Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 169: Qualitätsjournalismus in der Krise

Der Kinogänger als Flaneur

Siegfried Kracauers Filmkritiken in einer Gesamtausgabe

aus: Vorgänge Nr. 169 ( Heft 1/2005), S. 126-129

Die Lektüre von Siegfried Kracauers Kleinen Schriften zum Film stimmt melancholisch. In den von der Münchner Literaturwissenschaftlerin Inka Müller-Bach im Rahmen der auf neun Bände angelegten Gesamtausgabe herausgegebenen Bänden trifft man auf eine Persönlichkeit, wie sie heute undenkbar erscheint: einen Filmkritiker, für den der Begriff Journalist zu klein scheint, da er noch in seinen kürzesten Texten die Größe seines Denkens schreibend zur Entfaltung bringt:

Siegfried Kracauer: Kleine Schriften zum Film, hg. v. Inka Müller-Bach u. Mitarb, v. Mirjam Wetzel u. Sabine Biebl, 3 Teilbände (Werke 6), Suhrkamp: Frankfurt/Main 2004, 1.676 S., ISBN 3-518-58346-8, 112 Euro

Dass der studierte Architekt Kracauer nie zum Darling des akademischen Betriebs avanciert ist, mag der äußerlichen Disparatheit seines intellektuellen Schaffens geschuldet sein. Sein Name taucht in der Filmtheorie ebenso auf wie in der Soziologie, in der Philosophie wie in der Literatur, in der Publizistik und im Umkreis der Frankfurter Schule. Der 1889 geborene Kracauer konnte neben der theoretischen Arbeit auf eine umfassende Praxis als Filmkritiker verweisen, was für die Gegenwart den Verlust einer kulturellen Einheit offenbart: Heute sind akademischer Diskurs und journalistisches Tagesgeschäft weitgehend getrennt. Das mag mit der Institutionalisierung einer Disziplin wie der Filmkritik (an der Kracauer mitgewirkt hat) zusammenhängen. Die Mühelosigkeit aber, die sprachliche Leichtigkeit und Souveränität, mit der Kracauer zwischen der Abstraktheit philosophischen Denkens und der Verständlichkeit eines Zeitungsartikels pendelt, ist heute so beeindruckend wie rar. Das Ende eines Denkens, das an größeren Zusammenhängen orientiert ist, als das universitäre Raster seinen jeweiligen Fächern zugesteht, bedeutete – bekanntermaßen nicht, nur hier – der Nationalsozialismus.

Seit 1921 arbeitete Kracauer bei der links-liberalen Frankfurter Zeitung, zunächst als festerMitarbeiter, drei Jahre später als Redakteur, bis er zu Beginn der 1930er Jahre erst Gängelung und Gehaltskürzung erleben musste, später dann die Kündigung des mittlerweile an rechte Eigentümer übergangenen Blattes. Während die Kritiken und kürzeren Essays der Jahre 1921 bis 1933 sich auf über zwei Bände erstrecken, kommen in den folgenden dreißig Jahren bis zu Kracauers Tod 1966 gerade drei-hundert Seiten zusammen. In der erbarmungslosen Chronologie dieser Edition ist das Stottern, in das der Motor von Kracauers film-kritischer Tätigkeit gerät, von weitem zu vernehmen. Um 1930 verschwindet allmählich der Witz aus Kracauers Texten, während die Kritik an der Renaissance des Militärischen und Nationalistischen im Kino vehementer wird, sich die Stimmung der Zeit immer häufiger in die Texte mischt. Eine Besprechung im Sommer 1932 beginnt: „Den lauten Ereignis-sen, die jetzt die Straße beherrschen, ist die ereignislose Stille in den Berliner Kinos umgekehrt proportional.” (III: 73) Kracauers Diktum, wonach der Filmkritiker von Rang nur als Gesellschaftskritiker denkbar sei, wird schon kurz darauf zum Vermächtnis, da Kracauer der Möglichkeit zur Kritik enthoben wird. Zwar schreibt er seit 1933 aus dem Exil in Frankreich, später in den Vereinigten Staaten für amerikanische und Schweizer Zeitungen (Neue Zürcher Zeitung, Basler National Zeitung).

Mit der Regelmäßigkeit aber, die es ihm ermöglichte, gerade „die in den Durchschnitts-filmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen” (III: 63), ist es vorbei. Im November 1933 schreibt er in trotziger Verbitterung: „Von den vielen zurückgebliebenen […] werden selbst Nazis aus dem engeren kalmückisch-arischen Sondergau ,Kulturtreue um Kulturtreue‘ nicht glauben, daß die Kunst, die vor ihrem Einbruch auf ansehnlicher Höhestand, erledigt ist, wenn sie pfeifen.” (III: 167) Sechs Tage vor dem „Einbruch” der nationalsozialistischen Herrschaft druckt die Frankfurter Zeitung die Rezension des Luis-Trenker-Films Der Rebell, die symptomatisch für Kracauers Auffassung von Filmkritik ist. Zum einen legt sie die versteckte Ideologie frei:

„Verherrlicht wird in dem Film die mythische Kraft des Volkes, die sich in den Steinlawinen am deutlichsten vergegenständlicht, der von der Natur selber diktierte Gewaltakt gegen die usurpatorische Gewalt. […] Das Unbehagen nun, das der Film erzeugt, entsteht offenbar dadurch, daß er ein historisches Geschehen nicht in den nötigen historischen Abstand rückt, sondern es, gerade umgekehrt, mit aller Macht dem Heute auf pressen will.” (III: 134; Hervorh. i. Orig.) Zum anderen wahrt sie eine kunstrichterliche Neutralität, die noch dem üblen Propaganda-Stück kritische Gerechtigkeit widerfahren lässt: „Der Hauptglanz strahlt natürlich von Trenker selbst aus [.,,] Als Reiter, Kletterer und Anführer vollbringt er Leistungen, die sich denen von Douglas Fairbanks getrost an die Seite stellen können. Die Freude, die man an ihnen hat, rührt wohl davon her, daß sie nicht einfach Bravourstückchen sind, sondern jeweils aus dem Zwang der Situation hervorgehen und überdies mit körperlichem Scharen ausgeführt werden.” (III: 133) Ganz nebenbei straft gerade die Ausgewogenheit von Kracauers Beurteilung die Vorstellung eines unpolitischen Künstlers Lügen.

Die Emigration trennt Kracauers kritisches Werk in zwei Teile: das stete Rezensentenwe= sen der 1920er Jahre, das den Film in seinem Werden als Kunstform begleitete, und die historisierende Betrachtung ab Ende der 1930er Jahre, die erstmals auf die gewordene Kunstform zurückblickte, so in einer von Kracauer 1938 initiierten Artikelserie in der Basler National Zeitung Wiedersehen mit alten Filmen. Oder bei aktuellen Besprechungen, die er zum Überblick über ein Genre oder einen Zeit-Trend weitete (Hollywoods Greuelfilme, Filme mit einer Botschaft, Die Stummfilmkomödie). Verbunden bleiben beide Abschnitte durch Kracauers kulturkritischen Ansatz, der sich noch 1961 am Ende seiner letzten, unveröffentlichtgebliebenen Besprechung von Shirley Clarkes Film The Connection findet: „Ich frage mich, ob es eine gute Idee war, den Anteil von Schwarzen am Drogenhandel und an der Rauschgiftsucht in einem solchen Maß überzubetonen.” (III: 473) Wie die soziale Wirklichkeit in die Muster des filmischen Erzählens hineinspielt und, umgekehrt, von ihnen geprägt wird, ist eine Frage, die in Kracauers Kritiken viel Platz für den Plot des jeweiligen Werks beansprucht. Im Unterschied zur heutigen Praxis der Kritik, die sich zumeist beeindruckt eine Vergangenheit, bei dem es viele Entdek-heute zumeist geschlossen sind, wohingeg kungen zu machen gibt. Und sei es nur die das Grand Rex, das Max Linder Panorar, melancholisch stimmende Beobachtung, dass oder das Studio des Ursulines in Paris ddie erwähnten Frankfurter oder Berliner Kinos Film-Fan noch immer zum Flanieren einlade druckt vom Ton des rezensierten Films zeigt, beurteilt Kracauer Konfektion als Konfektion. Das als ewiges Gestern inszenierte Wien wird ihm so zum running gag: „Der Plunder, der nach der Revolution in Staub zerfallen schien, gebärdet sich quicklebendig. Seine Darbietung ist gewöhnlich eine günstige Gelegenheit, auf Wien zurückzugreifen […] Es träumt und musiziert, es kennt keine Wohnungsnot, sondern nur Biedermeierstuben.” (II: 153; Hervorh. i. Orig.) Film und Gesellschaft (Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino) ist eine Feuilletonserie aus dem März 1927 überschrieben, die in Kracauers Buch Das Ornament der Masse aus dem gleichen Jahr eingegangen ist und in der er sich mit der illusionistischen Unterfütterung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse durch das Kino beschäftigt. Das Grundmotiv ist der Aufstieg einzelner als Losgewinn eines Schicksals, das zum Ausgleich die Klassenunterschiede zementiert: „Das ist das Schema der Zille-Filme, die das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, indem sie das Proletariermilieu gruselig schildern und zugleich eine Person aus der Hölle erretten.” (II:153)

Aller Skepsis einer versteckten Ideologie gegenüber zum Trotz zeigt sich Kracauer als passionierter Kinogänger, der den wahren „Film-Fan” als Flaneur charakterisiert: „Jedenfalls gehört er nicht zur Menge derer, die in erster Linie zu den groß angekündigten Premieren strömen und nur der Verführungskraft weltberühmter Stars erliegen. Im Gegenteil. Vom Abenteuerdrang der umherschweifenden Kamera beseelt, die gerade das Inoffizielle, Unbeobachtete visiert, liebt auch er es vor allem, aufs Geratewohl durch die Kinos zu schlendern und abseits von der Heerstraße seine Entdeckungen zu machen.” (III: 309) Seine Kritiken suchen nicht nur nach gesellschaftlichen Gehalten, sondern nach einer eigenen Ästhetik des Films, wie sie sich etwa in der Montage oder der „Raumbeherrschung” von Eisenstein oder Pudowkin verwirklicht. Im Spiel der Schauspieler, das üblicherweise am
Ende jeder Besprechung gewürdigt wird, drängt Kracauer auf den Unterschied zur Bühne, wo der Darsteller „wirklich die Rolle spielt, in der er erscheint”, der Filmschauspieler dagegen „nur Beiträge zu einer Rolle, an der andere mitschaffen” (III: 317) liefert. Den technischen Umwälzungen seiner Jahre, Ton-und Farbfilm, steht Kracauer reserviert, aber nicht pessimistisch gegenüber. Er befürchtet bei zunehmender Mimesis der Filmkunst an die Realität einen Verlust am Künstlerischen, da gerade der Mangel einen Ausdruck erforderte, der um vieles mehr gestaltet ist als das tägliche Leben. Zugleich ist er aber klug genug, mit schwarzseherischer Prophetie sparsam umzugehen: „Wie behutsam Urteile dieser Art formuliert zu werden verlangen, hat sich beim Übergang des stummen Films in den tönenden gezeigt.” (III: 185) Wenn auch sich der Film-Flaneur Kracauer vom Star wenig angezogen zeigt, so bieten die versammelten Texte, die in der Werkausgabe mit einem ausführlichen Anhang und einem aufwendig recherchierten Kommentar versehen sind, einen umfassenden Einblick in des Kritikers Vorlieben. Gerade beim zusammenhängenden Lesen ergibt sich so ein Daumenkino von Kracauers Geschmack, der unter den Regisseuren neben den erwähnten Russen etwa Renoir, Lubitsch oder Rossellini schätzt, von Walther Ruttmanns Berlin-Film Symphonie der Großstadt dagegen wenig hält und von Orson Welles‘ Citizen Kane nicht allzuviel. Charlie Chaplin und Bunter Keaton liebt er wie Asta Nielsen und Greta Garbo, der er einen wunderbaren Essay schreibt. Kracauers vorurteilsfreie Zuneigung zum Kino zeigt sich aber auch darin, dass er die gute Kolportage zu loben weiß und den Chargen der Durchschnittsproduktion wie Harry Piel oder Harry Liedtke mit ausdauern-der Sympathie die Treue hält.

„Alte Filme sehen, heißt auch einen Kontrollgang durch seine eigene Vergangenheit zu machen” (III: 226), schreibt Kracauer zu Beginn seiner BNZ-Serie. Die Lektüre seiner Kritiken ist ebenfalls ein Kontrollgang durch.

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