Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 169: Qualitätsjournalismus in der Krise

Medien­prä­senz und Aufinerk­sam­keits­steu­e­rung

Die Flutkatastrophenberichterstattung und ihre politischen Folgen

aus: Vorgänge Nr.169 ( Heft 1/2005), S.11-19

Kein anderes Ereignis der letzten vier Jahre hat im deutschen Fernsehen derart die Agenda bestimmt wie die Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004. Die Terroranschläge in New York und Washington vom 11. September 2001 waren 13 Tage lang ununterbrochen die erste Nachricht der ARD-Tagesschau; die Elbeflut im August 2002 nahm 14 Tage lang diese Position ein, die Flut in Südostasien erreichte nun diese Aufmerksamkeit sogar 15 Tage und damit länger als alle anderen Nachrichtenereignisse. Dabei haben vergleichbare Naturkatastrophen im Ausland bisher keine so große Aufmerksamkeit erfahren, wie etwa das Erdbeben in Bam (Iran) ein Jahr zuvor, über das 7 Tage lang an erster Stelle berichtet wurde. Zudem verdrängte die Tsunami-Berichterstattung andere wichtige Entwicklungen wie den Krieg im Irak, den Regierungswechsel in der Ukraine und die Implementation von Hartz IV in Deutschland fast völlig aus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Zwar ist generell festzustellen, dass über plötzliche, dramatische und zeitlich scharf begrenzte Ereignisse in den Medien eher berichtet wird und deshalb der Zugang zur wichtigsten deutschen Informationssendung durchaus zu erklären ist. Die Intensität der Berichterstattung ist jedoch überraschend und stellt eine neue Qualität dar.

Diese neue Art und Weise der Fokussierung öffentlicher Aufmerksamkeit hat nämlich zu einer enormen Spendenbereitschaft im privaten wie öffentlichen Bereich geführt und damit praktische Folgen in den Handlungen der Medienrezipienten ausgelöst, die wiederum politische und institutionelle Konsequenzen nach sich zogen. Privates, öffentliches und politisches Handeln wurde durch die intensive Form der Medienfokussierung provoziert. Die privaten Spenden in Deutschland stellen mit ca. 500 Mio. Euro weltweit die höchsten Zuwendungen dar. Dies erstaunt vor allem deshalb, weil parallel in Deutschland ein Diskurs über eingeschränkte private Einkommen geführt und später wieder aufgenommen wurde.

Auch Unternehmen sahen sich angesichts dieser großen Aufmerksamkeitsfokussierung, die einen sozialen Druck zum Spenden auslöste, veranlasst, Beträge in Millionenhöhe bereitzustellen. Aus deutscher Perspektive traten dabei die Deutsche Bank (10 Mio. Euro) und Michael Schumacher (10 Mio. USD) sowie Daimler-Chrysler (2 Mio. USD), Telekom, Siemens, Allianz, BASF, AXA (jeweils 1 Mio. Euro) und Bayer (0,5 Mio. Euro) hervor. Allein in den USA überstiegen die privaten und öffentlichen Spenden ebenfalls den Betrag von 1 Mrd. USD, gefolgt vom Anrainerstaat des Katastrophengebietes, Australien, knapp unter dieser Marke.

Die kollektive Spendenmobilisierung in Deutschland erfasste nicht nur Einzelpersonen, sondern parallel zur Berichterstattung mehr und mehr Vereine, Schulklassen oder Kommunen. Es verging Ende Dezember und Anfang Januar kein Tag, an dem nicht mannigfache Spendenaufrufe die Haushalte erreichten und in TV-Shows für die Opfer der Flutwelle gesammelt wurde. Die einzelnen Fernsehsender traten hierzu in Konkurrenz auf, während sich die Hilfsorganisationen in Bündnissen zusammengeschlossen hatten.

Die Regierung Schröder sah sich angesichts dieser Dynamik gezwungen, die anfängliche Hilfszusage von 1 Mio. Euro auf 500 Mio. Euro zu erhöhen. Allein die australische Regierung stellt mit ca. 650 Mio. Euro mehr öffentliche Mittel zur Verfügung, die amerikanische Regierung sagte — trotz offen formulierter militärischer und ökonomischer Interessen, die Paul Wolfowitz, früherer amerikanischer Botschafter in Indonesien, bei einem Besuch darlegte — hingegen 280 Mio. Euro zu.

Über die Hilfszusagen hinaus hat die Bundesregierung inzwischen mit Christina Rau eine Fluthilfe-Koordinatorin als persönliche Beauftragte des Bundeskanzlers eingesetzt, um die öffentliche Aufmerksamkeit für die Hilfsmaßnahmen aufrechtzuerhalten und vom Arbeitsstab des Auswärtigen Amtes auf das Bundeskanzleramt zu lenken.

Die Bundesregierung bereitet sich darauf vor, die Erinnerung an die enorme öffentliche Wirkung der Berichterstattung in Zukunft zur Steigerung ihres Renommees bei den deutschen Wählern zu nutzen. Mit den finanziellen Zusagen und der Einrichtung der Koordinatorenstelle erhält die Region Südostasien dabei eine politische Bedeutung, die sie für die deutsche Außenpolitik zuvor nicht hatte.

Das entwicklungspolitische Engagement der Bundesregierung vor der Flutkatastrophe beschränkte sich in der Region Südostasien auf Länder wie Vietnam, Kambodscha, Laos und Osttimor, wobei ausdrücklich der Aufbau von Basisinfrastruktur und die Armutsbekämpfung im Vordergrund standen (Auswärtiges Amt 2002: 11). In dieser Zeit beliefen sich die für die gesamte Region Asien und Ozeanien zugesagten Mittel der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit auf 1.044 Mio. Euro; die tatsächlich ausgezahlte Summe betrug lediglich 60 Prozent der ursprünglichen Zusagen, nämlich 631 Mio. Euro (BMZ 2005). Die am 6. Januar 2005 im Zeichen von erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit zugesagten 500 Mio. Euro Wiederaufbauhilfe unterscheiden sich von der bisherigen Politik in zwei Aspekten: zum einen richtet sich die Entwicklungszusammenarbeit auf bisher nicht berücksichtigte Länder und Regionen aus (Sri Lanka und die indonesische Provinz Aceh), und zum anderen bekommt die Realisierung der Hilfe unter dem Stichwort Partnerschaftsinitiative für Südasien eine neue, öffentlichkeitswirksame Gestalt. Von der Entwicklung der Aufmerksamkeit und dem öffentlichen Interesse an den konkreten Hilfsleistungen der Bundesregierung wird auch abhängen, wie hoch der Prozentsatz an den zugesagten Mitteln ist, der tatsächlich ausgezahlt werden wird.

Warum zeitigten die Ereignisse von Südostasien in Deutschland eine derartige Wirkung? Denn aufgrund der geographischen Distanz ist die Bundesrepublik für diese Frage eigentlich nicht mit Australien, aufgrund der weltpolitischen Rolle nicht mit den USA gleichzusetzen; gleichwohl engagieren sich die deutsche Gesellschaft und der deutsche Staat in ähnlichem Maß wie die regionale Mittelmacht und die Weltmacht. Fernab vom Katastrophengebiet und ähnlich wie andere europäische Staaten durch den Verlust von Bürgerinnen und Bürgern betroffen, unterscheidet sich die Reaktion in Deutschland zudem erheblich von den anderen europäischen Staaten und Gesellschaften. Die französische Regierung stellt für die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen ca. 53 Mio. Euro zur Verfügung, die Regierung Ihrer Majestät ca. 77 Mio. Euro. Private Spenden aus Frankreich belaufen sich auf 45 Mio. Euro, im Vereinigten Königreich betragen sie 143 Mio. Euro — und belaufen sich damit auf 10 (Frankreich) bzw. 20 (Großbritannien) Prozent der deutschen Zusagen.

Unsere These ist, dass durch die spezifische Art und Weise der Berichterstattung über die Flutkatastrophe nicht nur die Spendenbereitschaft in Deutschland enorme Ausmaße angenommen hat, sondern auch unerwartete (und deshalb zufällige) Änderungen in der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik ausgelöst wurden und darüber hinaus institutionelle Veränderungen im Ansatz zu beobachten sind. Die Ursache für diese Prozesse liegt aber in der Art und Weise, wie die deutschen Medien über die Flutkatastrophe berichtet haben.

Die besonderen Bedingungen der Tsuna­mi-­Be­richt­er­stat­tung

Die Rolle der Medien ist gerade bei internationalen Entwicklungen nicht zu überschätzen, denn anderweitig erlangen die wenigsten Menschen Kenntnisse über die Geschehnisse. Verstärkt wird ihre Bedeutung dadurch, dass internationale Prozesse häufig sehr komplexe Gestalt annehmen, viele (meist unbekannte) Akteure involviert sind und eigene Erfahrungen zur Einschätzung der medial vermittelten Situationen fehlen. Der lang anhaltende Krieg im Kongo beispielsweise, der bisher weit über die zehnfache Opferzahl der Flutkatastrophe gefordert hat, steht deshalb völlig außerhalb des Blickfeldes deutscher Medien; die Komplexität des Konfliktes ist kaum zu vermitteln, die sich abspielenden Prozesse sind nur schwer zu beurteilen. Dies war bei der Flutkatastrophe ganz anders. Im Unterschied zu den meisten internationalen Geschehnissen handelte es sich dabei um eine einfache Konstellation: Natur gegen Mensch. Alle Menschen waren Opfer, weshalb die Lage einheitlich beurteilt werden konnte und sich keine moralischen Dilemmata eröffneten. Berichte über die politischen und ökonomischen Bedingungen der Frühwarnung, verzögerte Hilfsmaßnahmen oder gar kriminelle Handlungen im Umfeld der Katastrophe traten völlig in den Hintergrund. Da die Flutwelle zudem nicht vorhergesehen wurde, kam die Nachricht völlig überraschend und hatte einen entsprechend extrem hohen Neuigkeitswert. Die Aufmerksamkeit war zu Beginn sicher, musste dann jedoch gesteuert werden. Dies ist in einer bisher beispiellosen Weise gelungen.

Da konkurrierende Themen wie der Krieg im Irak oder die Demonstrationen in der Ukraine schon länger im Fokus der Berichterstattung standen, hatten sie an Attraktivität für Medienmacher und Zuschauer verloren. Und gleichzeitig war der Zeitpunkt günstig, um die hohe Aufmerksamkeit dauerhaft erzielen, denn die Mediennutzung und insbesondere der Fernsehkonsum liegen an Feiertagen erheblich höher als zu anderen Zeiten. Ein quasi-persönlicher Bezug zwischen Betrachter und Ereignis konnte darüber hinaus hergestellt werden, weil über Deutsche in der Krisenregion bzw. über ihre Angehörigen und Freunde in Deutschland berichtet werden konnte.

Zerstörte Hotelanlagen lösten bei den Betrachtern schließlich greifbarere Assoziationen aus als Bilder aus fremden Kulturen. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung da-durch, dass „Urlaubsvideos” von der hereinbrechenden Flut gezeigt wurden: unprofessionelle Bilder, die den Blick des Urlaubers auf das freie Meer schlagartig in den Hotelinnenhof verengten und dann an einzelnen Personen hängen blieben. Unterlegt waren diese Filme durch Schreie und entsetzte Reaktionen. Dadurch entstand ein Surrogat des Authentischen, das entlang ähnlicher Urlaubsblicke der Betrachter Anschlussfähigkeit herstellte. Während ein Kriegsberichterstatter ein fremdes Auge in fremder Umgebung ist, handelte es sich bei den privaten Aufnahmen von der hereinbrechenden Flut um eine glaubhafte Vermittlung, die Ereignisse in gewohnter Umgebung mitzuerleben.

Es bestanden demnach keine Assoziationsbarrieren gegenüber fremdartigen Kulturen, weil die Bilder zerstörter Gebiete aus Touristenräumen stammten und diese sich weltweit ähnlich sind. Deswegen wirkten die Bilder der Flutwelle intensiver auf die Betrachter ein, als dies bei ähnlich verheerenden Naturkatastrophen, beispielsweise dem Erdbeben in Bam 2003 oder dem Wirbelsturm in Bangladesh 1991 der Fall war. Diese überstiegen der fremdartigen Lebenswelt wegen das Vorstellungsvermögen der deutschen Betrachter. Entgegen der in den Medien weit verbreiteten Äußerung von der „unvorstellbaren Zerstörung” reduzierten die Fernsehbilder die Zerstörungen durch die Flutwelle gerade auf ein vorstellbares Maß.

Weiterhin bestand zwischen den Bildern zerstörter Strände und der Vorstellung vom Urlauberparadies eine so große Distanz, dass die Zerstörungen verstärkt ins Bewusst-sein treten konnten, anders beispielsweise als in der Berichterstattung zum Krieg in der sudanesischen Provinz Darfur, bei der Hunger, Elend und Krieg quasi Charakteristika der Lebensverhältnisse sind, zumindest in den Augen der Betrachter. Die Flutwelle war von der angenommenen Normalität hingegen drastisch zu unterscheiden.

Die Realität der Medien­be­richt­er­stat­tung in den nachfol­genden Wochen

Unter diesen Bedingungen – ein dramatisches Ereignis mit einfacher Konstellation, dem auch noch ein „deutsches” Gesicht gegeben werden konnte – entfaltete die Flutkatastrophe ihre Medienwirkung. Die enorme Aufmerksamkeit in den ersten Tagen wurde durch eine geschickte Inszenierung der Dramatik – zuerst über die Opferzahlen, später über die Spendenhöhe –, eine zupackende Personalisierung – mit deutlichem Schwerpunkt auf dem eigenen Land – und die konstante Botschaft der einfachen Menschgegen-Natur-Konstellation für lange Zeit aufrecht erhalten. Die empirische Analyse belegt dies.
Für die Untersuchung der Medienberichterstattung in Deutschland wurden sowohl Printmedien als auch Fernsehberichte in der Zeit vom 26. Dezember 2004 bis 18. Januar, 2005 betrachtet. Ausgewählt wurden für die Printmedien drei Tageszeitungen – die
Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und Die Welt; die Fernsehberichterstattung wurde anhand der 20-Uhr-Tagesschau der ARD analysiert.l Bei beiden Medienformen stand die Frage im Mittelpunkt, welche Bezugspunkte das berichtete Geschehen für den Zuschauer erfahrbar und verständlich machen sollten. Wir haben daher alle Tagesschau-Beiträge und Zeitungsartikel über die Flutkatastrophe nach ihrem Bezug entweder zu Berichten über die betroffenen Regionen (Zerstörung vor Ort, Situation der Einheimischen etc.), zu deutschen Themen (vermisste Urlauber, Schicksale von Hinterbliebenen, Reaktionen der Bundesregierung, Einsatz deutscher Helfer im Katastrophengebiet etc.) oder zu Spendenaktionen und Hilfsmaßnahmen kategorisiert (vgl. Anhang, Tabelle 1).

27,2 Prozent der Beiträge in den Printmedien stellten einen direkten Bezug der Ereignisse in Südostasien zu Deutschland her. Besonders in den ersten Tagen nach der. Katastrophe ist dieses Phänomen zu beobachten, das durch die erhöhte Aufmerksamkeit aufgrund der Feiertage zusätzliche Wirkung entfalten konnte. Berichte über die Lage in den betroffenen Ländern nahmen den gleichen Stellenwert (27,2 Prozent) ein. Über die Frage, wie den Betroffenen geholfen werden könne, wurden Artikel in größerer Zahl hingegen erst am vierten Tag der Berichterstattung veröffentlicht. Am Ende nahmen sie mit 24,2 Prozent einen ähnlichen Raum wie die Deutschland- und situationsbezogenen Berichte ein.

Insgesamt konzentrierte die Berichterstattung ihre Aufmerksamkeit fast zwei Wochen mit sehr hoher Frequenz auf die Ereignisse in Südostasien und die damit in Zusammenhang gebrachten Vorgänge.

Das Erdbeben im iranischen Bam am 26. Dezember 2003 erfuhr im Vergleich zur Berichterstattung über die Flutwelle eine weit geringere Aufmerksamkeit (in der Spitze 60 Prozent der Tsunami-Berichte), die auch nur wenige Tage eine hohe Frequenz aufwiesen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und der Welt erschienen 611 Artikel zur Flutkatastrophe und lediglich 159 Artikel zum Erdbeben im Iran (jeweils im Vergleichzeitraum 27. Dezember bis 18. Januar 2003/04 bzw. 2004/05).

Noch ausgeprägter ist die Berichterstattung im deutschen Fernsehen, für das wir die Ausgaben der Tagesschau (ARD, 20 Uhr) ausgewertet haben. Dabei nehmen die Bei-träge mit Deutschlandbezug einen Anteil von fast 40 Prozent ein. Auch hier stellen wir eine Konzentration in den ersten Tagen nach dem Ereignis fest, mit Spitzen nach Weih-nachten und zu Silvester, an denen dies die Hälfte der Katastrophen-Berichterstattung ausmacht (vgl. Anhang, Tabelle 2).

Länger als eine Woche umfasste mehr als die Hälfte der Informationsbeiträge der Tagesschau Ereignisse, die mit der Flutkatastrophe zusammenhingen. Die mit Deutschland in Beziehung gesetzten Berichte überragen die Berichterstattung aus der betroffenen Region deutlich (39,3 zu 30,1 Prozent). Zum Ende des Untersuchungszeitraums nehmen Beiträge zur internationalen Hilfsleistung einen deutlich größeren Raum ein und erreichen insgesamt 28,1 Prozent. Nur knapp drei Prozent der Beiträge setzen sich mit anderen Themen (Papstmesse für die Flutopfer, Entwicklung eines Frühwarnsystems) auseinander. Hier ist ein deutlicher Unterschied zu den Printmedien festzustellen, in denen 21,4 Prozent der Beiträge sich mit der Naturkatastrophe auf andere Weise, z.B, durch die Erklärung ihres Entstehens, beschäftigten.

Die komplexen Wirkungen der Tsuna­mi-­Be­richt­er­stat­tung

Wie stets bei dramatischen Ereignissen beinhaltet die Berichterstattung auch die Selbstbeobachtung der Medien. Bis auf wenige Ausnahmen entstand der Eindruck einer ebenso realistischen wie den Ereignissen angemessenen Berichterstattung (Tagesspiegel 2005). Die Suggestion einer ethisch sauberen Dokumentation der Ereignisse konnte da-durch geweckt und aufrechterhalten werden, dass die Dramatik in zwei sukzessiv ablaufende und sich gleichzeitig überschneidende Prozesse kanalisiert wurde. Angesichts der anfangs nur spärlich verfügbaren Informationen und der Tatsache, dass zerstörte Gebiete großflächig lange nicht begehbar waren, musste keine eigene Ereignisdramatik aufgebaut werden. Die zu Beginn der Berichterstattung nahezu stündliche Zunahme der Opferzahlen lieferte eine ausreichende Projektionsfläche für die Vermittlung der situativen Dramatik. Parallel hierzu – und schließlich diesen Prozess ablösend – wurden die stetig aktualisierten Spendenhöhen zu einem zweiten Maßstab, diesmal in der Reaktion der Betrachter. Gepaart mit einem ständigen Bezug zu den Aspekten des Unglücks, die für die deutschen Rezipienten als bedeutsam dargestellt wurden, verlief die gesamte Tsunami-Berichterstattung entlang der beiden Handlungsstränge „Katastrophe” und „Hilfe”.Einsamkeit vor allem in der Fernsehberichterstattung erfuhr. Dabei ist der bruchlose Wechsel der Berichterstattung über das Erdbeben und die Folgen der Flutwelle zur internationalen Hilfe besonders auffällig. Daraus konnte die simultane Dramatik aus Opfern und Spenden konstruiert werden.

Um die Aufmerksamkeit immer wieder neu fokussieren zu können, ließen sich Medien auch für die partikularen Interessen der verschiedenen Gruppen vor Ort instrumentieren, etwa wenn die amerikanischen Streitkräfte den Hilfseinsatz zur Verbesserung des weltweiten Images der USA und speziell ihres Militärs nutzen. Seit dem 2. Januar 2005 – also schon sechs Tage nach der Flut – war das amerikanische Militär im Einsatz, ins-besondere mit dem Flugzeugträger Abraham Lincoln, auf dem Präsident Bush das Ende der Kampfhandlungen im Irak verkündete und der nun erneut als Symbol für eine gute Sache stehen sollte.

Die amerikanischen Hilfsmaßnahmen führten jedoch zur Verdrängung anderer Organisationen, die sich nun ihrerseits über die Medien Gehör verschafften und beklagten, dass sie mit ihren eigenen Hilfsmaßnahmen nicht beginnen könnten.

Diese Auseinandersetzungen eröffneten den Medien die Möglichkeit, die Berichterstattung entlang stets neu konstruierter, jedoch dem Hauptthema untergeordneter Konfliktlinien weiterzuführen. Eine Analyse anhand der Beiträge zur Lage in Aceh ergibt, dass zu Beginn der Hilfsmaßnahmen Opfer und Helfer vereint gegen die anscheinend inkompetente indonesische Regierung stehen. Im weiteren Verlauf der Berichterstattung werden die Hilfsmaßnahmen der USA kritisiert und vermeintlich uneigennützigen eigenen Hilfsvorhaben entgegen gestellt, insbesondere durch das deutsche Lazarettschiff Berlin. Gleichzeitig wurde die Präsenz islamischer Nichtregierungsorganisationen als gefährlich dargestellt, weil diese die Notlage der Bevölkerung für ihre Zwecke missbrauchten. Der seit Jahrzehnten gewaltsam ausgetragene, jedoch von der deutschen Öffentlichkeit wenig beachtete Konflikt um die Region Aceh fand durch die Berichterstattung gesteuerte Aufmerksamkeit: Regierung und Rebellen müssten sich unter dem Eindruck der Katastrophe einander annähern und den Konflikt friedlich beilegen. Dies war der stärkste Beleg einer von der politischen Realität Indonesiens abgekoppelten Berichterstattung, die – sieht man von dem Aufruf der Organisation Ärzte ohne Grenzen zur Einstellung der Spenden für diese Region ab – keinen der Konflikte politisierte.

Wenn man die in der deutschen Fernsehlandschaft am meisten um Objektivität und Sachlichkeit bemühte Nachrichtensendung zum Maßstab nimmt, bezogen sich knapp 40 Prozent der Berichte auf deutsche Aspekte der Katastrophe. Es ist davon auszugehen, dass die übrigen öffentlich-rechtlichen sowie privaten Nachrichtenformate diesen Bezug noch stärker in das Blickfeld ihrer Zuschauer gerückt haben und somit der Eindruck entstand, die Auswirkungen der Flutwelle beträfen deutsche Bürgerinnen und Bürger in besonderem Maße. Die Spendenbereitschaft der deutschen Öffentlichkeit liefert nun den Beleg für die Wirksamkeit dieser Berichterstattung. Durch das ständige Rekurrieren auf die deutsche Perspektive der Südostasien-Flut entstand für den Betrachter das Gefühl des Betroffenseins, auch wenn im persönlichen Umkreis keinerlei Auswirkungen der Flut zu spüren gewesen waren.

Allein die Tatsache, zu einer bestimmten Zeit am Strand gewesen zu sein – eine Erfahrung, die die meisten Menschen in Deutschland teilen –, machte die Menschen zu potentiellen Opfern. Und zwar nicht zu Opfern einer abstrakt absehbaren Gefahr, sondern einer urplötzlich hereinbrechenden Naturgewalt. Diese Situation konstruierte das Grundthema der Berichterstattung „Natur gegen Mensch”, in der es keine Schuldigen geben konnte. Dadurch wurden alle unmittelbar oder eben über die Medien vermittelt Betroffenen zu einer großen Opfergemeinschaft. Dies war eine wesentliche Bedingung dafür, dass die der Flutwelle nachfolgenden Ereignisse allein als menschliche Schicksale dargestellt werden konnten, ohne die politische Dimension der Ereignisse zu thematisieren. Nicht nur politische und sozioökonomische Konflikte in der Region Südostasien wurden dadurch aus dem Blickfeld der Betrachter verbannt, auch die politische Dimension der Hilfsmaßnahmen wurde der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen.

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