn nämlich gleichbedeutend mit einer mühsamen Arbeit des sifting und weeding out of the unemployables, also des Aussiebens und Ausjätens der Unbrauchbaren aus dem Industriearbeiterheer. Fortan wird es im industriellen Raum der Arbeit keine fließenden Übergänge, keine Nischen, keine sporadischen Rückzüge, keine Zweideutigkeiten mehr geben. Es wird eine Grenze gezogen sein zwischen einem legitimen Leben in Arbeit (männlicher Lohnarbeiter), einem legitimen Leben in Nichtarbeit (Kindheit, Jugend, Alter) und einem illegitimen Leben, in dem Arbeit und Nichtarbeit sich dem Rhythmus eines geordneten industriellen Lebens entziehen: „Dem, der nur ein Mal pro Woche arbeiten und den Rest der Zeit im Bett verbringen will, wird die Stellenvermittlung diesen Wunsch verwehren. Dem, der von Zeit zu Zeit einen prekären Job finden will, wird die Stellenvermittlung, diese Lebensweise nach und nach verunmöglichen. Sie wird ihm diesen Arbeitstag, den er haben wollte wegnehmen und einem anderen geben, der schon vier Tage in der Woche arbeitet, und ihm auf diese Weise ermöglichen, anständig seinen Lebensunterhalt zu verdienen.” (zit. n. Caste12000: 287)

Die Grenzziehung erzeugt die „Arbeitslosigkeit” als einen doppelten Mangel: sie ist ein Fehlen von „normaler”, vollbeschäftigter Arbeit und sie ist zugleich auch die Abwesenheit eines legitimen Lebens in Nichtarbeit. Dieser doppelte Entzug ist der disziplinierende Anreiz dafür, sein Leben künftig in den zur Verfügung stehenden Räumen der „Anständigkeit”, der Legitimität und Normalität zu führen. Wollten die Neoklassiker an einem Grenzregime festhalten, das zwischen dem Ökonomischen und Sozialen, zwischen freier Lohnarbeit und abhängiger Fürsorge errichtet war, so entscheiden sich die liberalen Soziopolitiker für ein anderes Grenzregime: eines, das zwischen dem legitimen und illegitimen Leben diskriminiert. Sie entscheiden sich für die Abschaffung des Armengesetzes und die Zerschlagung der Arbeitshäuser, nur um an deren Stelle ein nationales System von Arbeitsämtern zu errichten (vgl, hierzu allgemein Englander 1998).

Das Arbeitshaus des 19. Jahrhunderts war eine gespenstische Institution; es operierte mit dem Dispositiv des „Schreckens” und der „Barmherzigkeit”, und es zielte mit aller moralischen Gewalt auf den Körper und die Seele des Individuums. Das Arbeitsamt des 20. Jahrhunderts dagegen ist Teil eines Programms, das nicht mehr auf das Individuum, sondern auf die gesamte Lebensweise der Bevölkerung und ihre industrielle Mobilmachung zielt. Das Dispositiv, das hier seine Wirkung entfaltet, ist das von „Sicherheit” und „Unsicherheit”: Sicherheit für all diejenigen die sich den Unsicherheit des industriellen Lebens anzupassen vermögen; für sie stellt das Programm feste Identitäten, vertraute Klassenlagen, definierte Berufs- und Geschlechterrollen, also einen krisensicheren Lebenslauf zur Verfügung. Für alle diejenigen jedoch, die sich einer solchen „Lebenslaufpolitik” (vgl. Leibfried u.a. 1995: 23ff.) verweigern, bleibt nur die Unsicherheit des anormalen Lebens.

„Masse­n­a­r­beits­lo­sig­keit”, Vollbe­schäf­ti­gung und die Unregier­bar­keit der Gesell­schaft

Mit Beveridges Programm von 1909 verwandelt sich die „Arbeitslosigkeit” von einem vormals obskuren Phänomen zu einem sozialpolitischen Indikator, mit Hilfe dessen man eine präzise Aussage über die Normalisierung des Arbeitslebens innerhalb der Industriegesellschaft treffen kann. Aber nicht nur das: Mit dem Aufbau eines landesweiten Systems von Arbeitsämtern (National Labour Exchange System) – dessen Direktor er ab 1910 werden sollte – steht nun auch eine Regierungstechnologie zur Verfügung, diese Normalisierung zu beobachten und aktiv zu befördern. Arbeitsamt, Normalarbeitstag und Arbeitslosenversicherung sollen aus dem verfehlten Leben des Individuums das anständige Leben eines (männlichen) Arbeiter-Bürgers schmieden, der sich selbst und seine Familie regieren kann.

Allerdings hat Beveridge zu diesem Zeitpunkt noch nicht bedacht, dass „Arbeitslosigkeit” nicht nur der Schlüsselbegriff eines Regimes zur Herstellung fixer politisch-ökonomischer Identitäten ist. Er ist, wie schon in der Unterkonsumtionstheorie von Hobson sich abzeichnete, ebenso sehr ein sozialökonomischer Indikator. Am Ausmaß der „Arbeitslosigkeit” lässt sich erkennen, ob die gesamtwirtschaftliche Nachfrage mit dem entsprechenden Angebot korrespondiert oder hier eine Abweichung, eine Anomalie vorliegt. Zwischen der Ökonomie der zirkulierenden Güter (Waren- und Gütermarkt) und der Ökonomie der gesellschaftlichen Arbeit (Arbeitsmarkt) besteht innerhalb einer rein marktgesteuerten Wirtschaftsform ein systematisches Missverhältnis, eine Instabilität. „Arbeitslosigkeit” ist nicht nur reallohnbedingt, wie es die Klassiker formulierten, sondern der an den Arbeitsmarkt weitergeleitete Effekt eines Nachtfragemangels auf den Gütermärkten (vgl. Berger 1996). Erst mit dieser von John M. Keynes 1936 ausgearbeiteten Theorie der nachfrage bedingten Arbeitslosigkeit kommt es zu einer erneuten Wendung, die Beveridge in seinem Buch Full Employment in a Free Society von 1944 vollzieht. „Vor dem ersten Weltkrieg erschien Arbeitslosigkeit zwar als ein Übel, das der Behandlung bedurfte, aber keineswegs als das wohl ernsthafteste ökonomische Problem der Zeit.” (Beveridge 1944: 105)

Das Programm von Beveridge versprach zunächst Beschäftigungs- und Einkommenssicherung innerhalb eines marktgesteuerten industriellen Arbeitslebens, das von Fragmentierung, häufigem Arbeitsplatzwechsel (drifting) oder zeitweiligem Arbeitsplatzverlust (waiting) bedroht schien. Diese Mängel waren allein einem desorganisierten Arbeitsmarkt geschuldet und konnten somit von dieser Seite her behoben werden. Nun aber stellte sich mit der keynesianischen Botschaft heraus, dass das „neue Gesicht der Arbeitslosigkeit” – nämlich Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit – primär einem chronischen Mangel an Nachfrage auf dem Gütermarkt geschuldet ist. Die wichtigste Erkenntnis aus der keynesianischen Analyse war für Beveridge die Tatsache, dass innerhalb der modernen Industriegesellschaft zwischen der Produktion und Konsumtion von Gütern auf der einen und der Produktion von Produzenten und Konsumenten auf der anderen Seite ein Band geknüpft schien, das nicht automatisch und notwendigerweise zur Auslastung der gesamten man-power einer Gesellschaft – zur Vollbeschäftigung führen muss. „In einer ungeplanten Marktökonomie gibt es nichts, das automatisch die Gesamtheit der Ausgaben (für Konsumtion und Investition) mit der Vollbeschäftigung in Übereinstimmung bringt, d.h. die Ausgaben hoch genug hält, um die zur Verfügung stehende Arbeit zu beschäftigen. Eine adäquate Gesamtnachfrage nach Arbeit ist in einer ungeplanten Marktökonomie nicht garantiert.” (Beveridge 1944: 94)

Die Wendung, die Beveridge hier vollzieht, ist von fundamentaler Bedeutung: Es geht nicht mehr allein um Beschäftigungssicherung, sondern um maximale Beschäftigungsauslastung der Arbeitsbevölkerung; es geht nicht mehr nur um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern um eine aktive Politik der Vollbeschäftigung. Die „alte” Arbeitslosigkeit zeigte einen Mangel in der Anpassung des Lebens der Produzenten an die Kontingenzen der industriellen Produktionsweise an; dieser Mangel war dem noch unorganisierten Arbeitsmarkt und der Anpassungsfähigkeit des Individuums geschuldet. Die „neue” Arbeitslosigkeit hingegen verweist die Gesellschaft auf ein tieferliegendes Problem ihrer Organisationsweise: die fehlende Verantwortung aller Gesellschaftsmitglieder, die Industriegesellschaft als eine nationale Einheit (von Ökonomie und Gesellschaft) wahrzunehmen und zu regieren. Tatsächlich stellt Beveridge damit die alte moralische Frage nach Schuld, Pflicht und Verantwortung neu.
Waren Armut und Not vormals als selbstverschuldete Verhaltensweise des Individuums verstanden worden, so konnte man diese Ansicht mit der Entdeckung der „Arbeitslosigkeit” nicht mehr teilen. Man musste anerkennen, dass die aus der Arbeitslosigkeit erwachsene Armut und Not der negative Effekt eines gesamtgesellschaftlichen Industrialisierungsprozesses darstellt. Wer aber war nun verantwortlich? Wer trug die Schuld an diesen Effekten? Und wer sollte verpflichtet werden, die negativen Seiten dieses Prozesse auszugleichen, zu kompensieren? Die Antwort von Beveridge ist „Wir”! „Wir sollten”, schreibt Beveridge, „Not, Krankheit, Unwissenheit und Schmutz als gemeinsame Feinde aller betrachten.” (Beveridge 1944: 254f.) Es sind nämlich Feinde, mit denen man nicht individuell einen getrennten Frieden schließen kann; dieser Friedensschluss, der möglicherweise persönlichen Wohlstand verheißt, beruht im Grunde auf dem Elend der anderen Mitbürger. Der Zustand individueller Prosperität und massenhaften Elends führt in die gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit. Die Industriegesellschaft hat zwischen den Bürgern und ihrer Lebensweise ein Band geknüpft, das die individuelle Verfolgung des Glücks nur dem garantiert, der zugleich einen Bei-trag leistet zur gesamtgesellschaftlichen Prosperität. Fällt dieser Beitrag aus, so ist nicht nur der individuelle Wohlstand, sondern die gesamte Regierbarkeit der Gesellschaft gefährdet.

Das Kernproblem der „Massenarbeitslosigkeit” ist nichts anderes als die Unregierbarkeit der gesamten Industriegesellschaft. „Das größte Übel der Arbeitslosigkeit ist nicht der Verlust zusätzlichen materiellen Reichtums […]. Es existieren zwei weitaus größere Übel:

1. Arbeitslosigkeit erzeugt in den Menschen das Gefühl, nicht gebraucht, nicht gewollt und ohne Vaterland zu sein; 2. Arbeitslosigkeit läßt die Menschen in Furcht leben und aus Furcht entspringt Hass.” (Beveridge 1944: 248) Die Arbeit selbst ist nicht nur ein ökonomisches Regime zur Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums, sie ist ebenso sehr ein politisches Regime, das die Regierungsfähigkeit der Industriegesellschaft gewährleistet. Beveridge weiß sehr wohl, dass der gegenwärtige Kampf Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg mit all seinen ungeheuren Opfern an Menschenleben und Ressourcen nur von einer Bevölkerung in Arbeit (und Waffen) ge- und ertragen werden kann. Eine Bevölkerung in idleness und leisure wäre dazu gar nicht in der Lage.

Das zu Beginn gestellte Rätsel vom Sinn einer sinnlosen Tätigkeit lässt sich nun-mehr aufklären. Selbst die stupideste und sinnloseste Tätigkeit hat einen ökonomischen und politischen Effekt: diejenigen, die einer nutzlosen Beschäftigung nachgehen, tragen doch immerhin durch das, was sie verdienen und ausgeben, zur Beschäftigung anderer bei, und durch ihre — wenn auch sinnlose Beschäftigung — sind sie zumindest ins politische Regime der Arbeit integriert. Sie leisten ihren Beitrag, den die Gesellschaft verlangt, um ihnen ein Leben in dieser Gesellschaft garantieren zu können. „Müßiggang” und „Freizeit”, so spekuliert Beveridge an einer Stelle, mag vielleicht sogar ökonomisch noch erträglich sein; verteilt man die „Arbeitslosigkeit” gleichmäßig auf die gesamte Bevölkerung, so „könnten wir noch immer reich und allesamt glücklicher sein; wir hätten immer noch einen Lebensstandard, der nur mit wenigen Ländern verglichen werden könnte” (Beveridge 1944: 248) „Müßiggang” aber muss als ein gesellschaftspolitisches Übel an sich betrachtet werden. Tatsächlich speist sich Beveridges neues Programm einer aktiven Vollbeschäftigungspolitik, in dessen Folge der Staat als „institutionalisiertes Wir” die Verantwortung übernehmen wird, nicht aus einer ökonomischen oder sozial-politischen Sorge um die Bevölkerung; vielmehr beruht diese Politik auf einer Angst vor der Unregierbarkeit jener „Arbeitslosen”, die eine industrialisierte Arbeitsgesellschaft so notwendig erzeugt wie sie deren Existenz- und Lebensweise moralisch und politisch verneinen muss. Mit einer Politik der Vollbeschäftigung hört jede Form der Rechtfertigung eines „arbeitslosen Leben” auf und kann nunmehr wie ehedem als „Müßiggang”und „Faulenzerei” stigmatisiert und diskriminiert werden. Mit ihr erfüllt sich, was der französische „Sozialpolitiker” La Rochefoucauld-Liancourt schon 1790 im „Bettlerausschuß” formulierte: „Wenn derjenige, der existiert, das Recht hat, der Gesellschaft zu sagen, laßt mich leben, so hat die Gesellschaft ebenso das Recht, ihm zu antworten, gib mir deine Arbeit.” (zit. n. Rosanvallon 2000: 107)

Literatur

Berger, Johannes 1996: Vollbeschäftigung als Staatsaufgabe? Der Aufstieg und Niedergang des Vollbeschäftigungsversprechens; in: Grimm, Dieter (Hg.): Staatsaufgaben, Frankfurt/Main, S. 553-584 Beveridge, William 1909: Unemployment. A Problem of Industry, London
Beveridge, William 1944: Full Employment in a Free Society. A Report, London
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