Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 169: Qualitätsjournalismus in der Krise

Men for All Seasons?

Die deutschen Unternehmer Hanns Martin Schleyer und Hermann Josef Abs zwischen „Drittem Reich” und früher Bundesrepublik

aus: Vorgänge Nr. 169 ( Heft 1/2005 ), S. 130-133

„Die jungen Kollegen, die die Geschichte nicht kennen, müssen Schleyer nach dem beurteilen, was er heute macht. Das trägt zur Entwicklung ihres Bewusstseins viel mehr bei als seine Vergangenheit.” Dass Hanns Martin Schleyer (1915-1977), sein langjähriger Gegenüber in vielen Tarifkonflikten, als junger Mann gläubiger Nationalsozialist gewesen war, erschien dem ehemaligen KZ-Häftling, KP-Funktionär und Stuttgarter Bezirksleiter der IG Metall, Willi Bleicher, nicht weiter erwähnenswert. Was für den als Unterhändler gefürchteten Gewerkschafter Bleicher zählte, war die „Handschlagfestigkeit”, die den nicht minder hartgesottenen Schleyer auszeichnete. Auf Schleyers Wort war für Bleicher Verlass, so der Dortmunder Medienwissenschaftler und Zeithistoriker Lutz Hachmeister in seiner biographischen Studie über den einstigen NS-Studentenführer, Wirtschaftsbürokraten im besetzten Prag, Personalchef von Daimler-Benz, Arbeitgeberpräsidenten, „Boss der Bosse” (als zuletzt Doppelvorsitzender von BdA und BdI), Gefangenen und Ermordeten der RAF:

Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte, C.H. Beck: München 2004, 447 S., ISBN 3-406-51863-X; 24,90 Euro

Mag ein derartiger Pragmatismus aus heutiger Sicht befremden: Er war in der frühen Bundesrepublik nicht die Ausnahme, sondern die Regel, ja vielfach eine Überlebensnotwendigkeit. Dies verdeutlicht auch eine zweite Unternehmerbiographie, die des langjährigen Vorstandssprechers und Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs (1901-1994), kürzlich vorgelegt vom Frankfurter Historiker Lothar Gall:

Lothar Gall: Der Bankier. Hermann Josef Abs. Eine Biographie, C.H. Beck: München, 2. Aufl. 2005, 526 5., 3-406-52195-9; 29,90 Euro

Sehr viel stärker als der 14 Jahre jüngere Schleyer, der im „Dritten Reich” zu jung gewesen war, um eine bedeutende Position innezuhaben, wenn auch als „PG”, SS-Mitglied und Studentenfunktionär eindeutig als „Nazi” zu verorten, war der bekennende Katholik und zeitweilig in seiner Stellung bei der Deutschen Bank bedrohte Bankier Abs im „Dritten Reich” eine Stütze des Regimes, ohne sich diesem im ideologischen Sinne anzubiedern. So kamen denn auch die Vertreter der Abs höchst skeptisch gegenüberstehenden amerikanischen Besatzungsmacht nicht umhin, in Abs eine wichtige Persönlichkeit zu sehen,

„wie jedes Land sie vielleicht nur drei oder viermal hat”. Nicht nur Adenauer und die auf die Reintegration der Täter abzielende Bundesregierung, auch ehemalige Kriegsgegner und Vertreter der jüdischen Opfer wussten Abs als unentbehrlichen Finanztechniker und Visionär eines marktwirtschaftlich gestützten Wiederaufbaus im hohem Maße zu schätzen, wie sich bei den Verhandlungen über das Londoner Schuldenabkommen (1953) und mit der Jewish Claims Conference bald zeigte.

Gall und Hachmeister geht es in diesen — in Anlage und Anspruch sehr unterschiedlichen, ja fast gegensätzlichen Biographien —weder um eine vordergründige Entlarvung der braunen Wurzeln der frühen Republik noch um eine Apologie ihrer Protagonisten. Derartige Muster werden in der öffentlichen Argumentation zwar seit Jahren kaum modifiziert fortgeschrieben (wie Hachmeister anhand der immer wieder fälschlich kolportierten Mär von Schleyers täglicher Ausfahrt mit dem Prager NS-Satrapen Heydrich eindrucksvoll illustriert). Die zeithistorische Forschung ist dar-über längst hinweg. Der Erfolgsweg zahlreicher NS-belasteter Persönlichkeiten in der Bundesrepublik ist zwar völlig unstrittig, aber er lässt sich eben nicht im Sinne einer dominierenden Systemkontinuität interpretieren, wie es die Faschismustheorien der 1960er und 1970er Jahre und ihre publizistischen Epigonen lange Zeit betrieben und durch berühmt-berüchtigte „Braunbücher” dürftig mit NSDAP-Mitgliedsnummern belegen zu können glaubten. Hermann Josef Abs war 1945 gerade deshalb der Mann der Stunde, weil er, mit Glück in der Britischen Zone als „unbelastet” entnazifiziert, angesichts allgemeiner tiefer Verunsicherung ein Stück persönlicher und institutioneller Kontinuität nicht zuletzt auch zurück zu Weimar verkörperte. Dass er Illusionen darüber nährte, welche Nischen und Freiräume das „Dritte Reich” geboten hatte, wonach „man sich vergleichsweise ,normal` hatte bewegen und entsprechend habe handeln können”, verschweigt Gall keineswegs, bewertet es aber auch nicht sehr kritisch. Er sieht denn auch keine Alternative zu dieser Kontinuität im Neubeginn, die die Nachkriegsrekonstruktion mit einem guten Teil des alten Führungspersonals auf den Weg brachte.

Sehr viel stärker als Gall, dessen quellen gesättigte, gründlich recherchierte, stark differenzierende, dichte Lebensgeschichte des vermutlich bedeutendsten deutschen Bankiers des 20. Jahrhunderts eng der Perspektive ihres Protagonisten folgt, spürt Hachmeister deutlich distanzierter dem öffentlichen Mythos und dem Vorleben des Menschen Schleyer nach. Leider verliert Hachmeister in zahlreichen, auch aus seinen früheren Forschungsinteressen erklärlichen, jedoch vielfach entbehrlichen Exkursen mehr als einmal den roten Faden. Das mindert insgesamt den Wert der Arbeit, obwohl ihr großer Einleitungsessay und ihre Schlusspassage höchst anregend, ja durchaus brillant geschrieben sind. Im Grunde möchte Hachmeister in seiner Studie zunächst etwas ganz Simples vollbringen: die Rekonstruktion der in die Zeit vor 1945 zurückreichenden Tiefendimension der Biographie dieses prominentesten Opfers der RAF, dessen Leben von Freund und Feind fast ausschließlich von ihrem Ende, also von Schleyers Ermordung her gelesen worden ist. Insofern kratzt er im doppelten Sinne am Mythos Schleyer. Aber er macht dann nur implizit deutlich, dass der in einem familiären Umfeld „Alter Kämpfer” aufgewachsene, in der Heidelberger NS-Studentenbewegung politisch sozialisierte Schleyer sich in Innsbruck und Prag als studentischer Aktivist und rechte Hand eines Wirtschaftsfunktionärs nur einen recht begrenzten Verantwortungsbereich hatte erobern können. Die (von Hachmeister nicht ausgesprochene) Annahme ist dennoch plausibel, dass der bei Kriegsende 30jährige, überaus gut vernetzte Schleyer bei einem Fortdauern der NS-Herrschaft eine steile Karriere gemacht hätte.
Im gleichen Sinne relativiert Hachmeister Schleyers Nachkriegsbiographie. Er porträtiert als den allmächtigen „Boss der Bosse”, sondern als gescheiterten Mann, den die kulturellen Umbrüche der Zeit nach 1968 letztlich überrollt hätten. Hier schießt Hachmeister über sein Ziel hinaus. In dem berechtigten Anliegen, den Mythos Schleyer zu zerstören – indirekt damit auch die RAF lächerlich machend, die sich „eines Stereotyps”, nicht einer realen Person bemächtigt habe —, unterschätzt er Schleyers Verdienste. An den eigenen Ambitionen gemessen, hatte Schleyer sein Karriereziel vielleicht nicht erreicht, als er 1971 den Kampf um den Daimler-Vorstandsvorsitz verlor. Dennoch konnte er mit Genugtuung darauf verweisen, die Zeichen der Zeit erkannt und frühzeitig auf eine Ausweitung der hochprofitablen LKW-Produktion gesetzt zu haben. Übertrieben ist Schleyers Charakterisierung als „Mann der old school des paternalistischen Managements”. Das war er gerade nicht, trotz aller eher angelsächsischen Vorbildern ähnelnden „Herr-im-Hause“-Attitüden. Er war vielmehr ein innerbetrieblicher Modernisierer, der durchaus seiner Zeit sogar voraus sein konnte: mit seinen Überlegungen zum „sozialen Modell” Deutschland und in seiner Praxis der Vermögensbildung, in der er die Arbeitnehmer durch Belegschaftsaktien am wirtschaftlichen Erfolg und Interesse des Unternehmens partizipieren ließ. Auch dass Schleyer den Konflikt mit der Arbeitnehmerschaft nicht scheute und 1963 erstmals in der Nachkriegszeit das Mittel der Aussperrung anwandte – womit er sich unter seinen Arbeitergeberkollegen und bei der baden württembergischen CDU-Landesregierung nicht nur Freunde machte —, lässt ihn im zeitgenössischen Kontext sogar als eine relativ fortschrittliche Unternehmerpersönlichkeit erscheinen: Mochten auch die Gewerkschaften damals seine Verhandlungsstrategie keineswegs als Fortschritt empfinden, steht nicht Schleyer, sondern Abs für das ältere („rheinische”) Modell eines auf Ausgleich und Kompromiss abzielenden Konsenskapitalismus. Zu einer empirisch unterfütterten Antwort auf die in der Einleitung aufgeworfene, wichtige und weiterführende Frage, wie stark Schleyers Vorstellungen von einer Betriebsgemeinschaft durch seine NS-Erfahrungen geprägt worden sei, kommt Hachmeister letztlich nicht. Das mag auch der bedauerlichen Tatsache geschuldet sein, dass Hachmeister, obwohl ihn die Familie Schleyer in seinem Forschungsanliegen unterstützte, keinen Zugang zum Unternehmensarchiv erhielt.

Dass Schleyer durchaus wegweisend für das moderne Unternehmertum der alten Bundesrepublik war – wenn auch nicht im Sinne der Neuen Linken —, zeigt der Vergleich mit dem sehr viel älteren Abs, der eigentlichen Galionsfigur der vielbeschworenen „Deutschland AG”. Als Banker setzte sich Abs wie Schleyer selbstverständlich für die breite Streuung von Aktienbesitz ein. Aber darüber hinaus repräsentiert er den „rheinischen Kapitalismus” geradezu idealtypisch, etwa durch die Verflechtung der Unternehmenslandschaft über seine vielen Aufsichtsratsmandate. Auch nahm Abs in der Frage der Mitbestimmung eine moderate Haltung ein. Überdies war der weltweit hofierte und hochgeschätzte Finanzfachmann Abs kein global player im modernen Sinne, wie Gall deutlich herausarbeitet. Er blieb bei aller Weltläufigkeit einer in ihrem Kern auf die Zwischenkriegszeit zurückgehenden, nationalen Perspektive verhaftet. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat konnte er die Eröffnung auch nur einer einzigen Auslandsfiliale der Deutschen Bank verhindern. Als Ratgeber der Bundesregierung in den Währungskrisen 1961 und 1969 war Abs von zweifelhaftem Wert, weil er die von einer hysterischen Inflationsfurcht genährte Ablehnung der Aufwertung der DM stützte. Mental wirkte hier die katastrophale Wirtschaftsentwicklung der Zwischenkriegszeit nach; zu den von Abs daher prophezeiten drastischen Folgen kam es bekanntlich nicht. Im Rückblick wirkt sein Widerstand gegen die Freigabe der Wechselkurse 1971173 wie eine Don Quichotterie. Hier war Abs deutlich vom 19. Jahr-hundert geprägt, so wie er überhaupt Wirtschaft und Gesellschaft stark vom Nationalstaat her dachte.

Sowohl Gall als auch Hachmeister unterstreichen die Vorzüge der Biographie als einer über die jeweiligen Hauptprotagonisten hinausweisenden Darstellungsweise, die eine adäquate Annäherung an die Kontinuitäten im „deutschen Jahrhundert” (Eberhard Jäckel) ermöglicht. Im Falle von Schleyer war diese Kontinuität eher imaginär als real, jedoch als Stereotyp nicht weniger wirkmächtig. Sie lag, von Netzwerken „alter Kameraden” abgesehen, überwiegend außerhalb seiner Biographie als Unternehmer; daher vergaß die RAF seine NS-Vergangenheit zu thematisieren, wie sich einige Mittäter in ihren nachträglichen Rechtfertigungen bedauernd erinnerten. Bei der im Hinblick auf das Selbstverständnis der Protestbewegungen der 1960er Jahre geradezu subversiv wirkenden Frage nach der Kontinuität „außerstaatlicher Militanz” in Deutschland belässt es Hachmeister bei Andeutungen: So vergleicht er einen charismatischen Heidelberger NS-Studentenführer der 1930er Jahr mit Rudi Dutschke oder spricht durchgängig von der NS-Studentenbewegung. In der RA sieht er eine indirekte Antwort auf die anti( Walsozialistische außerparlamentarische Opp( Bition der späten Weimarer Republik, wenn  sich auch scharf von der These von „Hitler Kindern” distanziert. Für die eigentliche, als „bürgerliche” Kontinuität im 20. Jahrhundn steht Abs – gerade weil er dem NS-Regime ii ideologischen Sinne sehr viel weniger verheiratet gewesen war als der junge Schleyer. Für  beide erwies sich die Demokratie als die bessere Alternative. Für Abs, weil er sich auf grund der Erfahrungen zwischen 1933 uni 1945 ein freies Unternehmertum letztlich außerhalb einer liberal-demokratischen Ordnung nicht mehr denken konnte. Für den sich  ähnlichen Einsichten erst allmählich durchringenden Schleyer, weil er als gebranntes Kind noch einmal davongekommen war und ihn das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik eine zweite Chance bot.

nach oben