Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Sozial­de­mo­kratie ohne Solida­ri­tät?

Wandlungen eines linken Begriffs in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert

aus: Vorgänge Nr.168 ( Heft 4/2004 ), S.56-64

Gegen die Sozialpolitik der rot-grünen Koalition regte sich im Sommer 2003 gesellschaftlicher Widerstand. Die Diskussionen über die Agenda 2010 mündeten vielerorts in Protestaktionen wie den „Montagsdemonstrationen”. Dabei wurde auf den Transparenten immer wieder Solidarität als Wert der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften akklamiert. Die Diskussionen um die Renten und den ,Krieg der Generationen‘ beschränken sich häufig instrumentalistisch auf das ,Wer zahlt Wem‘. Dabei werden die Gesellschaftsmitglieder eher als gegenseitige Kostenfaktoren definiert denn als Partner eines Vertragssystems, einer sozialen Gegenseitigkeit unter Gleichen in einem ,solidarischen` System. Ist Solidarität noch ein linker Wert, auf den sich ein Verständnis politischer und sozialer Gegenseitigkeit gründen könnte? Symbolisiert er noch Emanzipation und Gleichheit? Und wird dieser Wert noch durch eine sozialdemokratische Regierungspartei vertreten? Diese Fragen versuche ich im folgenden durch eine Untersuchung der Reden sozialdemokratischer Bundeskanzler zum Thema Sozialpolitik zu beantworten – vor dem Hintergrund der politisch-kulturellen Traditionsbestände des Begriffes.‘ Nach einer Skizze der linken historischen Interpretationen werden die Solidaritätsdeutungen von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder sowie der Grundwertekommission der SPD analysiert.

Linke Traditionen des Solida­ri­täts­be­griffs

Der Begriff Solidarität bezeichnete in seiner deutschen wie französischen Geschichte vor allem eine Beziehung zwischen Gleichen im Kontrast zu asymmetrischen Beziehungsbegriffen wie Hilfe, Fürsorge, Mendicite. Diese Beziehung zwischen Gleichen konnte in gegenseitiger Hilfe in asymmetrischen Situationen Ausdruck finden, blieb aber eine symmetrische Beziehung, die einander gegen Risiken versicherte, die jeden gleichermaßen und unverschuldet treffen könnten.

Drei Deutungsrahmen mit Potential zu politisch-kultureller Tradierung sind zentral; allesamt entstammen sie der Geschichte des linken Milieus: 1, die politische Solidarität der internationalen Arbeiterbewegung, als Selbstverständnis geeinter Macht und als im Gegensatz zu Brüderlichkeit weniger gefühlsbetonte Einigungsvokabel; 2. die zukunftsweisende Solidarität unter Gleichen in der kommunistischen Gesellschaft von Karl Marx; 3. die integrative Solidarität von Wilhelm Liebknecht, die die von Marx in die Zukunft verlegte gesellschaftliche Solidarität in die Gegenwart stellt und damit eine integrative und weniger kampfbetonte sozialistische Politik vorschlägt.

Bei der historisch-semantischen Recherche nach den Solidaritätstraditionen trifft man auf die ersten frühsozialistischen Deutungen von Solidarität in Frankreich und kann dann theoretische und politische Deutungen in den verschiedenen Milieus (Katholizismus, Protestantismus, Arbeiterbewegung, Freimaurer, etc.) in Frankreich und Deutschland verfolgen. Die Verbreitung und Verwendung des Begriffs in der politischen Kultur in Deutschland beschränkte sich im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im wesentlichen auf die linken und die katholischen Milieus und Deutungskulturen. Eine Reihe historischer Arbeiten haben bislang die Geschichte der Arbeiterbewegung als Geschichte der Solidarität beschrieben; Kampfsolidarität und das Arbeiter-Lebensgefühl „Solidarität” wurden dabei unhinterfragt als Solidaritätstraditionen präsentiert.[2] Doch bei genauerer Betrachtung zeitgenössischer Quellen erschließt sich eine weitaus größere Bedeutungsbreite und -geschichte des politischen Begriffs. Wenn man sich Partei- und Gewerkschaftstage, verschiedene sozialdemokratische Parteidokumente sowie die Protokolle der Internationale anschaut, wird ein Spektrum linker politischer Deutungen von Solidarität sichtbar, das sowohl klassenexklusive als auch klassenübergreifende integrative Solidarität aufweist.

Für Marx war Solidarität ein Alternativbegriff zur Brüderlichkeit, die ihm für das Proletariat nicht mehr politisch verwendbar schien. Seine Exiljahre in den 1840er Jahren in Paris hatten ihm den Begriff der Brüderlichkeit fragwürdig erscheinen lassen: In Frankreich vereinte dieser semantisch auch Wohlhabende und Unternehmer mit den Unterschichten, trotz sozialer und ökonomischer Ungleichheit (Schieder 1991). Die Klassenexklusivität eines politischen Kampfbegriffes konnte Solidarität deutlicher symbolisieren. Erst in der kommunistischen Gesellschaft, so die Deutung Marx‘, sollte Solidarität als Gesellschaftsprinzip gelten können, da sie eine Gesellschaft von Gleichen wäre (MEW 3: 424f. [Die deutsche Ideologie]).

In den Protokollen der Internationale ist Solidarität im Klassen exklusiven politischen Sinn wiederzufinden. Einerseits einte der Kampfbegriff der Klassensolidarität zielgerichtet im Hinblick auf die Realisierung einer solidarischen Gesellschaft, andererseits entwickelte sich Solidarität auch zu einer politischen Machtressource der Bewegung, die entzogen oder zugeteilt werden konnte. Solidarität war die politische Währung der Internationalen; sie wurde gewährt oder auch nicht – und war auch akklamativ für einen Trinkspruch gut (Arbeiter-Congress 1889: 128). Zudem konnte durch den Begriff Unterstützung und Empathie versichert werden (Solidaritätsadressen). Die deutschen Delegierten betonten auf den Kongressen mehrfach die in Deutschland besonders ausgeprägte internationale Solidarität (Arbeiter-Kongress 1893: 4f.). Durch die semantische Verbindung der Korrespondenzen, Aufrufe und Anteilnahmen mit dem Begriff der Solidarität konnte die Identitätsbildung der deutschen Arbeiter in Verknüpfung mit der internationalen Solidarität verlaufen.

Neben der klassenexklusiven Deutung als politische Währung und der in die Zukunft weisenden Deutung von Solidarität unter Gleichen in einer kommunistischen Gesellschaft durch Marx gab es noch eine dritte Deutungsvariante in der Linken. Wilhelm Liebknecht vertrat seit den 1870er Jahren die integrative und klassenübergreifende Solidarität als höchstes Kultur- und Moralprinzip: „Der Fundamentalsatz aller Moral: Tue deinem Nächsten, was du willst, dass er dir tue, ist das Produkt der Not, welche die Erkenntnis hervorrief, dass die Menschen solidarische Interessen haben. Freilich, diese Solidarität galt anfangs nur für den engsten Kreis der Angehörigen und wurde nur in einer langen Schule unangenehmer Erfahrungen allmählich erweitert, bis wir jetzt endlich so weit gelangt sind, daß die letzten Schranken der Solidarität bloß noch durch die Gewalt der Bajonette aufrechterhalten werden können. Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus.” (Liebknecht 1976 [1871]: 99) Die Rede Liebknechts wurde in mehreren Auflagen in den folgenden Jahren publiziert und erreichte große Verbreitung (Liebknecht 1976: 368, Anm. 57).

In der Arbeiterbewegung standen gemeinsames Handeln, gemeinsam geteiltes Risiko und politisches Ziel im Mittelpunkt der Kommunikation und Solidaritätsdeutungen. Erfahrungen gemeinsamen Handelns gründeten und stabilisierten die Bindungen und
versicherten die Beteiligten einander. Diese appellative Funktion des Begriffs wurde unterstützt durch die bisherige Zuverlässigkeit proletarischer und internationaler Solidarität. Erfahrung schuf die Kontinuität nicht nur eines Solidaritätsverständnisses, sondern auch des politischen Zusammenhalts unter diesem Symbol. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist somit auch die Geschichte von Solidarität als politischem Schlüsselbegriff.[3]

Solidarität in den Reden sozial­de­mo­kra­ti­scher Kanzler

Solidarität gehört neben Gerechtigkeit und Freiheit zur Trias der „Grundwerte” des Godesberger Grundsatzprogramms der SPD von 1959. Eine Analyse des Deutungsgehalts eines dieser Grundwerte muss die Parteitexte und die Grundwerte als Basis sozialdemokratischer Politik einbeziehen. Im Godesberger Programm sind die Grundwerte beschrieben als „autonome Wertbasis” sozialistischer Politik – sie sind „Grundwerte sozialistischen Wollens” (SPD 1959). Auf die Letztgültigkeit von Wertvorstellungen verzichtete die SPD im Gegensatz zu den Christdemokraten mit deren Berufung auf das christliche Menschenbild (z.B. CDU 1994: Kap. 1 „Grundlage und Orientierung unseres politischen Handelns sind das christliche Verständnis vom Menschen und die daraus abgeleiteten Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.”) Die SPD wollte programmatisch auch im Zusammenhang mit den Grundwerten eine Offenheit für gesellschaftliche Veränderungen schaffen (Charlier 1978; Schlei/Wagner 1976). Im Gesamttext des Godesberger Programms banden diese Grundwerte nicht nur, wie im ursprünglichen sozialistischen Verständnis, die Mitglieder und Mitstreiter des demokratischen Sozialismus, sondern waren gleichsam ein Minimalethos der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Das Berliner Programm von 1989 betonte diesen integrativen Charakter der Grundwerte vor dem Hintergrund der Geschichte der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie ebenfalls. Auch der partizipatorische Ansatz sozialdemokratischer Politik- und Programmgestaltung ist im Berliner Programm sichtbar (SPD 1989/98).

In den Parlamentsreden sozialdemokratischer Regierungschefs seit 1969 wurde da-gegen die frühere, Klassen exklusive Solidarität der Internationale und der deutschen Arbeiterbewegung nicht mehr aufgenommen. Vor dem Hintergrund der Parteigeschichte einer SPD, die sich programmatisch von der Arbeiterpartei zur Volkspartei und mit Schröder zur – wie auch immer verstandenen – „neuen Mitte” entwickelte, überrascht das kaum. Die integrative Deutung von Solidarität im Sinne Wilhelm Liebknechts hin-gegen ist in den Reden der Kanzler Schmidt und Brandt präsent; sie entspricht auch dem Godesberger Programm.[4] Die Verantwortungssolidarität Brandts und das Ethos der Solidarität Schmidts weisen in ihrer integrativen Form auch inhaltliche Ähnlichkeiten zur französischen traditionellen linksrepublikanischen Deutung von Solidarite auf. „Re-formen bestehen nicht in der Befriedigung von Gruppenegoismen, sondern in Veränderungen, die uns im Ganzen voranbringen. In einer arbeitsteiligen, hochspezialisierten Gesellschaft müssen sich alle Bürger ihrer gegenseitigen Abhängigkeit bewusst werden. Im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft muss die Solidarität Vorrang gewinnen vor engem Gruppendenken.” (Brandt 1971: 6394) „Es ist notwendig, uns immer wieder daran zu erinnern – und die Bürger mit uns – was heutzutage ,Staat machen‘ heißt: nämlich daß sich die organisierte Gemeinschaft der Bürger für die vielen einzelnen in den Dienst nimmt. […] Es braucht außerdem keine preußische Übertreibung, um zu begreifen, daß eine Bereitschaft zum Dienst – heute würden viele statt dessen lieber Solidarität sagen – weithin die Qualität einer Gesellschaft bestimmt.” (Brandt 1973b: 2494; vgl. Brandt 1969; Schmidt 1976b und c) Anknüpfungen an die Arbeiterbewegung und die Internationale lassen sich in Zusammenhang mit der Verteidigung des Sozialismus gegen Diffamierungen durch die konservativen Parteien feststellen (vgl. Brandt 1974; 1973a; Schmidt 1976a). Eine Besonderheit ist die „Solidarität der Demokraten”, die Schmidt und Brandt als einigenden Begriff zur Abgrenzung gegen Linksextremismus verwendeten (z.B. Brandt 1971: 8338; Schmidt 1977: 148). Kanzler Schmidt verwies die Christdemokraten zudem auf die Solidaritätsdeutung der katholischen Soziallehre, um Zustimmung für seine Sozialpolitik zu erwirken (Schmidt 1976b: 17005f.).

Gerhard Schröder verwendet Solidarität hingegen nur noch als Terminus technicus für Sozialpolitik und Interessenausgleich und kombiniert Solidarität mit notwendiger individueller Vorleistung als Anspruchsgrundlage. Weder die historischen Kategorien noch sonstige Anknüpfungen an linke Werttraditionen sind in seinen Reden erkennbar, während der Begriff der Eigenverantwortung an zahlreichen Stellen aufgewertet wird (z.B. Schröder 1998; 1999b). Vor dem Hintergrund der Geschichte der Partei und ihrer
Programmatik wird deutlich, dass sich Schröders Auffassung linker Werte auch vom sozialdemokratischen partizipatorischen Wertverständnis löst. Nicht die Gesellschaft ist Diskursort für die Veränderung und Anpassung von Werten, sondern er selbst und seine Regierung definieren das „Gemeinwohl” (vgl. Offe 2003). Diesen eher konservativ geprägten Begriff verwendet Schröder unhinterfragt parallel zu sozialdemokratischen Termini: „Aber die Regierung ist auch nicht verlängerter Arm der Gewerkschaften. Wir definieren das Gemeinwohl. Daran haben sich die Vertreter der einen wie der anderen Seite zu orientieren.” (Schröder 2003: 32; Hervorh. v. G.R.)

Während Brandt und Schmidt noch die Geschichte der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in ihre Reden einbrachten, um die abhängig Beschäftigten als Klientel an-zusprechen und die Verdienste der Linken in der Sozialpolitik zu betonen, greift Schröder nicht einmal symbolisch darauf zurück. Weder das republikanische Element der Verantwortung füreinander in der Gesellschaft — wie von Brandt ausgeführt —, noch die gesellschaftliche Solidarität, für deren Erhalt der Staat Verantwortung zeigen muss — wie Schmidt erklärte —, sind nur ansatzweise in Schröders Reden wiederzufinden. Zwei Beispiele: „Staatliche Handlungsfähigkeit ist dabei kein Selbstzweck. Aber sie ist Mittel zum Zweck, um Solidarität in unserer Gesellschaft durch Politik zu organisieren, um Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen.” (Schröder 1999c: 4828) „Diese Probleme wer-den so gelöst werden, daß die notwendige Solidarität gewährleistet wird, ohne daß das Recht des einzelnen auf ein selbstbestimmtes Arbeitsleben eingeschränkt wird. Das ist die Aufgabe, die wir lösen werden.” (Schröder 1999a: 3102)

Die Subjekte der Solidarität, die Mitglieder der Gesellschaft, tauchen als solche nicht mehr auf. Handelnde und Ausführende der Solidarität sind die Politiker. Solidarität wird von Schröder, aber auch im Regierungsprogramm der SPD 2002-2006 (52) asymmetrisch formuliert, z.B. als Solidarität der Gesunden mit den Kranken und der Starken mit den Schwachen. Auch darin sind die handelnden Subjekte die Bessergestellten in einer asymmetrischen Beziehung — und nicht beide Seiten der asymmetrischen Situation in einer symmetrischen Beziehung. Krank oder schwach zu sein ist nicht einer spezifischen Gruppe als Dauerzustand zuzuschreiben, sondern eine Situation, die als Risiko alle Mitglieder eines solidarischen Systems wie der Arbeitslosenversicherung oder der Krankenversicherung gleichermaßen treffen kann. In diesem Bewusstsein würden Bedürftige nicht derart konsequent als die ,Anderen`, die es zu versorgen gilt, definiert. Inklusion und Exklusion werden auch in dieser asymmetrischen Solidaritätsverwendung deutlich. Aus diesem Grund ist es semantisch schwierig, gerade den Begriff Solidarität hervorzuheben und damit die Symmetrie der Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder im sozialpolitischen System zu betonen. Denn das „Wer muss Wem zahlen” in der Rhetorik Schröders stellt vor allem die Belastung der vermeintlich gerade Starken und Wohlhabenden dar und nicht den gegenseitigen Risikoausgleich unter Gleichen.

Dieser Trend der Deutungsentleerung bei Gerhard Schröder muss nicht zwangsläufig die Diskussionen in der Partei und um ihre Programmatik prägen. Um sozialdemokratische Deutungen von Solidarität genauer zu betrachten, lohnt der Blick auf die Diskussionen der Grundwertekommission und des sogenannten Programmdialogs. Dort werden wiederum andere Solidaritätsdeutungen in den Vordergrund gestellt: praktische Solidaritätserfahrungen der Gesellschaftsmitglieder, Solidarität als notwendige sozial-moralische Ressource, Solidarität in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der SPD, als Verstärkung der sozialpolitischen Erfolge und zur Legitimation der aktuellen Politik. Solidarität wird gleichgesetzt mit den Erfolgen der Sozialdemokratie bzw. deren Sozialpolitik. Solidarität wird als Erfahrung der Verbesserung der sozialen Situation beschrieben, so beispielsweise im Jahr 2000 vom geschäftsführenden Vorsitzenden der Programmkornmission Rudolf Scharping in der Grundwertekommissions-Sitzung zur Solidarität. Scharping betont auch die Erfahrung praktischer Solidarität in der sozialdemokratischen Tradition und in der Arbeiterbewegung (Scharping 2000). Allerdings dient dieses Argument dazu, Solidarität auch wieder in die Eigenverantwortung der Bürger zurückzugeben und weniger staatliche Garantien anzubieten. An den Diskussionen der Grundwertekommission zur Solidarität lässt sich zeigen, dass gesellschaftliche Solidaritätserfahrung und Solidaritätspraxis als motivationale Dimension des Begriffes betont werden (siehe in SPD 2000: Heidemarie Wieczoreck-Zeul und Wolfgang Thierse, aber auch der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler). Aus Solidaritätserfahrung folgt aktive Solidarität. Der Erhalt der sozialmoralischen Ressource Solidarität und damit des sozialen Engagements und der Akzeptanz von sozialen Sicherungssystemen auf Basis der Gegenseitigkeit wird als politisches und notwendiges Ziel beschrieben. Der Verweis auf die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung und der frühen Sozialdemokratie wird in der Regel zur Verstärkung und Betonung des Begriffs in sozialdemokratischer Prägung eingebracht und zwar unabhängig davon, welche moderne Deutung folgt.

In einer weiteren Runde der Grundwertedebatte warnen die geladenen Experten die SPD allerdings davor, das historische Argument nur legitimatorisch zu verwenden. Warnfried Dettling und Jürgen Kocka weisen auf die historische Verknüpfung der Werte mit der Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und ihre Deutung im Licht der aktuellen Veränderungen hin: Die neuen politischen Aufgaben, denen sich die Sozialdemokraten stellen, wie beispielsweise Bildungsinvestitionen als Sozialinvestitionen zu betrachten und Zugangsgerechtigkeit statt bloße Umverteilung zu organisieren, seien nur vor dem Hintergrund der Grundwerte und ihrer Geschichte von der Partei authentisch zu bewältigen: „Die eine Perspektive wäre, dass sie das Notwendige zwar mit schlechtem Gewissen tut und dabei die Botschaft ausstrahlt, dass es ja irgendwie doch nicht so ganz richtig ist. Das wäre die eine Sache. Die andere Perspektive wäre, dass die SPD das, was jetzt ansteht und was jede Regierung so oder so tun müsste, als Jahrhundertaufgabe begreift, dass sie also vor dem Hintergrund ihrer Geschichte sagt: Wir waren die Partei, wir waren die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaftsbewegung, die in der frühen Industrialisierung und auch später die gesellschaftliche Solidarität besser organisiert haben als andere — und das sind wir heute wieder.” (SPD 2003: 14 [Dettling])

Sie fordern von der SPD, gerade darauf als „Ressource für sozialdemokratisches Argumentieren” stärker abzustellen (ebd.: 17 [Kocka]). Die indifferente Antwort von SPD-Generalsekretär Olaf Scholz: „Wir dürfen bei so einer Debatte, finde ich, nicht so tun, als wären wir jetzt im 19. Jahrhundert. Und wir müssen auch nicht so tun, als wären wir anderswo auf der Welt, wo es das alles nicht gibt.” (ebd.: 22) Innerhalb der Kommissionsdebatte zeigte sich bei den Sozialdemokraten keine zustimmende Reaktion zu den Mahnungen der Wissenschaftler.

Agenda 2010 und sozial­de­mo­kra­ti­sche Solidarität

Die Agenda 2010 als jüngste sozialpolitische Initiative wurde durch die Regierungserklärung Schröders vom 14. März 2003 eingeleitet. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist hier die „Wachstumsschwäche” Deutschlands; die Erläuterung geplanter Maß-nahmen stellt „Eigenverantwortung” und „Eigenleistung” an den Anfang. Die Alternativlosigkeit der Reformen wurde durch das Bedrohungsszenario der Machtlosigkeit gegenüber dem globalen Markt betont: „Unser” europäisches Sozialmodell, „das auf Teil-habe beruht, statt auf ungezügelter Herrschaft des Marktes” kann nur gemeinsam, d.h. europäisch, „gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest gemacht werden”. „Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden” (Bundesregierung 2003). Der sprachliche Duktus Schröders weist, wie oben gezeigt, Politik als etwas aus, das die Regierung vollbringt und das von der Gesellschaft empfangen wird. Subjekte der Schröderschen Politik sind im wesentlichen Regierungsmitglieder und nicht die Mitglieder der deutschen Gesellschaft.

Auf Dauer öffnet sich, so lässt sich resümieren, eine Schere zwischen der politischen Rhetorik und dem sozial kulturellen und moralischen Verständnis von Werten wie Solidarität. Die politische Tradition der Arbeiterbewegung und der integrativen Solidarität Liebknechts konnten bis zur Regierung Schröder eine linke Politik symbolisieren, die Gegenseitigkeit unter Gleichen, Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation abhängig Beschäftigter und sozial Schwacher und besonders bei Brandt demokratische Partizipation als Leitprinzipien beinhaltete. Diese Symbolkraft und dieser spezifische linke Deutungsgehalt sind in der politischen Rhetorik der Regierung Schröder ersetzt durch andere Begriffe und eine Deutung, die alle diese Spezifika verloren hat. Das bedeutet aber nicht, dass die traditionellen linke Anknüpfungen in der politischen Kultur der Gesellschaft ebenfalls diesem Trend unterliegen, wie die Transparente der Protestdemonstrationen des Jahres 2003 zeigen. Die eingangs gestellte Frage, ob Solidarität noch ein linker Wert ist, auf den sich ein Verständnis sozialer Gegenseitigkeit gründen könnte, kann daher in der Gegenwart noch am ehesten von jenen Gewerkschaften und Akteuren sozialer Bewegungen beantwortet werden, die Solidarität als Gegenbegriff zur Sozialpolitik der Regierung setzen. Ob ein solcher Wert noch von einer sozialdemokratischen Regierungspartei vertreten wird, lässt sich bezüglich der politischen Sprache des Kanzlers und der Grundwertekommission mit Nein beantworten. Allerdings ist damit auch nur ein Ausschnitt der sozialdemokratischen Partei beschrieben. Wie weit die Deutungsmacht des Kanzlers in die Partei hineinreicht, welche Erkenntnisprozesse und Deutungsmöglichkeiten die Grundwertekommission noch hat: davon wird abhängen, was in der politischen Kultur von einem Begriff übrig bleibt, dessen wichtigste Merk-male die gegenwärtige Regierungspolitik verspielt.

[1] Die Untersuchung ist Bestandteil einer Dissertation, die 2004 an der Universität Kassel abgeschlossen wurde: Solidarität: Kontinuität und Wandel eines politischen Deutungsmusters in Deutschland und Frankreich. Eine historisch-semantische und diskursanalytische Rekonstruktion.
[2] Die Unterscheidung zwischen historischer Semantik und nachträglicher Definition, also analytischen Zugriffen aus der Soziologie und Bezeichnung für das wissenschaftliche Erfassen der Bewegung der Arbeiter, unterbleibt in der Regel selbst in Publikationen, die sich gerade mit dem Begriff der Solidarität auseinandersetzen wollen: Zoll 1993, 2000; Christoph 1979; Volkmann 1998.
[3] Als Belege für die Verbreitung wurden in der Dissertation Parteitagsprotokolle, Protokolle der Gewerkschaftstage, Schmuckblätter zum 1. Mai, aber auch Zeitschriftentitel ausgewertet. Die zentralisierte Organisation der deutschen Sozialdemokraten und ihre Anbindung an die Intemationale sind weitere Indizien für die auch sozial kulturelle Verbreitung der erläuterten Solidaritätsdeutungen.
[4] Das Godesberger Programm setzt aber vor dieses integrative Wertverständnis die bis dato von der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie erreichten sozialen und politischen Verbesserungen.

Literatur

Arbeiter-Congress, Internationaler 1889: Protokoll des internationalen Arbeiter-Congresses zu Paris. Abgehalten vom 14. bis 20. Juli 1889. Deutsche Uebersetzung. Mit einem Vorwort von Wilhelm Liebknecht, Nürnberg
Arbeiter-Kongress, Internationaler 1893: Verhandlungen und Beschlüsse des Internationalen Arbeiter-Kongresses zu Brüssel. 16.-22. August 1891, Berlin
Brandt, Willy 1969: Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, Verhandlungen, 6. Wahlperiode 5. Sitzung, 28.10.1969, S. 20-34
Ders. 1971: Ebd,. 6. Wahlperiode, 109. Sitzung, 24.3.1971, S. 6393-6398
Ders. 1973a: Ebd., 7. Wahlperiode, 10. Sitzung, 26.1.1973, S. 361-369
Ders. 1973b: Ebd., 7. Wahlperiode, 44. Sitzung, 18.6.1973, S. 2493-2494
Charlier, Michel 1978: Der Sozialismus als Wille und Vorstellung. Das Grundwerteverständnis der SPD in der Gegenwart; in: Bayertz, Kurt/Holz, Hans Heinz (Hgg.): Grundwerte-Diskussion: Der Streit um die geistigen Grundlagen der Demokratie, Köln, S. 81-110
Christoph, Klaus 1979: Solidarität, Baden-Baden
CDU 1994: Wir christliche Demokraten. Grundsatzprogramm der CDU, beschlossen auf dem Parteitag am 21.-23. Februar 1994 in Hamburg
Liebknecht, Wilhelm 1976: Kleine politische Schriften, hg. von Wolfgang Schröder, Frankfurt/Main Ders. 1976 [1871]: Festrede zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereins am 22. Oktober; in: ebd., S. 84-132
[MEW] Marx, Karl/Engels, Friedrich 1956ff.: Karl Marx – Friedrich Engels – Werke. 39 Bände und Ergänzungsband in zwei Teilen, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin-Ost
Offe, Claus 2003: Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?; in: Münkler, Herfried et.al. (Hg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Rhetoriken und Perspektiven sozio-moralischer Orientierung, Berlin
Reisz, Gesa 2003: Solidarität: Wandel und Kontinuität eines politischen Deutungsmusters in Deutschland und Frankreich. Eine historisch-semantische und diskursanalytische Rekonstruktion, Diss. Fachbereich Gesellschaftswissenschaften Universität Kassel
Scharping, Rudolf 2000: Solidarität als sozialdemokratischer Grundwert; in: SPD: Grundwerte heute: Solidarität. Dokumentation der Podiumsdiskussion vom 8. November 2000 in Berlin, S. 6-8
64 vorgänge Heft 4/2004, S. 56-64
Schieder, Wolfgang 1991: Religionsgeschichte als Sozialgeschichte: einleitende Bemerkungen zur Forschungsproblematik; in: Geschichte und Gesellschaft 17. Jg., S. 291-298
Schlei, Marie/Wagner, Joachim 1976: Freiheit – Gerechtigkeit – Solidarität. Grundwerte und praktische Politik. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt, Bonn-Bad Godesberg
Schmidt, Helmut 1976a: : Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, Verhandlungen, 7. Wahlperiode, 240. Sitzung, 11.5.1976, S. 16826,16828-16831
Ders. 1976b: ebd., 7. Wahlperiode, 241. Sitzung, 12.5.1976, S. 17004-17008, 17018
Ders. 1976c: ebd., 8. Wahlperiode, 5. Sitzung, 16.12.1976, S. 31-51
Ders. 1977: Parteitagsrede; in: Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Protokoll der Verhandlungen, hg. vom Vorstand der SPD, Bonn
SPD 1959: Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959
Dies. 1989/1998: Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin, geändert auf dem Parteitag in Leipzig am 17. April 1998
Dies. 2000: Grundwerte heute: Solidarität. Dokumentation der Podiumsdiskussion vom 8. November 2000 in Berlin
Dies. 2002: Erneuerung, Verantwortung und Zusammenhalt. Das Regierungsprogramm der SPD 2002 – 2006
Dies. 2003: Programmdialog. Gerechtigkeit. Neue Antworten auf eine alte Frage. Dokumentation einer Veranstaltung vom 16. Juli 2003 im Willy-Brandt-Haus, Berlin
Schröder, Gerhard 1998: Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 14. Wahlperiode, 3. Sitzung, 10.11.1998, S. 47-67
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Volkmann, Uwe 1998: Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, Tübingen
Zoll, Rainer 2000: Was ist Solidarität heute?, Frankfurt/Main

Internetquellen
Bundesregierung 2003: Zustimmung zur Reformpolitik wächst, Nachrichten zur Agenda 2010 vom 5.10.2003, unter: http:l/www.bundesregierung.de/Politikthemen/Agenda-2010/Nachrichten-,9839. 719179/artikellZustimmung-zur-Reformpolitik-w.htm, (letzte Einsicht 12.11.2004)
Schröder, Gerhard 2003: Regierungserklärung vom 14.3.2003, unter http://www.bundesregierung.de/Politikthemen/Agenda-2010-,9768/Regierungserklaerung.htm, (letzte Einsicht 12.11.2004)

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