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Die Zukunft der Gesell­schafts­kritik

Zur politischen Funktion der Kultur- und Sozialwissenschaften*

aus: Vorgänge Nr. 169 ( Heft 1/2005 ), S.93-99

Die heutige Situation scheint einmal mehr durch den Abschied von umfassenden Theorien und gesellschaftskritischen Ansprüchen gekennzeichnet zu sein. Da mag es überraschen, nach der politischen Funktion akademischer Disziplinen zu fragen, denen es in ihrer noch nicht allzu langen Geschichte auch und vor allem darum ging, sich als ,normale`, und das heißt oft: politisch ,neutrale` Wissenschaften zu etablieren. Die Kulturwissenschaften, die sich noch nicht einmal darin einig sind, ob es sie nun im Singular oder nur im Plural gibt, begnügen sich — im Gegensatz zu ihrem Vorbild, den Cultural Studies —allzu oft mit Analysen von aus ihrem sozialen und politischen Kontext heraus gelösten (pop-)kulturellen Phänomenen der Mikro- und Mesoebene, wie dem Siegeszug des Bikini oder der Kulturgeschichte des Gartenzwergs. Dabei kokettieren sie höchstens mit einer dem kulturkonservativen mainstream gegenüber subversiven Haltung. Unterdessen konzentrieren sich die empirisch orientierten Sozial- und Politikwissenschaften unter dem auch universitätsintern erzeugten Druck der unmittelbaren Verwertbarkeit zunehmend auf die Analyse einzelner Politikfelder und die Bereitstellung sozial technologischen Wissens für die Verwaltung, in-dem sie beispielsweise die Forstpolitik in der Europäischen Union oder die Verwaltungsreform des Landkreises untersuchen.

Auch wenn solchen Analysen durchaus ihre Berechtigung zukommt, so äußert sich in dieser neuen Bescheidenheit doch zugleich auf beunruhigende Weise ein positivistisches Selbstverständnis — „Wir beschreiben und analysieren doch nur die Tatsachen” —, das auf theoretische und historische Reflexion weitgehend verzichten zu können glaubt. Begleitet wird dieser als Realismussteigerung eingeführte Reflexionsabbau auf dem Kampfplatz der Theorie oft von der Diagnose vom „Ende des gesellschaftskritischen Paradigmas”. Der Vorwurf der „Dekadenz der Kritik”, des „Alarmismus” und der „unentspannten Hypermoral” an die Adresse jener, welche die Geschichte dieses Endes noch nicht als Anfang einer neuen Normalität akzeptiert haben, scheint jedoch nicht nur Ausdruck der Dekadenz einer Kritik der Kritik zu sein, die offen-sichtlich die – intellektuellen und sozialen — Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aus den Augen verloren hat. Vielmehr beruht dieses Selbstmissverständnis des methodologischen Status der Kultur- und Sozialwissenschaften auch auf einem Missverständnis des Zusammenhangs zwischen Sozialtheorie und Gesellschaftskritik, das auf eine unzureichende Vorstellung sowohl von Sozialtheorie als auch von Kritik zurückzuführen ist (vgl. die Debatte in Wenze12002).

Sozialthe­orie als Inter­pre­ta­tion der sozialen Praxis

Mit dem Verlegenheitsterminus „Sozialtheorie” kann ein nicht völlig trennscharf abgrenzbares disziplinäres Feld bezeichnet werden, auf dem kultur- und sozialwissenschaftliche sowie philosophische Theoriebildung, empirische und theoretische sowie normative Analysen sozialer Praktiken, Institutionen und Diskurse zusammen kommen. Das Verständnis von Möglichkeit und Durchführung einer kritischen Gesellschaftstheorie hat sich in letzter Zeit vor allem unter dem Einfluss von Theorieentwicklungen wie dem linguistic, dem interpretive und dem performative turn gewandelt. Im Zuge dieser Debatten, welche die sprachliche Vermitteltheit und die Notwendigkeit der Interpretation der sozialen Wirklichkeit ebenso ins Bewusstsein gerückt haben wie den Praxischarakter der Theorie selbst, wurde schnell deutlich, dass das für frühere (etwa marxistisch oder funktionalistisch inspirierte) Formen der Gesellschaftstheorie durchaus charakteristische Vertrauen in die Möglichkeit einer umfassenden ,Theorie aus einem Guss‘, eines einheitlichen Beschreibungssystems für alle sozialen Phänomene, heute nur noch um den Preis der Blindheit gegenüber der Komplexität der zu analysierenden Gegenstände zu haben wäre. Das scheint nun selbst den Vertretern der Systemtheorie, die ja mit dem Versprechen angetreten war, sozialer Komplexität durch die Ersetzung von Kritik durch Beobachtung gerecht zu werden, als letzter verbleibender Großtheorie aufzugehen. Die auf eine als zunehmend komplexer erfahrene soziale Realität reagierende Pluralisierung und Hybridisierung sozial theoretischer Ansätze und Beschreibungsweisen nötigt im Rahmen der Sozialtheorie aber nicht nur zur Bezugnahme auf verschiedene Disziplinen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, sondern auch zur Zusammenführung bisher sich penibel voneinander abgrenzender theoretischer Vokabulare wie jenen der angloamerikanischen liberalen politischen Theorie, des französischen Poststrukturalismus und der verschiedenen post-marxistischen Ansätze, wie etwa der Kritischen Theorie (Frankfurter Arbeitskreis für Politische Theorie & Philosophie 2004).

Mit Bezug auf die methodologische Frage nach den Erkenntnisbedingungen einer kritischen Sozialtheorie hat sich damit aber auch die Einsicht durchgesetzt, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften und die Sozialphilosophie eine Wirklichkeit interpretieren, die nicht aus harten Tatsachen und gesetzmäßig ablaufenden Prozessen, sondern aus historisch spezifischen, sozial eingebetteten und normativ aufgeladenen Institutionen, Praktiken und Diskursen besteht, welche untrennbar mit bestimmten — teils expliziten, teils impliziten — individuellen und kollektiven Selbstverständnissen verknüpft und deshalb selbst immer schon interpretiert sind (Taylor 2004). Die Sozialtheorie kann die im Rahmen einer Problemstellung — etwa der Frage nach dem Schicksal des für die Moderne konstitutiven Zusammenhangs von individueller und kollektiver Autonomie in Zeiten des postfordistischen Kapitalismus — signifikanten Selbstverständnisse nicht einfach identifizieren und beschreiben, sondern muss diese selbst in einer Interpretation artikulieren und explizieren, die Hypothesen über die sinnhafte Verknüpfung der einzelnen Elemente im Rahmen des gesellschaftlichen Ganzen beinhaltet. Zu Kultur geronnene symbolische Deutungs- und Interaktionsmuster sind deshalb nicht nur Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften — viel-mehr stellen diese selbst als Interpretationsleistungen ein Moment der symbolischen Strukturierung der sozialen Welt dar, die jede Gesellschaft in Form von Kultur produziert.

Die Theorie ist diesem Verständnis zufolge kein der Praxis unvermittelt gegenüberstehendes, rein kognitives Unternehmen, das am zuverlässigsten aus der Distanz operiert, sondern der Versuch der Artikulation, Explizierung und Systematisierung der in den bestehenden sozialen Praktiken und den dazugehörigen Deutungsmustern selbst angelegten reflexiven und normativen Potenziale. Diese weisen über ihre jeweilige institutionelle Verwirklichung immer auch hinaus, indem sie den an ihnen beteiligten Akteuren die Einnahme verschiedener Positionen gegenüber den faktischen sozialen Arrangements ermöglichen (Reckwitz 2003; Schatzki u.a. 2001). Eine solche sozial-theoretische Artikulation problematisiert damit allerdings auch die für eine bestimmte Praxis spezifischen Möglichkeiten des Handelns und Denkens, die Grenzen dessen, was aus Sicht der Akteure getan und gedacht werden kann und soll.

Sozialthe­orie als Kritik

Was Adorno über den Kulturkritiker schreibt, ließe sich auch auf dessen nahen Verwandten, den Gesellschaftskritiker, beziehen: „Dem Kulturkritiker passt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt. Er redet, als verträte er sei’s ungeschmälerte Natur, sei’s einen höheren geschichtlichen Zustand, und ist doch notwendig vom gleichen Wesen wie das, worüber er erhaben sich dünkt.” (Adorno 2003: 11) Die aus einer solchen Metakritik zu ziehende Konsequenz ist aber keineswegs, wie von neokonservativer Seite behauptet, eine pauschale Delegitimierung von Kritik, sondern — wie Adorno selbst fortfährt zu zeigen — eine Neuverortung ihres Standpunktes: Der Kritiker spricht weder von außerhalb der kritisierten Kultur oder Gesellschaft, von einem Standpunkt der Überlegenheit oder der Erhabenheit aus, noch einfach von innen, aus einer Position der Demut und Verantwortlichkeit gegenüber seiner eigenen Kultur oder Gesellschaft. Kritik in Form von kritischer Selbstreflexion ist vielmehr ein strukturelles Element aller kulturellen und sozialen Praktiken, die ein bestimmtes Komplexitätsniveau erreicht haben.

Fragt man vor diesem Hintergrund nach der kritischen Funktion der Sozialtheorie, nach dem Ort der Kritik im Netz der Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, so muss die Antwort auf die Überwindung einer seit der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus etablierten Alternative abzielen: einerseits die „schwachen”, kontextualistischen Formen der Kritik, die in der Gefahr stehen, ihr kritisches Potenzial im Namen lokal geltender Werte und verwurzelter Kritik zu verspielen; andererseits die „starken”, universalistischen Formen, welche die Verbindung zu den Selbstverständnissen und Motivationslagen ihrer Adressaten zu kappen drohen (Honneth 2000). Die in dieser Auseinandersetzung unterstellte Alternative zwischen Innen und Außen, zwischen Immanenz und Transzendenz ist schlicht verkürzend. Natürlich kann der Standpunkt der Kritik nie gänzlich außerhalb der sozialen Praktiken und Diskurse liegen — wer hätte dies jemals behauptet? Vielmehr erfolgt die Kritik immer von einer ganz spezifischen, sozial lokalisierbaren Sprecherposition aus und mobilisiert das in die sozialen Praktiken selbst eingelassene reflexive Potenzial mit einer bestimmten Absicht. Die Verortung im sozialen Raum erlegt der Kritik aber eben deshalb keine eindeutigen Grenzen auf, da dieser Raum selbst unterbestimmt und interpretationsbedürftig ist.

Um welches Selbstverständnis es in einer sozial theoretischen Interprefation geht, welchem individuellen oder kollektiven Subjekt dieses zugeschrieben wird, zu welchen sozialen Praktiken und Institutionen ein spezifisches Selbstverständnis im Widerspruch steht, welche individuellen und sozialen Pathologien und Krisenerscheinungen sich aus solchen Widersprüchen entwickeln und welche Kritik hieraus abgeleitet werden kann — dies sind alles umstrittene Fragen, und alleine schon deshalb kann die Sozialtheorie nie völlig neutral, also bloß objektiv beschreibend verfahren. Ihr Vorgehen ist immer interpretierend und damit in einem Raum umstrittener alternativer Deutungen und sich eventuell sogar widersprechender Beschreibungen verortet (Rosa 2004). Eine einfache Ableitung der Maßstäbe der Gesellschaftskritik aus diesen gesellschaftlichen Selbstverständnissen, wie sie kommunitaristischen und kontextualistischen Positionen vorschwebt, ist deshalb ebenso wenig möglich wie der Verzicht auf kritische Positionierung. Dabei muss Kritik hier nicht in einer totalen Verwerfungsgeste bestehen, die dem Ganzen der gesellschaftlichen Ordnung gilt — Kritik (von griechisch: krinein) bedeutet ja erstmal nichts anderes, als das Treffen normativ gefärbter Unterscheidungen, zu denen man sich dann wiederum verhalten muss.

Aus der Unvermeidlichkeit dieser Kunst des Unterscheidens folgt, dass Sozialtheorie und Gesellschaftskritik nicht als zwei voneinander getrennte Unternehmen gedacht werden können. Deutung und Kritik der Gegenwart bedingen sich gegenseitig, weil sich beide in einem Spektrum möglicher und umstrittener (Neu-)Beschreibungen verorten müssen. Diese (Neu-)Beschreibungen fungieren immer auch als Problematisierungen der thematisierten Selbstverständnisse und eröffnen einen Raum ihrer möglichen Veränderung. Sie befähigen die Akteure nämlich zu einem Perspektivenwechsel und zur Einnahme einer distanzierten Position gegenüber ihren eingespielten Praktiken und Diskursen, so dass diese als mögliche Formen der Organisation und der Repräsentation der sozialen Welt neben anderen begriffen werden können.

Statt den Anspruch zu erheben, von einem aus allen Praxiszusammenhängen heraus gelösten Standpunkt zu sprechen, beschreibt die Sozialtheorie die für ein spezifisches soziales Feld konstitutiven Praktiken, Diskurse und Hintergrundverständnisse und die in ihnen und durch sie ausgetragenen Konflikte von einer bestimmten Position aus und macht diese so der gesellschaftlichen Problematisierung, der Selbstthematisierung und -transformation zugänglich. Als Interpretationen zweiter Ordnung können diese Beschreibungen gar nicht anders als umstritten sein, da sie sich nicht an den objektiven Tatsachen ablesen lassen. Allein durch ihre nachweisliche Umstrittenheit kann allerdings schon ein Bewusstsein der Kontingenz — dessen, dass es nicht so sein muss, wie es ist — und damit der Veränderbarkeit der sozialen Welt, der Möglichkeit eines anderen Selbstverständnisses und anderer Praktiken entstehen (Tully 2003). Mit dem klassischen ideologiekritischen Programm, etwa der Kritischen Theorie, teilt eine solche Herangehensweise zumindest die Operation der „Entnaturalisierung”, die als natürlich und unveränderbar erfahrene soziale Verhältnisse als durch soziales Handeln vermittelte, reproduzierte und damit auf gleichem Wege auch wieder transformierbare Arrangements erweist. Als ideologisch können dann genau jene Diskurse bezeichnet werden, welche die Konflikthaftigkeit und Kontingenz sozialer Praktiken, Institutionen und Ordnungen verdecken, indem sie suggerieren, es ginge eben nicht anders. Dass es — leider oder glücklicherweise — nicht anders gehe, und dass man deshalb gar nicht darüber nachzudenken brauche, wie es denn besser gehen könnte — das war schon immer der wenig glaubwürdige Realismus derer, die sich ganz gut mit dem Status Quo arrangiert haben.

Ein solches in der Umstrittenheit von Interpretationen verankertes Verständnis von Kritik verfällt keineswegs einer Hermeneutik des Verdachts, die hinter jeder glatten Oberfläche das verborgene Wirken böser Mächte vermutet. Ebenso wenig ist eine kritische Sozialtheorie dazu verdammt, mantraartig eines der beiden Großrepertoires der Kritik zu wiederholen und abwechselnd die Konstruiertheit aller Phänomene durch soziale Praktiken und Diskurse und die Determiniertheit sozialer Akteure durch das Wirken unverfügbarer Strukturen aufzudecken (Latour 2004). Den Gegenstand der Kritik bilden vielmehr jene Verfestigungen bestimmter Beschreibungen, die hegemoniale Deutungsmuster als einzig mögliche öder legitime Weltsicht erscheinen lassen und damit die Prozessualität der sozialen Realität zu statischen und konfliktlosen Ordnungsmustern verfestigen. Die Aufgabe von Kritik besteht deshalb insbesondere in der Problematisierung dieses Erstarrens zu konsensuellen Arrangements, in denen sich alle Parteien scheinbar gemütlich eingerichtet haben, und in der Produktion einer für sozialen Wandel konstitutiven epistemologischen Offenheit. Gerade in der Offenlegung der Umstrittenheit und Konflikthaftigkeit der sozialen Realität und ihrer Deutungen selbst kann deshalb die kritische Funktion der Sozialtheorie gesehen werden.

Die umkämpfte Nation als Wirkungs­feld kritischer Sozialthe­orie

Am Beispiel des Begriffs der Nation möchte ich nun zum Abschluss kurz skizzieren, inwiefern eine kritische Sozialtheorie einen Beitrag zum sozialen und politischen Bewusstsein dieser Umstrittenheit und Konflikthaftigkeit leisten kann. Zwar ist die politische Form der Nation durch Druck von innen — durch die Steigerung innergesellschaftlicher Komplexität — und von außen — durch Globalisierung und Europäisierung — in die Krise geraten, das politische Imaginäre, die öffentlich geteilte symbolische Repräsentation des Raums des Politischen, scheint aber immer noch in ihrem Bann zu stehen. Obwohl dies allzu leicht vergessen wird, befinden sich auch und gerade liberal-demokratische Gesellschaften in dem Dilemma, dass einerseits eine zu ,dünne` Identität des Gemeinwesens nicht in der Lage zu sein scheint, die notwendigen sozial integrativen Leistungen zu erbringen und das Funktionieren des Systems zu stabilisieren, dass aber andererseits eine ,dickere` Identität nur auf Kosten der Anerkennung kultureller Vielfalt, anderer Arten, ein Bürger zu sein, politisch zu denken, zu sprechen und zu handeln, und damit auf Kosten der Liberalität der politischen Kultur möglich ist. Die politisierbare Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die Unterstellung kultureller Homogenität und die Spannungen zwischen Partizipation und Exklusion lassen sich auch in einer liberal abgefederten Bezugnahme auf die Nation, das Volk im Unterschied zur Bevölkerung, als legitimationsstiftender politischer Gemeinschaft nicht eliminieren, sondern werden durch diese aller erst produziert (Balibar/Wallerstein 1997; Menke 2001). Die Homogenisierungs- und Normalisierungsleistungen der bürokratischen und informellen Agenturen des Nationalstaats waren demnach nicht nur historisch die Voraussetzung seines Erfolgs als politisches, soziales und ökonomisches Projekt (Taylor 2002). Der imaginierten Einheit der „Nation” als symbolischem Bezugspunkt, in dem Staat und Gesellschaft zusammen treffen, kommt auch heute noch die Funktion der Komplexitätsreduktion und der Kontingenzbewältigung, der identitäts- und der Sinnstiftung zu, welche die Demokratie im Dienste der Sicherung der Einheit und der Einheitlichkeit der Ordnung allerdings auch permanent der Gefahr der (Aus-)Schließung, der Produktion jener, die definitiv nicht dazu-gehören können, aussetzt (Tully 1995). Auch wenn es so sein sollte — und dafür wird in der Tradition des Republikanismus ja immer noch häufig argumentiert —, dass sich politische Gemeinschaften in Form eines politischen „Wir” oder der Nation (We, the people) konstituieren müssen, um sich selbst als instituierend, also als genuin politisch handelnd zu denken, so darf dies doch über eines nicht hinwegtäuschen: Die Einheit dieses „Wir” und der Nation bleibt im strengen Sinne unmöglich, da es in jeder politischen Gemeinschaft qua politischer Gemeinschaft immer einen irreduziblen, nicht-integrierbaren Rest gibt, zumindest einen unauflösbaren politischen Konflikt, durch den sich einige — die „Anderen” — vom etablierten „Wir” absetzen. Das „Wir“-Sagen ist immer eine streitbare Behauptung, nie eine Feststellung kollektiver Identität, Ein reflektiertes Demokratieverständnis sollte sich dieses Behauptungscharakters deshalb stets bewusst sein.

Indem die Sozialtheorie diese Ambivalenzen aufzeigt, mag sie dazu beitragen, dass die politische Form der Nation und das ihr entsprechende „Wir” nicht als etwas Gegebenes oder als präexistente, etwa kulturell definierte Einheit verstanden werden. Sie ist vielmehr Ergebnis einer politischen Praxis, die sich den Abbau jener sozialen und politischen Exklusionen, jener sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, jener nicht-demokratischen Bedingungen der existierenden Demokratie zum Ziel setzt, die sie selbst immer mitproduzieren muss, weil sich ihr Subjekt als eine nationale Gemeinschaft imaginiert (Balibar 2001). Damit wird ein revidiertes, jenseits der klassischen Positionen von Republikanismus und Liberalismus gelegenes Verständnis der Demokratie möglich, das deren genuin modernen, ja geradezu modernistischen Charakter genau darin sieht, die Kontingenz, Historizität und interne Heterogenität und Konflikthaftigkeit ihrer eigenen Ordnung anzuerkennen, sowie jeden absoluten Anspruch auf Selbstbegründung, Kohärenz und Vereinbarkeit und Einheitlichkeit ihrer Elemente zugunsten ständiger und zum Teil institutionalisierter Selbstreflexion, -kritik und -revision fallen zu lassen (Lefort 1986).

Dafür aber, dass politische Gemeinschaften, wie demokratisch und post-konventionell sie sich auch immer in der Außen- und Innendarstellung gerieren, stets dazu tendieren wer-den, dieser Unbestimmtheit auszuweichen und diese Spannung aufzulösen, findet man genügend Belege. Die hierzulande immer noch übliche Kopplung insbesondere politischer Rechte an nationale Zugehörigkeit und kulturelle Loyalitätsbeweise, die große Teile der Bevölkerung vor die Zwangsalternative von Ausschluss oder Assimilation an ein diffuses und für gebürtige Deutsche nicht verbindliches Ideal stellt, verdeutlicht auf erschreckende Weise, wie stark der öffentliche Diskurs noch im Bann der Logik des Nationalen steht. Einem ähnlichen Muster folgen die in aller Öffentlichkeit durchgeführten Spekulationen über die unter dem Schutz des Kopftuchs sich zusammenbrauenden verfassungswidrigen Gedanken, die ja auch eher perverser Ausdruck der Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft sind, endlich ein posthomogenes, den sozialen Realitäten angemesseneres Selbstverständnis auszubilden, als dass sie der Sorge um eine demokratische Pluralität unter dem Mantel des Grundgesetzes geschuldet wären.

Die Flucht vor Unbestimmtheit und Konflikthaftigkeit in die Eindeutigkeiten kulturell homogener Kollektive ist gerade Ergebnis des im Grunde anti-demokratischen Verlangens nach einer nicht-polemischen, von Spannungen freien Form der sozialen Organisation. Das „Wir”, auf welches sich die Grenzwächter der Gemeinschaft so gerne berufen („Wir machen das hier eben so“), kann in einer Demokratie — und das gilt auch für die Ebene der Europäischen Union — keine vorgängige Gültigkeit beanspruchen, sondern nur auf polemische Art und Weise und im Konflikt artikuliert werden, da es eben nicht unabhängig vom politischen Prozess im Bezug auf präpolitische Tatsachen — gemeinsame Abkunft, Geschichte, Kultur — bestimmt werden kann. Jedes Bestreiten — ob in der Praxis oder der Theorie — der Notwendigkeit und der Berechtigung der Polemik und des Konflikts um das Gemeinsame ist daher ideologisch, da es suggeriert, es gebe ein solches Prä-politisches Gemeinsames, dem dennoch politische Relevanz zukommen könne. Der Konflikt um die Grenzen des Politischen und der Gemeinschaft ist aber selbst Teil des demokratischen Projektes und nicht dessen aufzuhebende oder auszuschließende Gefährdung.

Sozialthe­orie als Produzentin umstrit­tener Deutungen

Die Funktion der Gesellschaftstheorie ist im hier diskutierten Zusammenhang nicht so sehr die Bereitstellung ausformulierter Lösungsvorschläge zu gesellschaftlichen Problemlagen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, das Bewusstsein für diese Probleme und für alternative Beschreibungsmöglichkeiten zu schärfen und damit einen Möglichkeitsraum für andere Formen politischen Denkens, Sprechens und Handelns als die schon vorgesehenen zu eröffnen (Ranciere 2003). Neben unumstrittenen, den common sense explizierenden, aber eben auch oft trivialen Beschreibungen sollten sich die Kultur- und Sozialwissenschaften das Erkenntnispotenzial nicht leichtfertig entgehen lassen, das eine entfremdende, idiosynkratische und auf den ersten Blick oft kontraintuitive Beschreibung sozialer Praktiken und Diskurse mobilisieren kann. Oft kann gerade ihnen die Artikulation eines diffus empfundenen Unbehagens zur Aufgabe werden, für dessen kohärente Formulierung die geeignete Sprache noch nicht existiert. Kritisch ist eine Sozialtheorie aber nicht nur dann, wenn sie über die Artikulation bisher politisch nicht hörbarer oder sichtbarer sozialer Erfahrungen und Forderungen auf die Kritik und Transformation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zielt. Die Sozialtheorie muss sich vielmehr ihres eigenen methodologischen Status bewusst werden: als Produzentin von umstrittenen Beschreibungen, Deutungen, Analysen und Kritiken zur Situation der Zeit.

* Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Buch Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, hg. v. Undine Ruge und Daniel Morat, das im April 2005 im VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden erscheint (206 S.; 19,90 Euro).

Literatur

Adorno, Theodor W. 2003:, Kulturkritik und Gesellschaft; in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd.10.1, Frankfurt/Main, 5.11-30
Balibar, Etienne 2001: Nous, citoyens d’Europe? Les frontieres, l’Etat, le peuple, Paris
Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel 1997: Race, nation, classe. Les identites ambigues, 2. Aufl., Paris
Frankfurter Arbeitskreis für Politische Theorie & Philosophie (Hg.) 2004: Autonomie und Heteronomie der Politik, Bielefeld
Honneth, Axel 2000: Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der ,Kritik` in der Frankfurter Schule; in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 5, S. 729-737 Latour, Bruno 2004: Why Has Critique Run Out
of Steam?; in: Critical Inquiry, Jg. 30, H. 2, 5. 225-248
Lefort, Claude 1986: Essais sur le politique. XIXe-XXe siecles, Paris
Menke, Christoph 2001: Fremdenfeindlichkeit in der liberalen Demokratie; in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 49, H. 5, S. 761-767
Ranciere, Jacques 2003: Politisches Denken heute; in: Lettre International, Sommer 2003, S. 5-7
Reckwitz, Andreas 2003: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken; in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 4, S. 282-301
Rosa, Hartmut 2004: Four Levels of Self-Interpretation: A Paradigm for Interpretive Social Philosophy and Political Criticism; in: Philosophy and Social Criticism, Jg. 30, H. 5-6, S. 691-720
Schatzki, Theodore/Knorr-Cetina, KarinlSavigny, Eike von (Hg.) 2001: The Practice Turn in Contemporary Theory, London
Taylor, Charles 2002: Demokratie und Ausgrenzung; in: Ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, Frankfurt/Main, S. 30-50
Taylor, Charles 2004: Modern Social Imaginaries, Durham
Tully, James 1995: Strange Multiplicity. Constitutionalism in an Age of Diversity, Cambridge
Tully, James 2003: Politische Philosophie als kritisches Handeln; in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 51, H. 1, S. 3-23
Wenzel, Uwe Justus (Hg.) 2002: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, FrankfurtlMain

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