Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Lob des Mittelmaßes

Unzeitgemäße Betrachtungen über einen prekären Begriff

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), S.84-91

Die sozioökonomische Krise in Deutschland zeigt Stehvermögen. An Ursachendeutungen herrscht ebenso wenig Mangel, wie — Hartz hin, Agenda 2010 her — an praktischer Ratlosigkeit. Mehr als ein fragwürdig begründetes Prinzip Hoffnung ist mit Blick auf den desaströsen Arbeitsmarkt und die sozialstaatlichen (Schief-)Lagen nicht in Sicht.

In dieser Situation gedeihen Versuche, wenigstens durch symbolische Aktion und forcierte Rhetorik ein wenig Entlastung und perspektivischen Optimismus zu schaffen. Jedenfalls fällt auf, dass es im aktuellen diagnostischen wie therapeutischen Diskurs eine Reihe semantischer Konstanten gibt: Botschaften in Endlosschleifen, die eine Grundmelodie, einen Generalbass im Veränderungskonzert, das zurzeit gespielt wird, intonieren. Ein Beispiel da-für ist das Wort Mittelmaß, ein Begriff, mit dem sich, schaut man genauer hin, eine ideologisch aufgeladene rhetorische Figur nach-zeichnen sowie Trends gesellschaftspolitischer Entwicklung entziffern lassen.

Nun muss nicht jeder Mediokrität, jedem flott deklamierten Mittelmaß hinterher gelaufen werden; zum „Unwort des Jahres” wird es die Vokabel ohnehin nicht bringen, dafür bleibt sie zu diskret. Aufmerksamkeit ist aber angebracht, zumal der jeweilige Kontext die Musik macht und dem Mittelmaß eine ganze Begriffs-Seilschaft höchst konzertant zur Seite steht: etwa der Ruf nach mehr Leistung und Exzellenz, nach mehr Effizienz und Wettbewerb, nach gesteigerter Kreativität und — natürlich — Innovation. Nicht zuletzt sind es immer wieder die Eliten, auf die sich begehrliche Blicke richten. Es gilt der Verdacht, mithin die Gewissheit, dass von derlei Qualitäten und Exzellenzen zur Remedur der ökonomischen Baisse flächendeckend zuwenig vorhanden ist. Und um die Ursachen auf eine griffige, zugespitzte und zugleich emotionalisierende Formel zu bringen, tritt die Invektive „Mittel-maß!”, das Attribut „mittelmäßig!” — zu lesen immer mit erhobener Stimme, erhobenem Zeigefinger und mit Ausrufezeichen — auf den Plan.

Bildung als Exempel

Mittelmaß und Absturz in die Mittelmäßigkeit lauern inzwischen überall. Den Nachweis da-für treten längst nicht mehr allein einschlägige „harte” Daten aus der Wirtschafts- und Finanzwelt an. Man setzt jetzt vermehrt auf „weiche” Indikatoren: Vergleichsdaten, Testergebnisse, Rankings aus den verschiedensten Bereichen rücken ins öffentlich-mediale Blickfeld. Man denke nur an die Reaktionen auf internationale Vergleichsstudien im Bildungsbereich (v.a. TIMSS, PISA), die seit ihrem Erscheinen erstaunliche Resonanz erfahren, eine Flut von Kassandrarufen ausgelöst und die bestehenden ökonomischen Krisenwahrnehmungen nachhaltig untermauert und verfestigt haben. „Die Bildung” hat sich zum Blitzableiter, mithin zum Ausfallbürgen gesamtgesellschaftlicher Entwicklung gemausert: „Bildungsmisere bedroht deutsche Wirtschaft”; „Bildungsnot bremst die Wirtschaft” wird etwa in Reaktion auf aktuelle OECD-Daten getitelt (Rheinische Post und Neue Rhein Zeitung vom 17. September 2003).

Hier zeigt sich mittlerweile eine ausgesprochen hartnäckige und mediengängige Symbiose: Meinhard Miegel etwa bescheinigt dieser Gesellschaft in toto, sie habe sich „das Mittel-maß zum Leitbild erkoren”; Annette Schavan, Schulministerin in Baden-Württemberg, geißelt die „Verliebtheit ins Mittelmaß” (zit. n. Die Zeit Nr. 13, 20. März 2003: 65); der Spiegel attestiert dem deutschen Bildungssystem nur noch „staatlich organisierten Niedergang”: „Die Bildungsideale — verstaubt. Die öffentlichen Schulen — vielerorts verlottert. Der Nachwuchs wird als akademisches Mittelmaß — solide nur in der Halbbildung — in die moderne Wissensgesellschaft entlassen.” (Der Spiegel Nr. 39/2002: 21) Sogar die Zeit sekundiert, die „meisten Bundesländer [trieben] ihre Schulen in die Mittelmäßigkeit” (Die Zeit Nr. 4, 16. Januar 2003: 1). Und ein Handelsblatt-Redakteur resümiert, , jahrzehntelang verfehlte, ideologisch-bornierte Bildungspolitik“ habe zu einem Schulsystem geführt, das „auf allen Ebenen zutiefst verfault” und damit mitverantwortlich sei für den „Absturz in das wirtschaftliche Mittelmaß” (Birnbaum 2003: 24). Über Schulen und Hochschulen, „Kunden” (Schüler, Studenten) wie „Betreiber” (Lehrer, Professoren, Administratoren), wird, so oder ähnlich, inzwischen tagtäglich der Stab gebrochen. Danach befinden wir uns in einem edukativen Ausnahmezustand: Land und Leute — ein Ausbund von Mittelmäßigkeit!

Was misst das Mittelmaß?

Aber was transportiert die Rede vom Mittel-maß? Was soll einem hier eigentlich nahe gebracht werden? Lässt sich damit überhaupt etwas Konkrete(re)s aussagen? Was ist die — so-zusagen ausgesprochen unausgesprochene — Funktion des Begriffs im öffentlichen, veröffentlichten Diskurs? Natürlich — so die alltagspraktische Annäherung — liegt die negative Konnotation auf der Hand. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn das Mittelmaß ins Spiel gebracht wird — nämlich ein Zuwenig, eine enttäuschte Erwartung: Es hätte eigentlich, „normalerweise” mehr sein sollen, sein müssen. Mittelmaß ist immer ein Vorwurf, mit dem — wie auch immer beabsichtigt und dosiert — Abwertung, sogar Beschämung einhergeht und einhergehen soll. „Die Mediokrität”, schreibt Hans Magnus Enzensberger, „ist das Aller-letzte. Verächtlicher kann ein Urteil nicht aus-fallen.” (Enzensberger: 1991: 261) Umgangs-sprachlich ist der Begriff also vertraut und gefürchtet. Genau dieser Common Sense wird aktuell ausgeweitet und instrumentalisiert. Eine positive Zuschreibung („gutes Mittelmaß“) ist jedenfalls nirgends erkennbar. Andererseits bleibt „die Mitte”, zumal als politische Mitte, ausgesprochen ambivalent und schillernd: So unbestimmt und vage die politische Mitte („neue“ oder „solidarische Mitte”) bleibt, so unbestimmt und vage kommt das Mittelmaß daher. Nur mit dem Unterschied, dass eben Mitte nicht gleich Mitte, dass gemessene (Mittelmaß) und umworbene („neue“) Mitte ganz verschiedene paar Schuhe sind und sein sollen.

So sehr die „neue Mitte” zum Maß aller Dinge in der politischen Kommunikation geworden ist, so sehr wird Mittelmaß zum negativen Leitbild, zum Leitwort sozialer, leistungsmäßiger Devianz stilisiert. Es geht um wenig Präzises, dafür umso mehr um einen Generalverdacht. Alles drängt zur Mitte, nur mittelmäßig darf eben nichts und niemand sein! Mit dankenswerter, zugleich denkwürdig Zeitgeistger Deutlichkeit hat der frühere Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, ein „dezidiert politisches Bekenntnis” der „solidarischen Mitte” formuliert: Es gehe dabei um die „Allianz der Tüchtigen in unserer Gesellschaft” (Scholz 2003).

Ein weiterer Hinweis betrifft den sprachlich-logischen Kontext: Wo vom Mittelmaß die Rede ist, sind andere Maße mit gedacht, muss es entsprechende Referenzmaße geben: Die Rede vom mittleren Maß setzt ein „Mehr” sowie ein „Weniger” voraus, also ein höheres, ein Höchstmaß, und ein minderes, ein Mindestmaß. Wer abschätzig vom Mittelmaß redet, hat dann anscheinend das „Mehr”, das Höchstmaß (die Exzellenz, höchste Leistung), vor Augen. Dass es neben, „unter” dem Mittelmaß ja noch ein „Weniger”, ein Mindestmaß, schließlich ein „Gar nichts” („Null“) geben muss und damit eine zu bestimmende, zu qualifizierende Relation, bleibt unbeachtet. Es bleibt bei dem Schwarz-Weiß-Bild, der schlichten Polarität Mittelmaß — Höchstmaß. Auch wenn das kleinkariert daherkommt: zumindest wird hier ein schiefes Bild gezeichnet, ganz ähnlich der — nicht abzustellenden — Rede von den „Unterprivilegierten” (was ja voraus-setzte, dass dann potenziell alle anderen privilegiert sind bzw, privilegiert sein könnten oder sollten — was soll der Unfug?).

Natürlich passt solche semantische Mobilmachung zum neoliberalen Zeitgeist, der eine Höchstleistungs- und Beschleunigungs-Offensive nach der anderen fordert und in Gang setzt. Man fühlt sich an alte DDR-Parolen („Weltniveau“) erinnert, und die Ahnung beschleicht einen, dass ein solcher „Dauer-Stachanow” — eine Ideologie, die sich an-scheinend systemübergreifend in den siegreichen Kapitalismus hinübergerettet hat — bestenfalls lebensfremd ist: Die fort- und aufgesetzte Reklamation von Spitzenplätzen, das Verlangen nach „Erster Liga” in allen gesellschaftlichen Bereichen, klingt irgendwann nur noch lächerlich. Und: Wer dauernd Höchstleistungen fordert und zum allgemeinen Maßstab ausruft, wird genau diese nicht bekommen — „rasender Stillstand” (Paul Virilio) wäre da noch die nachsichtigste Umschreibung. Wohl-gemerkt: Es ist und bleibt legitim, auch im Bereich von Schule und Hochschule, Bildung und Ausbildung die Beteiligten (Schüler und Lehrer) auf ein „Mehr” hin zu orientieren. Man schaut nun einmal zum Besseren, nicht zum Schlechteren, und das (gute!) Mittelmaß hätte dann als regulative Idee einen etwas entspannteren, weil allgemein orientierenden Sinn. Insistiert wird also nur, weil im angedeuteten Mainstream der Verwendung des Begriffs jede Relation; jedes wirkliche Maß hintan gestellt bzw, absichtlich vermieden, zudem kaum ein ernsthafter Gedanke an die durchaus komplexeren Gestehungsbedingungen von Leistung und Exzellenz verschwendet wird.

Exkulpationsstrategien

Mit der Dauerphilippika vom Mittelmaß wird also einer Höchstleistungs- und Höchstmaßideologie das Wort geredet, die sich andererseits doch nicht recht traut, offen aufzutreten: Die ganze Gesellschaft eine Ansammlung von potenziellen Höchstleistern und ausgewiesenen Mittelmaßverächtern? Das wäre denn doch zu albern. Wozu taugt das Mittelmaß aber dann? Eine andere Perspektive und Funktion scheint einleuchtender, nämlich die einer Abwehr von (materiellen) Ansprüchen sozusagen als begleitende Strategie auf der semantischen Alltagsebene: Der identifizierte „Minderleister” wird, so jedenfalls darf man erwarten, seine Ansprüche an Staat/Sozialstaat, Wirtschaft und Politik einsichtig und reumütig zurücknehmen und der Aufforderung, dem (seinem) Mittelmaß mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu entkommen, fürderhin widerspruchslos(er) nachkommen. Hier scheint ein Muster der Argumentation durch, an das wir uns gewöhnen sollen und vielleicht schon längst gewöhnt haben. Wer die Fehler zuerst, gar ausschließlich, bei sich selbst sucht, zudem auf diese Suche und eine entsprechende Bringschuld verpflichtet werden kann, der nimmt Gesellschaft und Politik nicht in ihrer Kontingenz, ihrer Veränderbarkeit wahr, der fragt erst gar nicht (mehr) nach Hintergründen, nach Kontexten und Strukturen, die ja eben-falls kritischem Blick ausgesetzt werden könnten.

Es ist schon faszinierend, wie mit der Gebetsmühle „Mittelmaß” die Komplexität gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge, politische und wirtschaftliche Verantwortung auf das Individuum umgebogen und damit weiterer Nachfrage entzogen wird. Nurmehr die Einzelnen sollen, müssen sich anstrengen. „Wenn du dich anstrengst und deinem Mittel-maß entkommst, und alle anderen auch so handeln, dann wird für alle alles (wieder) gut”, lautet die Botschaft. In den Debatten um die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 und die damit verbundenen (verkündeten) Verbesserungs- und Veränderungsaussichten speziell für den Arbeitsmarkt (Wachstum, Jobs, Ich-AG etc.) dokumentiert sich das deutlich genug. Hier scheint durch, was Stefan Chwin im Zusammenhang von Schule und Bildung treffend als „Terror des Optimismus” beschrieben hat (Chwin 2002): Den Betroffenen wird das Blaue vom Himmel versprochen, wenn sie denn bereit sind, nicht länger über die ihnen angetragenen Arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Konditionen und Zumutungen zu räsonieren. Auch beim Mittelmaß deutet sich schließlich eine „individualisierende Vergesellschaftung” an, die über die „magischen Floskeln” Aktivierung („aktivierender Staat“) oder Fördern und Fordern Veränderungsbereitschaft nurmehr beim Einzelnen anmahnt (Lessenich 2003). Hier wird die feingesponnene Synergie von Gesellschaft und Individuum, von Politik, Ökonomie und Kultur aufgelöst, wird politische und wirtschaftliche Verantwortung im Grundsatz neu justiert und in die Fläche verschoben. In der Tat: Es geht um Ablenkung, um die Eröffnung von Nebenschauplätzen, um eben nicht ans Eingemachte gehen zu müssen. Wer tagtäglich gesagt bekommt, er sei Mittelmaß und trage so ein (sein) Scherflein zum allgemeinen ökonomischen und gesellschaftlichen Elend bei, der bekommt eben ein (sein) schlechtes Gewissen und fragt nicht mehr nach. Die Schuld ist dann auf der individuellen Ebene angekommen — da, wo sie hin und bleiben soll. Das Mittelmaß wird zum semantischen Statthalter flächendeckender Schuldzuweisung und zugleich zum Schlüsselwort möglicher Entlastung und Erlösung.

Die Raffinesse liegt darin, dass in der Verwendung des Begriffs Ankläger und Angeklagte in eindeutiger Zuordnung und gleich-zeitig zur Sprache kommen. Mit besagtem Vorwurf werden nämlich nicht nur kompliziertere Gesamtzusammenhänge — wer oder was bestimmt eigentlich wie über genügende oder ungenügende Leistung und Anstrengung, über Leistungsbereitschaft und entsprechende Leistungskontexte? — umgangen, unterschlagen. Vielmehr erteilt sich derjenige, der den Verdacht vorbringt, auf mühelose Weise Generalabsolution: Mittelmaß, das sind immer die anderen, zumal diejenigen, die in der Regel wenig(er) Chancen haben, sich zu wehren, sich etwa gleich öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. So betrachtet ist das Mittelmaß zugleich ein strikt hierarchischer und macht orientierter, ein „Von-oben-herab-Begriff‘.

Mittelmaß ist also eine Kategorie des Generalverdachts, der präventiven Denunziation und zugleich Instrument eigener Entlastung: Nicht die Anklage bedarf der Legitimation und Begründung, sondern der Beklagte wird ultimativ zur Einsicht und zur Hinnahme/Akzeptanz entsprechender Maßnahmen aufgefordert. Nochmals die soziale Pointe: Wer andere des Mittelmaßes bezichtigt, exkulpiert sich dabei selbst, definiert sich, und zwar zwangsläufig, als Mehr- bzw. Höchstleister, als Exzellenz und Elite, als „Leistungsträger” (aktuell: mit dem Mandat zur entsprechenden sozial- und arbeitsmarktpolitischen Intervention und „Innovation“).

Das Steige­rungs­spiel selbs­t­er­nannter Eliten

Eine Gegenthese: Unsere Gesellschaft hat — gut sichtbar im Bereich von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik — längst jedes mittlere Maß sowie entsprechende Maßstäbe verloren. Man muss gar nicht allenthalben beklagte Mentalitäten und Praktiken im individuellen Verhalten vieler sogenannter Höchstleister betrachten; das Versagen vieler (selbsternannter) Eliten ist, die Beispiele der letzten Jahre sprechen Bände, notorisch. Gerade weil das so ist, liegt das Ausweichen auf andere Schauplätze nahe; denn sonst müsste man sich gegebenenfalls fragen (lassen), was es mit den allenthalben zu beobachtenden Maßlosigkeiten auf sich hat. Hier nur, zur Erinnerung, einige ganz alltägliche Beispiele. Was soll man von einer Wirtschaft — notabene: Politik — halten, die Fliegen zum Nulltarif als marktwirtschaftlichen Segen preist, noch jeden Acker der Republik mit Start- und Landebahnen als Standortfaktor bepflastern möchte, schließlich dazu animiert, jeden Anlass zum Fliegen zu nutzen. „Zum Shoppen nach Mailand, zum Baden nach Ibiza, ab-heben für 19,90 Euro, weniger als das Taxi zum Flughafen kostet” — so die Werbung. Der verkehrspolitische, ökonomische und ökologische Nonsens, der dem (immerhin!) hier und da attestiert wird, regt niemanden auf und hat bislang keinerlei ernsthaften Widerspruch erfahren; die weiterhin auf ungebremste PS-Treiberei setzt und dem geneigten Verbraucher sogenannte SUVs andient, Sport Utility Vehicles — eine den USA abgeschaute „Innovation”: überdimensionierte Geländewagen, mit denen man (vermeintlich) seinen Alltagsfrust in sitztechnisch erhöhter Position abbauen kann; die nur noch mit Geiz ist geil und immer abgedrehteren Marketingattacken bemüht innovative Produkte an Frau und Mann bzw. auch und vor allem an Kinder und Jugendliche bringt. Besonders deutlich in der Telefonie: Jeder möge wenigstens drei mit abstrusen Funktionen vollgestopfte, und im Gebrauch sündhaft teure Handys sein Eigen nennen und möglichst in Permanenz gleichzeitig bedienen. En passant: sodann werden über das Mittelmaß gerade der Jugendlichen Krokodilstränen vergossen, wenn es mit der Aufmerksamkeit, der Motorik, den Werten und der gemessenen Leistung — etwa bei der Lesekompetenz (PISA!) — nicht so recht klappt; — die von „Gewinnwarnung” redet, wenn sich nicht fortwährend die (via Shareholder Value erzwungenen) zweistelligen Zuwächse einstellen?

Das sind nur zufällig gewählte Beispiele für ein aus dem Ruder laufendes „Steigerungsspiel” (vgl. Schulze 2003: Slff.) und eine weit(er)hin unreflektierte Ökonomie, schließlich eine Politik, deren wohlfeile Maßstäbe hier füglich angezweifelt werden dürfen. In der Tat: Das, was gerade als Hinweis für Maßlosigkeit angeführt worden ist, steht anderen, den Anklägern der Mittelmäßigkeit, als hervorragendes Exempel für Leistung, Exzellenz und Innovation vor Augen, also als das, was sodann noch gesteigert herauskommt, wenn das Mittelmaß (der anderen) überwunden, abgeschafft ist.

Das Konzept des Wachstums, das aus diesen Beispielen spricht, verkörpert zweifelsohne den augenblicklichen Mainstream wirtschaftspolitischen wie wirtschaftswissenschaftlichen Denkens. Dieser Mainstream verdiente es allerdings, selbst in seinen eigenen „Minderleister“-Diskurs aufgenommen zu werden. Aber so weit wird es nicht kommen, denn aller tagtäglich einschlägigen Anschauung nach werden auch weiterhin Exzellenz, Leistung, Höchstmaß vor allem dort unterstellt, behauptet und mit entsprechendem Applaus (ökonomischen, sozialen, politischen Gratifikationen) bedacht, wo es davon eher wenig bis gar nichts zu bestaunen gibt: Jeder möge sich seine eigene Galerie erfolgreicher Vorbilder zusammen stellen. Der Buchhandel setzt übrigens auf „Bohlen als Hoffnungsträger” (Frankfurter Rundschau vom 8. Oktober 2003). Spaß beiseite: Unsere gesammelten Maßlosigkeiten lassen sich schließlich nur (noch) mit dem fortgesetzten Hinweis auf das Versagen, die Defizite, die Mittelmäßigkeit anderer verteidigen und begründen.

Maßlo­sig­keit — eine gesell­schafts­po­li­ti­sche Sackgasse

Die wirtschaftspolitische und wissenschaftliche Diskussion kennt so gut wie keinen Widerspruch mehr zu den euphorischen Erwartungen, die sich mit den aktuellen Reform-Kaskaden verknüpfen. Es gibt einzelne Rufer in der Wüste, die wenigstens darauf hinweisen, dass es wohl eher nicht die (faulen) Arbeitslosen und (trägen) Sozialhilfeempfänger sind, die die Republik mit aller Gewalt in der ökonomischen Baisse halten, sondern vielmehr einige (makro-) strukturelle Probleme überhaupt einmal beachtet und (wirtschafts- und sozialpolitisch) anders bewertet und konzeptionell angegangen werden müssten. Man wird Bourdieu kaum widersprechen können, dass eine „neoliberale Vulgata, eine ökonomisch politische Orthodoxie, […] so universell durchgesetzt und so einmütig akzeptiert ist, dass sich jegliche Diskussion und Infragestellung zu verbieten scheint” (Bourdieu 2001: 7f.). Gleichwohl bedarf es der Begleitmusik, und sodann hat eben (auch) das Mittelmaß seinen Einsatz: es begründet, wie gezeigt, warum die Lage so ist, wie sie ist, und es baut zu-gleich schon vor für den (nicht ganz unwahrscheinlichen) Fall, dass alles doch wieder nicht so kommt, wie geplant und erhofft. Man ahnt im übrigen, dass die, die das Mittelmaß am lautesten deklamieren, gar nichts anderes wollen; eigentlich soll die Gesellschaft, ihre Stratifikation, so bleiben, wie sie ist: oben und unten, Mittelmaß auf der einen, Exzellenz und Elite, Macht und Herrschaft, auf der anderen Seite.

Was also kann man mit einer ganz und gar mittelmäßigen Gesellschaft schon anfangen? Zumindest kann man ihr ihre überzogenen Ansprüche entgegenhalten. Dass es auch die Maßlosigkeit ökonomischen (ökonomistischen) Zugriffs auf die Gesellschaft sein könnte, die heute ein Vorankommen behindert, gerät nicht in den Blick. Wie auch, wenn es nicht zuletzt die Protagonisten genau dieses Zugriffs sind, die zugleich jene ökonomische Orthodoxie und die Rede vom Mittelmaß nach Kräften befördern. Der Unternehmens- und Politikberater Roland Berger möchte das Land vor dem „Absturz ins Mittelmaß” bewahren (Frankfurter Rundschau vom 6. Dezember 2003) und McKinsey-Chef Jürgen Kluge widmet sich seit einiger Zeit dem „gravierendsten Problem”: unserer Bildungsmisere, die aus „Gleichmacherei und Mittelmaß für alle” entstanden sei (Kluge 2002). Dirk Kurbjuweit hat kürzlich den „McKinsey-Menschen” beschrieben (Kurbjuweit 2003), dem bereits jetzt jede Möglichkeit, irgendwann und irgendwie einmal mittelmäßig zu sein, nach Kräften und sehr ziel-, sprich effizienzorientiert abtrainiert wird. Vielleicht bekommen wir ja ä la longue den „genuinen Höchstleister”, die Vision und die Utopie eines bio- und gentechnologisch beförderten Abschieds vom Mittelmaß.

Mehr Mittelmaß wagen

Wo bleibt das Positive? Gleichsam dialektisch gewendet, soll abschließend das Lob des Mittelmaßes angestimmt, eine andere Haltung, ein anderer Common Sense wenigstens angedeutet wird. Was, lautet die Frage, wären wir eigentlich ohne das Mittelmaß, die Mittelmäßigen? Anders formuliert: Gibt es Hinweise auf ein Mittelmaß, welches lohnte, in den Alltag, in den Diskurs (zurück)geholt zu werden? Bei Herder findet sich 1767 folgender Hinweis:

„Was ist denn aber an Genies gelegen? Desto mehr liegt uns an brauchbaren Männern. Zu diesen wird eine glückliche Temperatur von Gaben und Geschicklichkeiten erfordert: demie in Bayern, 32. Jg., H. 6, S. 1-3 Frankfurter Rundschau vom 7. August Scholz, Olaf 2003: Gerechtigkeit und Solidari- Schulze, Gerhard 2003: Die beste aller Welten.

Die Umgestaltung des Sozialstaats und die Jahrhundert? München/Wien Zukunft sozialdemokratischer Politik; in: eine gewisse Mittelmäßigkeit, die sich nicht zu Genies und Geistschöpfern hebet und nicht zu dummen Dorfteufeln herabsinkent, eine mittlere Größe, die eben den Punkt der Nutzbarkeit trifft.“ (Zit. n. Enzensberger 1991: 250.)

Die Pointe läge auch heute in der „Nutzbarkeit” der „mittleren Größe” – ein mittleres Maß, dem allerdings nicht nur schiere Existenzberechtigung (qua Nützlichkeit) zuzuerkennen, sondern mit Nachdruck ein besonderes Surplus zu attestieren wäre: Das Mittelmaß ist und bleibt eine Conditio sine qua non — es geht gar nicht ohne, wenn der Laden laufen soll. Es gibt, soviel scheint sicher, ein komplexeres Zusammenwirken der Kräfte, Möglichkeiten und Antriebe in der Gesellschaft. In der Tat: auch hier muss an das „wir”, die Gesellschaft als Ganzes und ihre oft ziemlich diskreten Synergien erinnert werden. Karl Georg Zinn hat darauf etwa für den ökonomischen Kontext hingewiesen: Beim Standortwettbewerb komme es nicht nur auf Sieger an – leben und arbeiten müssen alle, nicht nur die Sieger. Deshalb sind nicht allein Spitzenleistungen entscheidend, sondern eine gesamtwirtschaftliche Konstellation, die auch den ,normal` Leistungsfähigen das Überleben gewährleistet (Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2002). Das klingt nur auf den ersten Blick pathetisch bzw. trivial — es ist bitter ernst. Denn genau diese, eigentlich selbstverständliche Konstellation droht auch mit Hilfe der skizzierten Semantik aus den Fugen zu geraten. Um den Gedanken zuzuspitzen: Wir brauchen heute nicht weniger, sondern mehr Mittelmaß! Das gälte zunächst im Sinne einer erneuerten grundsätzlichen Qualitätsdiskussion: Ziel bliebe immer noch, sich an der einen oder anderen Stelle auf ein mittleres Maß einzustellen, nicht jedwedem, noch so absurden, Wachstum das Wort zu reden.

Vielleicht führt folgender Hinweis auf die richtige Spur: Sibylle Berg berichtet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift Meisterwerke passieren, wenn alle ihre Arbeit machen über eine gelungene Theateraufführung (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Oktober 2003). Diese künstlerische Beobachtung führt, wie mir scheint, nahe an das heran, was auch heute, angesichts überbordender und kurzgeschlossener Elite-Debatten, wieder ins Bewusstsein zurück geholt werden sollte: die Sensibilität für die Bedingungen der Möglichkeit des gemeinsamen Projekts Gesellschaft, dem man etwas mehr Nachdenklichkeit, Unaufgeregtheit, Anteilnahme – und gerade damit realistischere Aussichten auf Erfolg empfehlen möchte.
Schließlich die Gretchenfrage: Bedeutet ein solches Plädoyer die Negation von Spitzenleistung und Exzellenz? Natürlich nicht. Exzellenz und Exzellenzen haben wir — in vielerlei Hinsicht – bitter nötig. Aber ihr Zustandekommen, ihre Realität im gesellschaftlichen Prozess, ihre Relation im ökonomischen, politischen und soziokulturellen Gesamtzusammenhang muss wieder etwas gerade(r) gerückt werden. Gelänge dies – das wäre ganz exzellent.

Literatur

Birnbaum, Christoph 2003: Vielstimmiges Schweigen über schlimme Missstände; in: Trend. Zeitschrift für soziale Marktwirtschaft, Nr. 97, IV. Quartal, S. 24-27
Bourdieu, Pierre 2001: Gegenfeuer 2. Für eine
europäische soziale Bewegung, Konstanz
Chwin, Stefan 2002: Der Terror des Optimismus;
in: Kafka H. 7, S. 20-25
Enzensberger, Hans Magnus 1991: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt/Main
Kluge, Jürgen 2002: Manifest zur Bildung/Kongress „McICinsey bildet” 2002 in Berlin (Redemanuskript)
Kurbjuweit, Dirk 2003: Unser effizientes Leben. Die Diktatur der Ökonomie und ihre Folgen, Reinbek, 2. Aufl.
Lessenich, Stephan 2003: Der Arme in der Aktivgesellschaft – zum sozialen Sinn des „Förderns und Forderns` ; in: WSI-Mitteilungen, H. 4, S. 214-220
Miegel, Meinhard 2002: Verdrängte Wirklichkeiten. Die Lebenswelt der Deutschen; in: Zur Debatte. Themen der Katholischen

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