Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Masse­n­a­r­beits­lo­sig­keit und soziale Ausgrenzung

Eine Analyse der Spaltungstendenzen am Arbeitsmarkt

aus: Vorgänge Nr.168 ( Heft 4/2004 ), S.46-55

Seit den Ölpreisschocks der 1970er Jahre ist Arbeitslosigkeit in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden. Ein wachsender Anteil an Arbeitslosen nimmt am zwischen Angebot und Nachfrage pendelnden, normalen Ablauf am Arbeitsmarkt nicht mehr teil. Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Vor allem am Arbeitsmarkt entscheidet sich jedoch für den Einzelnen, ob eine Chance besteht auf Inklusion, also Teilhabe in und an der Gesellschaft, oder ob das Risiko der Exklusion, also soziale Ausgrenzung, droht. Soziale Ausgrenzung ist damit zu einer zentralen Kategorie der Analyse moderner Gesellschaften geworden (Barlösius et, al 2001; Europäische Kommission 1994; Giddens 1998, 2001; Kronauer 2002; Steinert (Hg): 1998).

Was meint nun der Begriff der sozialen Ausgrenzung genau? Sind die etwa fünf Millionen Personen, die im Winter 2004/2005 voraussichtlich einen neuen, bedrohlichen Höhepunkt der deutschen Arbeitslosenstatistik markieren werden, gleichzusetzen mit einem Heer sozial Ausgegrenzter? Hier soll ein differenzierteres Verständnis des Begriffs sozialer Ausgrenzung vorgestellt werden. Damit wird der Fokus auf eine soziale Frage gelenkt, die aufgrund der medialen Dominanz der Arbeitslosenproblematik und einer simplifizierenden Gleichsetzung von Begrifflichkeiten wie Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit wenig Beachtung findet. Sie kann als „Neue Soziale Frage” der nach industriellen Gesellschaft bezeichnet werden.

Exklusion – die Soziale Frage der nachin­dus­tri­ellen Gesell­schaft

Für den Begriff „Exklusion” gibt es keine präzise oder gar allgemeingültige Definition. Gemeint ist jedoch immer mehr als Armut im Sinne materieller Not. Hinzu tritt eine Einschränkung von Teilnahme und Teilhabechancen in und an der Gesellschaft. Der Begriff weist also über monetäre Aspekte und damit Verteilungsfragen hinaus. Es geht (in einer implizit normativen Perspektive) um den gesellschaftlichen Zusammenhalt (Taylor 1998: 11). Exklusion kann als „Multi-dimensionale Konstellation” gefasst werden, die sich zu „defizitären Lebensbedingungen” addiert (Vobruba 1998: 57).

Martin Kronauer nennt drei wesentliche kategoriale Elemente der Exklusion Diskussion in den Sozialwissenschaften (Kronauer 2002: 43). Neben dem bereits erwähnten Verlust an Teilhabemöglichkeiten sind dies „die Betonung des Prozesscharakters der Exklusion” sowie „Desintegration am Arbeitsmarkt” und damit einhergehende „Auflösung sozialer Bindungen”.

Damit ist der Zusammenhang von Exklusion und Arbeitsmarkt angesprochen. Klar ist: Exklusion ist kein reines Arbeitsmarktphänomen. Vielmehr sind bestimmte Teile der Bevölkerung von sozialer Ausgrenzung bedroht oder betroffen, für die sich die Frage nach Arbeit nicht, noch nicht oder nicht mehr stellt; zu denken ist beispielsweise an Kinder oder Rentner. „Kein reines Arbeitsmarktphänomen” bedeutet, dass soziale Ausgrenzung sich ursächlich nicht (alleine, notwendig oder hinreichend) am Ausschluss aus dem System der Erwerbsarbeit festmachen lässt, in ihren Wirkungen und Ausprägungen nicht nur Fragen des Arbeitsmarkts, sondern beispielsweise auch des Wohnraums oder allgemeiner demokratischer Teilhabe tangiert, sowie konsequenterweise grundsätzlich in ihrer Behandlung keine reine oder ausschließliche Strategie der Arbeitsmarktintegration verlangt, sondern umfassendere Lösungsansätze.

Auf der anderen Seite gilt die Nicht-Teilnahme am System der Erwerbsarbeit, sei es als verpasster Einstieg oder wiederkehrend in einer brüchigen Erwerbsbiografie, als eine zentrale Ursache und gleichzeitig Manifestation der Ausgrenzung: „Der strategische ,Bruchpunkt liegt in der Erwerbsarbeit”, deren Verlust bei Fehlen alternativer Quellen sozialer Anerkennung und materieller Sicherung zu „Nutzlosigkeit als soziale Zuschreibung und Lebensgefühl” gleichermaßen führt (ebd.: 51). Inklusion erscheint umgekehrt über den Eintritt in Erwerbstätigkeit herstellbar, auch wenn Tony Judt zu recht ein-schränkt, dass nicht jede Form von Beschäftigung eine Antwort auf Exklusion Tendenzen geben könne und viele der „prekär” Beschäftigten ebenso zur Gruppe der Ausgeschlossenen zählten (Judt 1997: 98).

Die auf die zweite kategoriale Bestimmung „Verlust von Teilhabemöglichkeiten” bezogene Hypothese lautet, dass es in allen gesellschaftlichen Teilsystemen „gesellschaftlich geteilte Vorstellungen von angemessenen Lebenschancen gibt” (Kronauer 2002: 45), die dem von Exklusion betroffenen oder bedrohten Personenkreis verwehrt oder eingeschränkt werden. So bezieht sich materielle Teilhabe etwa auf einen gesellschaftlich „als angemessen geltenden Lebensstandard”. Politisch-institutionelle Teilhabe verlangt „Statusgleichheit im Zugang zu Rechten und Institutionen sowie deren Nutzung”. Kulturelle Teilhabe bezieht sich auf die „Möglichkeiten zur Realisierung individuell und gesellschaftlich anerkannter Ziele der Lebensführung” (ebd.: 152).

Exklusion als Prozess verstanden, rückt das Konzept in die Nähe der dynamischen Armutsforschung. Sowenig wie Armut bezeichnet Exklusion einen statischen Zustand oder automatisch eine biografische Sackgasse. Vielmehr erlauben Bewegungen in der multidimensionalen Konstellation sowohl Statusverbesserungen wie -verschlechterungen. Entsprechend ist es sinnvoll, in die Analyse von Exklusion Prozessen auch eine „Zone der Gefährdung” (ebd.: 47) einzubeziehen und entlang einer Achse verschiedene Stationen abzuzeichnen, die einen schleichenden Statusverlust oder Wege zur Inklusion anzeigen.

Diese Ausführungen verdeutlichen bereits, dass Exklusion nicht einfach ein sozial-wissenschaftlicher Modebegriff ist. Seine breite, wenn auch nicht ohne Kritik sich voll-ziehende Rezeption in Wissenschaft und Politik beruht vielmehr darauf, dass der Begriff einen neuen Zugang in der Analyse der Gefährdung der sozialen und demokratischen Qualität moderner Gesellschaften eröffnet. Es ist darum nahe liegend, dass er verstärkt in den Debatten um Modernes Regieren und Dritte Wege einer post-wohlfahrtsstaatlichen Ordnung gebraucht wird, die die Zielgenauigkeit staatlicher Interventionen betonen (Giddens 1998; 2001; Merkel 2000). Armut und Ungleichheit in ausschließlich materiellem Verständnis können die Desintegrationstendenzen und demokratische Herausforderung moderner Gesellschaften nicht präzise beschreiben. Zugehörig fühlt sich nur, wer in Interdependenzbeziehungen einbezogen ist, sei es am Arbeitsplatz oder in der Familie, und wer neben der materiellen in kultureller und politischer Hinsicht partizipiert.

Dass nun von einer „neuen” Sozialen Frage gesprochen werden kann, hängt vor allem mit einem veränderten historischen und gesellschaftlichen Kontext, mit der Rezeption durch die Betroffenen und die Öffentlichkeit sowie den Folgen, die dies für eine sinnvolle Bearbeitung der Problematik hat, zusammen. Die „alte” Soziale Frage handelte von Arbeiterelend und Ausbeutung. Heute wird unter dem Stichwort der „Entgrenzung sozialer Risiken” (Leisering 1999: 13) der drohende Abstieg von Teilen der Mittelschicht diskutiert, die sich maßgeblich aus denjenigen zusammensetzt, die in der Aufbauphase der Bundesrepublik über fast drei Jahrzehnte an Wachstum und Wohl-stand gewöhnt wurden. Der historische Kontext von Arbeitslosigkeit und Armut hat sich damit im Laufe von wenigen Jahrzehnten radikal verändert, weil er weder mit einer idealtypischen Arbeiterexistenz verknüpft ist (wie im 19. Jahrhundert) noch sich auf wenige Randgruppen beschränkt (wie in der Wiederaufbauphase nach 1945). Neu ist ferner die Wiederkehr der Verknüpfung von Arbeitslosigkeit und Armut, vor allem mit Blick auf die zunehmende Auflösung „traditioneller”, das heißt in der Phase des Wirtschaftswunders vorherrschender Beschäftigungsverhältnisse. In dem Maße, wie die Problematik sich nicht einer bestimmten Bevölkerungsschicht zuordnen lässt, bleibt zu-dem die Möglichkeit einer kollektiven Antwort verwehrt, wie sie die Arbeiterbewegung im Ausgang des 19. Jahrhunderts war. Schließlich haben sich neue Maßstäbe gesellschaftlicher Teilhabe herausgebildet. Mit der Entwicklung der Demokratie wird das Augenmerk zunehmend auf ihre sozialen Grundlagen gerichtet. Die Problematik der Ausgrenzung erhält damit ihre demokratietheoretische Relevanz. Zwar kann man durchaus auch bei der „alten” Sozialen Frage nicht nur von Ausbeutung, sondern auch von Ausgrenzung sprechen. Diese vollzog sich allerdings vorrangig über rechtliche und institutionelle Ausschlussmechanismen, wenn Teilhabe beispielsweise über das Wahlrecht eingeschränkt wurde. Heute hingegen nimmt Ausgrenzung „paradoxe Formen” an, wenn Zugehörigkeit und Ausschluss in einer Art „institutionalisierten Gleichzeitigkeit” (Kronauer 2002: 116) auftreten, weil die Substanz von Bürgerrechten nicht formal, sondern faktisch ausgehöhlt wird.

Wer sind die sozial Ausge­grenz­ten?

In der Literatur zählen zu den Ausgegrenzten vor allem diejenigen, die keinen Vollerwerbsarbeitsplatz (mehr) besitzen und auch keine anderweitige Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die Ausgrenzung ist damit zunächst materieller Natur. Sie erhält aber sogleich eine soziale Dimension, wenn sie Ausgrenzung aus Gemeinschaften, von kulturellen Aktivitäten oder Bildungschancen nach sich zieht. In einem Bericht der Europäischen Kommission werden Langzeitarbeitslose (und hier vor allem die Jüngeren in dieser Teilgruppe) und Obdachlose besonders hervorgehoben (Europäische Kommission: 1993). Un- und Angelernte, Personen mit Migrationshintergrund und Frauen (insbesondere Alleinerziehende) sind als Personenkreis mit einer besonderen Gefährdung einzustufen (Kronauer 2002: 15; 137).

Petra Böhnke stellt Ergebnisse einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahre 1993 mit dem besonderen Fokus auf Armut und soziale Ausgrenzung vor (Böhnke 2001: 15ff.). Danach fühlte sich in Deutschland nur eine verschwindend kleine Minderheit von einem Prozent vollständig aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Hingegen gaben neun Prozent für den Westen und 28 Prozent für den Osten an, dieses Gefühl zu einem gewissen Grad zu kennen. Daten des Wohlfahrtssurveys aus dem Jahre 1998 ergaben zehn Prozent Unzufriedenheit mit den sozialen Teilhabemöglichkeiten im Osten und fünf Prozent im Westen. Bezüglich Exklusion als Multi-dimensionaler Konstellation ist zu sagen, dass einerseits durchgängig bis zu knapp zehn Prozent der Bevölkerung in einem der Bereiche materieller oder sozialer Teilhabe Benachteiligungen erfahren. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung macht demgegenüber keinerlei Ausgrenzungserfahrungen. Aufgegliedert nach elf möglichen Risiken sozialer Ausgrenzung geben immerhin drei Prozent im Westen und sieben Prozent im Osten an, in mehr als drei Lebensbereichen Ausgrenzung zu erfahren. Zu den „wirklich Ausgeschlossenen” zählt Böhnke den Bevölkerungsteil, der objektiv sowohl materiell als auch bezogen auf soziale Partizipation Defizite aufweist und zusätzlich in subjektiver Einschätzung unter mangelnder sozialer Integration leidet. Ein Prozent im Westen und drei Prozent im Osten zählen zu dieser Kategorie. Von diesen arbeiten immerhin zehn Prozent in einem Vollzeitjob, 50 Prozent sind jedoch (langzeit-) arbeitslos oder behindert (ebd.: 24).

Dieses empirische Material unterfüttert das einleitend skizzierte Verständnis von sozialer Ausgrenzung. Die zentrale Bedeutung des Arbeitsmarktes für Exklusion Tendenzen heißt nicht, dass die jeweils aktuellen Bestände der Arbeitslosenstatistik mit der hier vorgestellten Gruppe der sozial Ausgegrenzten gleichzusetzen wäre. Vielmehr kann nur eine Minderheit unter den statistisch erfassten Arbeitslosen den von sozialer Ausgrenzung Betroffenen zugerechnet werden, während Teilbestände der von sozialer Ausgrenzung Betroffenen sich auch aus Arbeitsplatzbesitzern oder solchen rekrutieren, die im System der Arbeit nicht, nicht mehr oder noch nicht erfasst werden. Dies ließe sich im übrigen auch über eine Analyse von Struktur und Dynamik der Arbeitslosenbestände herleiten. Damit sollen freilich keinesfalls die teilweise gravierenden individuellen Folgen für viele von Arbeitslosigkeit Betroffene und ihre Familien verniedlicht werden. Wenn von einer Spaltung der Gesellschaft gesprochen werden kann, so vollzieht sich diese aber nicht entlang der in der Arbeitslosenstatistik ausgewiesenen Trennlinie zwischen Arbeitsplatzsuchenden und Arbeitsplatzbesitzern.

Ausblick auf die Zukunft der Arbeit — droht mehr oder weniger Exklusion?

Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt bleiben für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften entscheidend. Abschließend sollen deshalb Schlaglichter auf die Trends der Arbeitswelt geworfen werden mit dem Ziel, das Ausmaß an Gefährdung durch Tendenzen sozialer Ausgrenzung für die Zukunft besser einschätzen zu können. Welche Prognosen gibt es zur Zukunft der Arbeit angesichts globaler Trends, welchen Veränderungen ist die Arbeit selbst unterworfen? Ist ein Bedeutungswandel der Arbeit feststellbar, der ihren Stellenwert für die Menschen geringer werden lässt?

a) Das Ende der Arbeitsgesellschaft?

Die Diskussion um die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft, aufgeworfen bereits in den 1950er Jahren von Hannah Arendt (Arendt 1960), dauert nun schon mehrere Jahr-zehnte, ohne dass ein Konsens über die tatsächlichen Perspektiven zu erzielen wäre. Was sind die Triebfedern dieser prognostizierten Entwicklung und ist ihre Richtung tat-sächlich eindeutig?

Unter der Überschrift „Globalisierung” werden Szenarien diskutiert, die die verschärfte internationale Konkurrenz hervorheben. Dabei gerieten zunächst niedrig qualifizierte Tätigkeiten in der industriellen Massenproduktion in Bedrängnis. Diese Einschränkung ist mit der zunehmenden Bedeutung wissensbasierter Produkte, virtueller Prozesse und einer Aufholjagd in der Qualifizierung der Arbeitnehmer auch in (ehemaligen) Entwicklungsländern nicht mehr gegeben. Zum einen spiegelt sich diese Entwicklung in einer intensivierten internationalen Arbeitsteilung. Kaum ein Produkt ist zur Gänze Made in XY, sondern setzt sich aus Teilen zusammen, die an verschiedenen Orten der Welt hergestellt wurden. Zum anderen droht in den westlichen Industrieländern vermehrt die Abwanderung von Unternehmen, sei es zur Kostensenkung oder zur Markterschließung. Die Internationalisierung der Finanzmärkte flankiert diesen Prozess. Sie hat aber auch eine eigene Bedeutung, weil Investitionen weltweit je nach günstigen Konditionen und Renditen in unternehmerische oder spekulative Anlageformen fließen. Auch die Arbeit nimmt an der Globalisierung teil, wenngleich weniger mobil als das Kapital. Es wird erwartet, dass Migrationsbewegungen zunehmen, sei es aus Gründen von Verfolgung, wirtschaftlicher Not oder unter dem Stichwort war for talents. Das Saldo der Konsequenzen der Globalisierung für den Arbeitsmarkt in Deutschland ist „zumindest nicht unumstritten” (Weeber et. a1.1999: 45). Den Krisenszenarien steht die Einschätzung gegenüber, dass für den heimischen Arbeitsmarkt komparative Vorteile insbesondere bei technologisch hochwertigen Produkten bestehen und die Intensivierung der Handelsbeziehungen dem mehrfachen Exportweltmeister Deutschland eher nützen (Bonß 2000, 342ff.; Döring (Hg.): 1999).

Der technologische Fortschritt hat die beschleunigte Vernetzung der Welt erst ermöglicht. Die digitale Revolution gleicht in der Dimension ihrer Auswirkungen der industriellen, die ihr eineinhalb Jahrhunderte vorausgegangen war. Schon zuvor brachten die zunehmende Machinisierung und veränderte Organisation der Arbeit einen Produktivitätsfortschritt, der bedeutet, dass mit der gleichen Arbeitskraft mehr produziert werden kann oder eben das Gleiche mit weniger (Rationalisierung). Gleichwohl werden auch hier nicht nur Risiken, sondern auch Chancen gesehen, wenn der weitergehende technologische Wandel Innovationen hervorbringt, die auch neue Arbeitsplätze entstehen lassen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage 1998: Ziffer 472).
Alternde Gesellschaft, die These vom abflauenden Konsumbedarf (Strasser 1999: 72), ökologische Notwendigkeiten: Spätestens mit Erscheinen des Berichts an den Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums” (Meadows et. al. 1972) begann eine grundsätzlichere Auseinandersetzung über die Zukunft unseres Wirtschaftens. Der „Sieg” der kapitalistischen Ordnung über ihre Konkurrenten hat nur kurzzeitig die Frage in den Hintergrund drängen können, ob „das für den marktwirtschaftlichen Regelungsmechanismus absolut zentrale Wachstum nachfragewirksamer Bedürfnisse in seiner Wirkung auf Psyche, Umwelt und sozialen Zusammenhalt nicht mittelfristig doch zur schwer erträglichen Last” wird (Kocka 2001: 12). Schwächelnde Wachstumsraten und Massenarbeitslosigkeit wären in diesem Verständnis nur die Vorboten einer umfassenderen Krise.

Wie stellt sich die Frage nach dem „Ende der Arbeitsgesellschaft” empirisch im Zeitverlauf dar? Zentraler Indikator für die gesamtwirtschaftliche Erwerbsarbeit ist das Arbeitsvolumen. Tatsächlich sinkt es im längerfristigen Zeitverlauf. Die Zahl der Erwerbstätigen ist zwar tendenziell gestiegen. Auf der anderen Seite ist die durchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigem stark gesunken. Konjunkturkrisen führen jeweils kurzfristig zu einem kräftigeren Absinken, das in den wirtschaftlichen Erholungsphasen nicht kompensiert werden kann. So lag das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen der Arbeitnehmer im Jahre 2000 um sechs Prozent unter dem Stand des Jahres 1991 (Bach 2001: 1; Weeber et. a1.1999: 47).

b) Ausdifferenzierung von Arbeitsformen

Die Feststellung eines Wandels oder zumindest einer Ausdifferenzierung von Arbeitsformen ist wissenschaftlicher Konsens. Zugrunde liegen weniger (aber auch) menschliche Bedürfnisse als vielmehr Strukturwandel, technologischer Fortschritt, Deregulierung und betriebliche Strategien der Gewinnmaximierung (Dombois 1999: 18; Oschmiansky/Schmid 2000: 38). Die Feststellung einer „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ (Querschnittgruppe Arbeit und Ökologie 2000: 26) wird hingegen differenziert
betrachtet.

Zunächst ist die Feststellung einer Erosion eine Frage des Bezugspunktes. Gesicherte, womöglich arbeitslebenslange Stellung, tarifliche Entlohnung, die zur Ernährung der Familie ausreicht, mit Arbeitszeiten zwischen 35 und 38,5 Stunden, unbefristet —
diese als „normal” apostrophierten Zustände haben sich erst im Zuge des so genannten Wirtschaftswunders herausgebildet. Wichtiger noch: Diese Verhältnisse galten im weit überwiegenden Maße für Männer und dienten zur Konservierung von Familienstrukturen, die sich möglicherweise schneller gewandelt haben, als die hier zur Diskussion stehenden Arbeitsformen. Frauen haben tatsächlich schon immer flexibler sein müssen, mit einem Patchwork aus befristeten oder Teilzeitstellen, Phasen des Ausstiegs oder der Gleichzeitigkeit von Familienarbeit und Arbeit zur Einkommenssicherung. Auch die Vollbeschäftigung der 1950er und 1960er Jahre war eine Vollbeschäftigung der Männer, während Frauen zwar auch arbeiteten, aber vorrangig im Privaten, unentgeltlich und mit wenig gesellschaftlichem Ansehen. Es ist also im wesentlichen das männliche „Normalarbeitsverhältnis”, das gegebenenfalls unter Druck geraten ist. Die zentralen, ineinander verwobenen Trends, die diesen Druck auslösen, heißen Flexibilisierung, Pluralisierung und Individualisierung.

Die Arbeit wird in Bezug auf Zeit, Raum, Gegenstand und Organisation flexibler; Berufsbilder sind weniger fest gefügt, Zeitarbeit nimmt zu. Daneben stehen Arbeitszeitverkürzungen kollektiver Natur, sei es innerhalb einer Branche oder eines Betriebes und eine Zunahme von individuell ausgehandelten Teilzeitmodellen (Oschmiansky/Schmid 2000: 27ff.). Beispiele für eine räumliche Flexibilisierung sind Telearbeitsplätze, er-höhte Mobilitätsanforderungen an Arbeitnehmer oder innerbetriebliche mobile Büros. Was gearbeitet wird, ist zunehmend entstandardisiert, mit weniger Routinen durchsetzt, wandelt sich schneller. Die Arbeitsorganisation verändert sich inner- wie zwischenbetrieblich. Hiervon zeugen Netzwerke zwischen Betrieben, verstärkte Projektarbeit und Arbeit in Teams. Flexibilität bezieht sich auch auf die individuellen Erwerbsbiografien, die stärker von Diskontinuitäten geprägt sind und sein werden, Unterbrechungen auf-weisen und sich auch hinsichtlich hergebrachter Vorstellungen von kontinuierlichen Karrierestufen verändern (vgl. auch Dombois 1999: 15; Kocka 2001: 13).

Die Pluralisierung oder Diversifizierung der Arbeitsformen bezieht sich insbesondere auf vertragliche Konstellationen, die zunehmend auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse umfassen. Daneben spielen die Ausdifferenzierung der Tätigkeiten und die Beschleunigung bei der Veränderung der Arbeitsgegenstände eine Rolle. Qualifikationen verlieren so rasch ihre Wertigkeit, wenn sie nicht fortlaufend ergänzt oder on the job trainiert werden.

Individualisierung im Wandel der Arbeitsformen bezeichnet einerseits einen großen Fortschritt weg von Ausbeutung, Abhängigkeit, Fremdbestimmung hin zu mehr Eigenverantwortung, Freiheit und Unabhängigkeit. Die Kehrseite dieser Medaille ist allerdings auch sichtbar, wo der Konkurrenzdruck größer und auf den einzelnen Mitarbeiter oder ein Team projiziert wird oder wo Risiken über vertragliche Regelungen ganz auf die Seite der Arbeitnehmer abgewälzt werden (intrapreneurs). Nicht jeder hat das Zeug zum „Arbeitskraftunternehmer” (Bude 2000: 131) oder gar „Lebensunternehmer” (Lutz: 1998).

Empirisch jedoch ist „in der Bundesrepublik Deutschland […] das Normalarbeitsverhältnis — im Sinne unbefristeter Vollzeitbeschäftigung von Arbeitern und Angestellten — nach wie vor die mit Abstand häufigste Erwerbsform” (Oschmiansky/Schmid 2000: 35).

c) Die Bedeutung der Arbeit

Die Bedeutung der Arbeit wandelte sich in der Geschichte mit dem Wandel der allgemeinen Deutungsversuche menschlichen Tuns und weltlichen Seins. Bis in die Gegenwart hat die Arbeit eine fundamentale Bedeutungssteigerung erfahren. Aufgrund der fortschreitenden Reduzierung der Zeiten, die für (Erwerbs-) Arbeit aufgebracht werden muss, kann man zwar zu dem Schluss kommen, dass „auf Dauer […] die Erwerbsarbeit allmählich an existentieller und Lebens prägender Bedeutung für die Menschen verliert” (Strasser 1999: 57). Andererseits verweisen nicht nur die wilden Streiks bei drohenden Massenentlassungen wie im Oktober 2004 vor dem Bochumer Opel-Werk darauf, dass der Stellenwert von Arbeit heute weitgehend ungebrochen ist. So ist auch die zunehmende Erwerbsneigung von Frauen und Anstrengungen zur Erhöhung der Erwerbstätigenquote ein Signal dafür, dass über Arbeit weiterhin nicht nur materielle Bedürfnisse befriedigt werden. Vielmehr eröffnet und vermittelt sie weiterhin soziale Anerkennung, Selbstwert und Teilhabemöglichkeiten und entscheidet über Lebensqualität. Sie bleibt damit „Schlüsselkategorie” unserer Gesellschaft (Willke 1998: 15), auch wenn andere Daseinsbereiche, zumal solche mit einer klaren Affinität zu Arbeit (etwa im Bereich der so genannten Eigen-, Heim-, Bürger- oder Familienarbeit), an Bedeutung gewinnen: „Der Gegensatz zur Arbeit ist nicht Muße, sondern freie, selbst bestimmte Tätigkeit” (Beck 2000: 51). Der festgestellte oder prognostizierte Wertewandel vollzieht sich jedenfalls weder inhaltlich noch milieu- oder generationenspezifisch gleichgerichtet oder in klaren Alternativen. „Stabile Erwerbsorientierung bei abnehmender Erwerbszentrierung” ist die Formel, auf die Gerd Mutz die scheinbaren Widersprüchlichkeiten bringt (Mutz 2001: 15). Umgekehrt belegen auch aktuelle Studien die gravierenden psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit (Gallie et. al. 2002: 110). Die Aussage, „dass nicht Arbeitslosigkeit, sondern Geldlosigkeit das eigentliche Problem” (Beck 2000: 33) sei, ist darum eine Zuspitzung, die die Erkenntnisse einer ganzen Forschungsrichtung zu den (individuellen) Auswirkungen von Arbeitslosigkeit — ausgehend von der wegweisenden „Marienthal-Studie” aus dem Jahre 1932 — ignoriert (Jahoda et. al. 1975 [1932]).

Chancen und Hürden auf dem Weg in die Wissens­ge­sell­schaft

Droht nun von der prognostizierten Entwicklung am Arbeitsmarkt mehr oder weniger soziale Exklusion? Diese Frage hängt insbesondere mit den Qualifikationsanforderungen und der Struktur der Arbeitsnachfrage zusammen. Es steht zu befürchten, dass die skizzierten Veränderungen ihren Tribut insbesondere von denjenigen fordern werden, die Grenzen ihrer Weiterqualifizierung erreicht haben oder durch Arbeitslosigkeit sogar zurückfallen. Nicht zu unterschätzen sind dabei neben den Fachqualifikationen vor allem auch die unter die „Schlüsselqualifikationen” fallenden Sozialkompetenzen. Schließlich steigt die Bedeutung allgemeiner Kompetenz zur Lebensgestaltung angesichts der beschriebenen Prozesse fortschreitender Individualisierung, der Rückverlagerung von Verantwortung und damit auch Selbst-Verantwortlichkeit auf den Einzelnen und der Notwendigkeit, der eigenen Biografie öfter als in früheren Zeiten eine neue Richtung oder neue Schwerpunkte zu geben. Von elementarer Bedeutung ist, dass eine „fortschreitende Entwertung un- und angelernter Tätigkeiten” (Kronauer 2002: 103) die Chancen der Problemgruppe auf Integration weiter verknappt. Der „neue Arbeitsmarkt […], die haushaltsbezogenen Dienstleistungen” erzeugt darüber hinaus „marginalisierte Beschäftigungsverhältnisse”, deren Entlohnung kaum das nötige Haushaltseinkommen sichert und zudem überwiegend schwarz organisiert ist (Dangschat 1995: 52).

Die Chancen, die sich im Wandel bieten, erweisen sich vielfach als verkappte Hürden für diejenigen, die nicht mithalten können. Sicherlich war auch vor knapp 200 Jahren schwer vorstellbar, wie ein Volk von Bauern und Handwerkern einmal in den auf-strebenden Industrien arbeiten sollte. Dieser Prozess wurde am Ende, bei schwersten sozialen Verwerfungen, gemeistert. Eine ähnliche Frage stellt sich heute mit Blick auf die Wissensgesellschaft. Eine überzeugende Antwort steht noch aus.

Literatur

Arendt, Hannah 1960: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart.
Bach, Hans-Uwe 2001: Arbeitsvolumen steigt wieder dank mehr Beschäftigung, TAB Kurzbericht Nr. 3, Nürnberg
Barlösius, Eva et. al. (Hg.) 2001: Die Armut der Gesellschaft. Sozialstrukturanalyse, Bd. 15, Opladen Beck, Ulrich 2000: Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft beginnt?; in: Ulrich Beck (Hg.) 2000: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt/Main, S. 7-66
Böhnke, Petra 2001: Nothing left to lose? Poverty and social exclusion in comparison. Empirical evidence on Germany, WZB-discussion paper, Berlin
Bonß, Wolfgang 2000: Was wird aus der Erwerbsgesellschaft; in: Ulrich Beck (Hg.) 2000: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt/Main, S. 327-415
Bude, Heinz 2000: Was kommt nach der Arbeitnehmergesellschaft?; in: Ulrich Beck (Hg.) 2000: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt/Main, S. 121-134
Dangschat, Jens S. 1995: „Stadt” als Ort und Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32, S. 50-62
Döring, Diether (Hg.) 1999: Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt/Main
Dombois, Rainer 1999: Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37, 5.13-20
Europäische Kommission 1994: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert. Weißbuch, Brüssel
Gallie, Duncan et. al. 2002: Soziale Prekarität und soziale Integration. Bericht für die Europäische Kommission. Generaldirektion Beschäftigung, Brüssel
Giddens, Anthony 1998: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/Main Giddens, Anthony 2001: Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt/Main
Jahoda, Marie et. al. 1975 [1932]: Die Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt/Main
Judt, Tony 1997:, The social question redivivus; in: Foreign Affairs, Vol. 76, No. 5, S. 95-117
Kocka, Jürgen 2001: Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 21, S. 8-13
Kronauer, Martin 2002: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt/Main
Leisering, Lutz 1999: Eine Frage der Gerechtigkeit. Armut und Reichtum in Deutschland; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18, 5.10-17
Lutz, Christian 1998: Was ist ein „Lebensunternehmer“?; in: Dokumentation des 4. Kempfenhausener Gesprächs, hg, von der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank, München
Meadows, Dennis et. al. 1972: Die Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart
Merkel, Wolfgang 2000: Die Dritten Wege der Sozialdemokratie ins 21. Jahrhundert; in: Berliner Journal für Soziologie, 10. Jg., H. 1, S. 99-124
Mutz, Gerd 2001: Der souveräne Arbeitsgestalter in der zivilen Arbeitsgesellschaft; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21, S.14-23
Oschmiansky, Heidi/Schmid, Günther 2000: Wandel der Erwerbsformen. Berlin und die Bundesrepublik im Vergleich, WZB-discussion paper, Berlin
Querschnittsgruppe Arbeit und Ökologie 2000: Zukunft des Arbeitslebens; in: WZB-Mitteilungen 89, S. 26-29
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1998: Vor weitreichenden Entscheidungen, Jahresgutachten 1998/99, Stuttgart
Steinert, Heinz 1998 (Hg.): Politics against Social Exclusion, Project Papers Nr. 1, CASE-Project Opening Conference ,Vienna, December 3/4
Strasser, Johano 1999: Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, Zürich
Taylor, lan 1998: Limits of Market Society: European Perspectives; in: Heinz Steinert (Hg.): Politics against Social Exclusion, Project Papers Nr. 1, CASE-Project Opening Conference ,Vienna, December 3/4, S. 7-21
Vobruba, Georg 1998: Inclusion, exclusion. Towards a dynamic approach; in: Heinz Steinert (Hg.): Politics against Social Exclusion, Project Papers Nr. 1, CASE-Project Opening Conference,Vienna, December 3/4, S. 57-70
Weeber, Joachim et.al. 1999: Geht uns die Arbeit aus?; in: Arbeit und Sozialpolitik, 5-6/99, S. 44-55 Willke, Gerhard 1998: Die Zukunft unserer Arbeit, Bonn

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