Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 169: Qualitätsjournalismus in der Krise

Neuer Hunger nach vertie­fenden Texten

Gegenöffentlichkeit als Qualitätssicherung der Qualitätsmedien

Vorgänge Nr. 169 (1/2005), S.49-57

Die Krise der Qualitätsmedien ist auch eine Krise der Kritik an Medien und Öffentlichkeit, wie sie über Jahrzehnte durch die Medienprojekte der Neuen Sozialen Bewegungen vertreten wurde. Der Sammelbegriff Gegenöffentlichkeit bedeutete einmal, die Kritik praktisch werden zu lassen und den medialen Produkten eigene Gegenprodukte entgegenzusetzen, wie das Oskar Negt und Alexander Kluge formulierten (Negt/Kluge 1972). Nischen der Aufklärung, die es auch innerhalb der Massenmedien immer gab, sind keineswegs von selbst erstanden, sondern mussten durch eben diese praktische Medienkritik erkämpft werden – eine etwas andere Art der Qualitätssicherung. Die Politik einer „Gegenmanipulation” mit den eigenen „wahreren” Informationen, wie sie zu Zeiten der studentischen Protestbewegung Ende der 1960er Jahre etwa Johannes Agnoli einforderte (Agnoli 1990), hatte allerdings den unangenehmen Beigeschmack, die Empfängerinnen von Nachrichten zum Ziel von Manipulation zu degradieren, nur dieses Mal mit guten, weil fortschrittlichen Absichten. Die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, die man sich von der Verbreitung unterbliebener Nachrichten — so der zweite Teil des Titels einer der einflussreichsten Periodika der westdeutschen Linken von 1973 bis 1981: Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID) — versprach und heute noch verspricht (siehe indymedia; vgl. Hamm/Zaiser 2000), blieb jedoch aus. Stattdessen zeigte sich ein anderer (Neben-)Effekt: Durch die Beschäftigung mit Medien und Öffentlichkeit steigerte sich die Medienkompetenz der beteiligten Akteure immens. Ein anderer Umgang, eine andere Rezeption der durch die Massenmedien vermittelten Inhalte wurde möglich. Es deutete sich zudem an, dass der bislang vernachlässigte Bereich der Medienrezeption bzw. Medienwirkung ein weit stärkeres Eigenleben aufzuweisen hat, als bislang angenommen.

Allerdings ist diese Art der Medienpolitik nicht erst seit heute in der Krise. Soziale Bewegungen sind weggebrochen; ihre Medien laufen Gefahr, zu bloßen Vereins-Mitteilungsblättern oder publizistischen Trutzburgen des Recht-Habens zu werden (vgl. Hühner 2005). Der ökonomische Druck auf die wenigen übrig gebliebenen Akteure ist zu groß, als dass sie sich weiterhin ehrenamtlich gegen öffentlicher Medienproduktion widmen könnten. Einzig die Mangelwirtschaft der Gegenöffentlichkeit mangels Werbeeinnahmen wurde zur Blaupause für die neoliberale Zeitungsproduktion, so hat es den Anschein.

Nach einem Internet-Boom im Zuge der aufkommenden globalisierungskritischen Bewegung Ende der 1990er Jahre existiert heute eine bunte Mischung aus alten und neuen Projekten einer kritischen Publizistik in den Bereichen Print- und Onlinemedien, Rundfunk, Video, Fernsehen und Medienwerkstätten, die sich weiterhin den Zielen einer oppositionellen Gegenöffentlichkeit – selbst verwaltet, unabhängig und nicht-kommerziell – verpflichtet fühlen, diese aber anders akzentuieren. Statt eines emanzipatorischen, rein auf Aufklärung bedachten Mediengebrauchs, wie ihn noch Hans Magnus Enzensberger einforderte (Enzensberger 1970), ist inzwischen von taktischen Medien oder taktischem Mediengebrauch die Rede. Was nützt das beste Flugblatt, wenn es keiner lesen will? Je nach Kommunikationsziel werden heute unterschiedliche, vernetzte Medien – Print, Internet, Video, oder Radio – mittels differierender Kommunikationsstrategien – Ironie, Fake oder „Klartext“-Information – bespielt, um agenda setting zu betreiben (vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe et al. 1997; ®y 2005).

Gerade weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Sender und Empfänger von medialen Botschaften zwei nahezu eigenständige Pole eines komplexen Kommunikationsprozesses sind, stellt sich immer wieder die Frage nach dem Publikum. Ist ein maßgeblicher Bestandteil der Krise der Qualitätsmedien ein in Befragungen immer wieder ausgemachtes Desinteresse neuer Leserschichten, so machen andere, wie etwa die Ästhetik&Kommunikation-Redakteurin Elisabeth von Haebler angesichts einer konstatierten inhaltlichen Verflachung der Medien einen „neuen Hunger nach vertiefenden Texten aus” (zit. n. Aguigah 2004). Während Medienwissenschaftler nicht müde werden zu betonen, dass die Kernkompetenz von Qualitätsmedien gerade darin läge, wohlüberlegte Themenwahl und Interpretationen als Orientierungspunkte in einer zunehmenden Informationsflut anzubieten, so geben sich diese alle Mühe, jene Erkenntnisse der Publizistik zu ignorieren: Redaktionen werden ausgedünnt, Texte kürzer und oberflächlicher, Grenzen zwischen Werbung und redaktionellen Beiträgen durchlässiger. Ob es tatsächlich ein Interesse an Qualität gibt oder das nur der Wunschtraum einer im dem Abstieg befindlichen, um kulturelle Lufthoheit ringenden bildungsbürgerlichen Schicht ist, steht in Frage.

Die Medienkrise in ihren verschie­denen Ausprä­gungen

Es erscheint sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über die unterschiedlichen Interpretationen der Medienkrise zu verschaffen. Da ist zunächst die an Fakten orientierte Deutungsweise der Publizistik, wie sie etwa Hermann Meyn in der Neuauflage seines Standardwerks Massenmedien in Deutschland vertritt (Meyn 2004). Seine Krisendefinition konzentriert sich auf die ökonomischen Aspekte: 2001 sei die durch Wachstum verwöhnte Branche erstmals mit sinkenden Verkaufsauflagen und drastische Einbrüchen bei den Werbeeinnahmen konfrontiert gewesen. Die Auflage der Tageszeitungen sei zwischen 1990 und 2002 um 6 bis 9 Prozent gesunken; die Reichweite ging von 1979, als noch 75 Prozent der 14- bis 29-jährigen angaben, am Vortag eine Zeitung gelesen zu haben, auf 53 Prozent im Jahr 2002 zurück. Die Standardkalkulation kommerzieller Printmedien, zwei Drittel der Einnahmen aus Anzeigen zu erzielen, wurde 2001 mit einem Minus von 14 Prozent und 2002 mit einem Minus von 12 Prozent bei den Werbeeinnahmen erschüttert. Allerdings, so schränkt Meyn ein, gab es die größten Einbrüche bei den Stellenanzeigen: „Im Kern handelte es sich um eine Stellenmarkt-Krise der überregionalen Qualitätszeitungen” (ebd.: 73). Während diese Stellenmarkt-Krise lediglich eine kaum zu beeinflussende Folgeerscheinung der Krise des Arbeitsmarktes ist, macht Meyn weit mehr der Rückgang der Verkaufszahlen und die geringere Reichweite der Qualitätszeitungen Sorgen. Er führt dies auf veränderte Nutzungsgewohnheiten zurück: Regionale Bindungen, für Tageszeitungen mit ihren Lokalteilen besonders wichtig, seien in Auflösung begriffen, zudem gebe es eine zunehmende Aufsplitterung von Interessen und Wünschen, die das Medium Zeitung nicht mehr erfüllen könne. Dennoch hätten Zeitungen eine Zukunft, weil sie das einzige reflexive Massenmedium mit „Zeit fürs Nachdenken” (ebd.) seien.

Im Feuilleton hingegen wird die Krise weit mehr auf den Bedeutungsverlust der Qualitätsmedien hin zugespitzt. Rene Aguigah hat beispielhaft die in diesem Zusammenhang vier zentralen Thesen formuliert: Zunächst ist von einem grundlegenden Strukturwandel die Rede. Klassische Leser- und Autorenmilieus, sowohl bildungsbürgerlicher wie kulturrevolutionärer Ausrichtung, seien in Auflösung begriffen, die traditionelle Figur des „freien Intellektuellen” sei zur aussterbenden Spezies geworden. Schließlich sei an den Qualitätsmedien, zu denen Aguigah in erster Linie intellektuelle Zeitschriftenprojekte wie das Kursbuch oder Lettre zählt, der Medienwandel vorbeigegangen; kritischer Geist finde sich aktuell eher im Netz als in gedruckten Publikationen. Und nicht zuletzt sei auch eine Öffnung der Massenmedien zu verzeichnen. Debatten, für die es vor Jahren noch spezieller Publikationen bedurft hätte, fänden heute in den Feuilletons der großen Tageszeitungen statt (Aguigah 2004).

Die politische Gegenöffentlichkeit thematisiert ihre Krise in Abgrenzung zu den Massenmedien unter einem anderen Fokus. Im Kontext der öffentlich gemachten Existenzkrise der Wochenzeitung Jungle World entstand 2004 ein Internetforum, in dem die zentralen Thesen versammelt waren — das aber bezeichnenderweise mangels Teilnahme nach einigen Monaten wieder geschlossen wurde (vgl. N.N. 2004). Neben dem ökonomischen Druck, den Publikationen, die noch nie von einer Zweidrittelkalkulation ausgehen konnten, natürlich anders erleben, war dort von einer „Wagenburgmentalität” der verbliebenen gegen öffentlichen Zeitschriftenprojekte die Rede. Es gäbe innerhalb der Linken, die sich maßgeblich um ihre Medien gruppiere, kaum noch das Interesse an Szene und Spektren übergreifenden Debatten. Darüber hinaus zeige sich auch hier das Problem eines veränderten Informationsverhaltens. Zudem sei die politische Rolle gegenöffentlicher Medien oft ungeklärt: Verstehe man sich als kollektiver Organisator, als Organ einer Bewegung oder Ort des Überwinterns in bewegungslosen Zeiten, oder entspricht das Selbstverständnis eher dem einer Plattform für die verschiedensten Positionen? Ebenso offen sei das Selbstverständnis der Redakteure und freien Mitarbeiter, die zwischen der Selbstwahrnehmung als Lohnschreiber, Meinungsmacher oder Mittler zwischen Medien und Akteuren sozialer Bewegungen schwanken würden. Kurz und gut: So wie in den Massenmedien hat sich auch innerhalb der gegenöffentlichen Medien der Diskurs über die Krise der Medien etabliert. Während allerdings innerhalb der Massenmedien ökonomische Fragen im Vordergrund stehen, nutzen die Organe der Gegenöffentlichkeit die Krise zum Rundumschlag. Ist das Konzept Gegenöffentlichkeit endgültig überholt? Macht es — provokativ formuliert — noch weiterhin Sinn, in der Regel journalistisch-handwerklich schlechte Produkte herzustellen, nur wegen eines, zudem noch permanent in Frage gestellten, politischen Mehrwerts?

Die Krise der Alter­na­tiven Medien — ein Spezialfall

Krisenphänomene der Gegenöffentlichkeit und der Alternativen Medien werden schon Ende der 1970er Jahre, kurz nach ihrer Blütezeit, diagnostiziert (vgl. Stamm 1988). Für Christina Holtz-Bacha, die die Alternative Presse als Teil der Mediengeschichte der Bundesrepublik analysiert, ist die Sache klar: „25 Jahre nach ihren Anfängen, rund 20 Jahre nach einer kurzen Blütezeit — Mitte der neunziger Jahre hat sich die Alternativpresse in der Bundesrepublik überlebt” (Holtz-Bacha 1999: 345). Nur über Inhalte, zudem noch unprofessionell dargeboten, lasse sich das Stammpublikum aus den Anfangstagen nicht mehr halten, Anpassungsprozesse veränderten die alternative Medienlandschaft. Überlebende dieser Krise seien lediglich die Stadtmagazine und die tageszeitung als überregionale Publikation. Für die Publizistik verschwindet die Alternativpresse also schon vor mehr als einem Jahrzehnt aus dem Fokus des Forschungsinteresses.

Gerade da, wo es interessant wird, hört eine solche Art der Analyse allerdings auf: Wieso haben sich die Alternativen Medien überlebt? Weil ihre Ziele Eingang in die Massenmedien gefunden haben? Weil sich oppositionelle Medien inzwischen an anderen als den Gegenöffentlichkeit-Modellen orientieren? Statt sich mit Fakten wie Auflage, Verbreitungsgrad oder Leserbindung herumzuschlagen, ginge es darum, die verschiedenen politischen Konzepte, die im Sammelbegriff Gegenöffentlichkeit zusammenlaufen, herauszuarbeiten und zu verfolgen, wo — in welch verdrehter Form auch immer — sich diese in der heutigen Medienlandschaft wiederfinden. Drei idealtypische Formen von kritischen Theoremen von Öffentlichkeit, Medien und Demokratie und den mit ihnen korrespondierenden Praxisformen der letzten 30 Jahre lassen sich in diesem Kontext bestimmen: Gegenöffentlichkeit als Sorge um die Demokratie, Betroffenenberichterstattung als Kritik an der Massendemokratie und Kommunikation als emanzipative Strategie (vgl. Oy 2001: 191ff.).

a ) Gegenöffentlichkeit als Sorge um die Demokratie

Im September 1967 wird auf einer Delegiertenkonferenz des SDS als Reaktion auf die Berichterstattung über die studentische Protestbewegung in den Massenmedien eine „Resolution zum Kampf gegen Manipulation und für die Demokratisierung der Öffentlichkeit” verabschiedet (SDS 1967). Hier ist zum ersten Mal im Kontext bundesrepublikanischer sozialer Bewegungen von Gegenöffentlichkeit die Rede. Nach Ansicht des SDS ist es die ökonomische Krise, die nach dem Ende der Restaurationsphase der Nachkriegszeit Repression und Manipulation als Herrschaftsmittel begünstigt. Öffentlichkeit sei in dieser historischen Phase nicht mehr „Widerspiegelung des grundlegenden gesellschaftlichen Konflikts” (ebd.: 29), sondern „funktionale Beherrschung der Massen” (ebd.). Herrschaft beruhe auf der „erkauften Zustimmung der Beherrschten” (ebd.). Somit werde der Kampf um die „Befreiung des Bewusstseins” (ebd.) die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung – nicht nur auf einer manifesten Ebene, sondern auch bis hin zur psychischen Konstitution der Individuen. Die „Enteignet-Springer“-Kampagne mit ihren Zielen Entflechtung der Monopole, Abschaffung der Werbung, Schutz vor staatlichen Eingriffen, innere Pressefreiheit und Recht auf Artikulation in den Medien wird zur ersten umfassenden und offensiven Aktion gegen Meinungsmanipulation erklärt. Das Aktionsprogramm beinhaltet den Kampf um das Grundrecht auf Freiheit der Information und die Aufforderung zur Bildung einer „praktisch-kritischen” (ebd.: 34) Öffentlichkeit: „Es kommt darauf an, eine aufklärende Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die Diktatur der Manipulateure muss gebrochen werden” (ebd.).

Auf Grundlage einer solchen Vorstellung von Gegenöffentlichkeit sollten die 1970er Jahre zum Jahrzehnt der alternativen Publizistik werden. Treffend wurde sie von Geert Lovink im kritischen Sinn mit dem Begriff „Megaphonmodell” (Lovink 1992) charakterisiert: Vom Aktivismus weniger und der Verbreitung der richtigen Informationen wird sich eine Art gesellschaftsverändernde Kettenreaktion versprochen.

b ) Betroffenenberichterstattung als Kritik der Massendemokratie

Das zweite große Konzept innerhalb der Theorie und Praxis alternativer Öffentlichkeit stellt sich – anders als das Konzept Gegenöffentlichkeit, welches eine explizit moderne, an der Philosophie der Aufklärung orientierte politische Theorie ist – in die ambivalente Tradition der Kritik der Massengesellschaft. Hinter dem Ansatz der authentischen Kommunikation, welcher die „eigentlichen” Bedürfnisse der Individuen in den Mittelpunkt stellen möchte, steht eine fundamentale Kritik an den Informations- und Kommunikationsangeboten der Massenmedien. Ihnen wird vorgeworfen, sie würden auf Grund ihrer anonymen und einseitigen Struktur einen realen Meinungs- und Wissensaustausch verhindern und somit dazu beitragen, dass es den Individuen nicht mehr möglich sei, „wirkliche” Erfahrungen zu machen. Eine solche Kritik rekurriert insbesondere auf frühbürgerliche Formen der kommunikativen Praxis und auf die Etablierung konkreter geografischer statt abstrakter Orte des kommunikativen Austauschs.

Drei Momente stehen bei dieser Art Medienkritik im Mittelpunkt: Das ist zunächst die Vorstellung der Authentizität selbst, das heißt der Propagierung einer „wirklichen” Kommunikation statt einer durch die Massenmedien vermittelten, die als eine verfälschte Form angesehen wird. Zum Zweiten gehört zu diesem Konzept ein positiver Bezug auf den Begriff der Kreativität. Rezeption wird innerhalb des Theorems der authentischen Kommunikation als eigenständige kreative Tätigkeit nicht anerkannt, insbesondere die Rezeption massenmedialer Angebote fällt unter das Verdikt des unkritischen, passiven Konsumierens. Schließlich ist die Vorstellung der Authentizität eng mit dem Betroffenheitskonzept verbunden. Gemäß dem Postulat der Politik in erster Person wurde einer als authentisch eingeschätzten Äußerung eines Betroffenen mehr Glauben geschenkt als Berichten aus den etablierten Medien. Durch die kategorische Ablehnung von Journalismus sollte der Zusammenschluss von authentischer Meinungsäußerung, Bericht der Betroffenen, Kollektivitätserfahrungen und politischer Aktion gewahrt bleiben (vgl. Stamm 1988: 71ff.).

Darüber hinaus geht es den Akteuren der alternativen Medien auch um den Organisierungs- und Mobilisierungseffekt, der die authentische von der Massenkommunikation abhebt. Eine Art Selbstaufklärung der Beteiligten soll im Gegensatz zu klassischen anonymen Aufklärungsprozessen die Berücksichtigung individueller Erfahrungs- und Lebenswelten verbürgen.

c) Kommunikation als emanzipative Strategie

Das dritte große Konzept innerhalb der Theorie und Praxis alternativer Öffentlichkeit schließlich ist das Rückkanal- oder Interaktivitätsmodell. Von der sowjetischen Avantgarde in den 1920er Jahren über Brecht und Benjamin bis zu den Netzwerktheorien der 1990er Jahre zieht sich der Gedanke, nur ein grundlegender Wandel des Verhältnisses von Medienproduzenten und -rezipienten könne eine Umwälzung der Struktur der Medien und somit der Gesellschaft hervorbringen. Dieser Wandel wurde zum einen – zunächst am Radio, wesentlich später dann am Internet – an der technischen Möglichkeit, zugleich senden und empfangen zu können, als Chiffre für wahrhaft demokratische Verhältnisse und zum anderen an der theoretischen Beschäftigung mit dem Rezeptions-verhalten – maßgeblich angeleitet durch Stuart Hall und seine Unterscheidung in affirmierende, kritische und oppositionelle Lesarten – deutlich.

Grundsätzlich eint die Ansätze der Interaktion, dass Kommunikationsprozesse als Gegenpol zu den als vermachtet beschriebenen Strukturen der klassischen Massenmedien angesehen wird. Historisch bezieht sich diese Betonung von Kommunikation auf die Durchsetzung der Meinungsfreiheit als eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Revolutionen (vgl. Schuster 1995). Die Etablierung von Kritik und die Entstehung der Medien sind historisch untrennbar miteinander verbunden. Im Prozess der Ausdifferenzierung der kommunikativen Techniken setzte sich jedoch eine Art „Geständniszwang” (Dorer 1997: 248) durch, die ehemals freie Meinungsäußerung wurde in eine Art „Verpflichtung zur medialen Selbstrepräsentation” (ebd.: 249) transformiert. Wenn also heute von einer Diskursivierung der Macht ausgegangen werden kann, sollten dementsprechend andere politische Strategien eingefordert werden. Kommunikation kann demnach nicht mehr an sich als demokratisierend beschrieben werden. Es geht vielmehr darum, benennen zu können, welche Aspekte von Kommunikation – ehemals in emanzipativem Sinne eingefordert, heute machtkonform integriert – öffentliche Räume anders strukturieren würden und welche inzwischen fester Bestandteil dieser Räume sind.

Die Zukunft eines Modells alter­na­tiver Öffent­lich­keit

Wo finden sich nun die in diesen drei idealtypischen Konzepten formulierten politischen Ziele wieder? Inwieweit deren Praxis Eingang in Inhalt und Konzept moderner Medien gefunden hat, soll an deren Grundlagen überprüft werden. Diese sind (vgl. Oy 2001: 191ff.): Politik in erster Person, Betroffenheit und Authentizität, Verbreitung zurückgehaltener Nachrichten, Verwirklichung des Rückkanal-Theorems, nichthierarchische Arbeitsteilung und schließlich parteipolitische und ökonomische Unabhängigkeit.

Der Einzug von Politik in erster Person, Betroffenheit und Authentizität in die Massenmedien ist sicherlich am deutlichsten zu beobachten. Losgelöst von politischen Inhalten, werden Betroffenheit und authentische Meinungsäußerung selbst zum Inhalt und verleihen den Medien ein kritisches Image. Hier zeigt sich die Vereinbarkeit von Betroffenheit und Personalisierung, eine der Grundlagen des Journalismus. Was auf den ersten Blick wie eine Öffnung einer ehemals monokulturellen Hegemonie hin zu nicht-hegemonialen Lebensläufen oder einfach nur abseitigen Themen wirkt, stellt lediglich eine neue Form der erweiterten Selbstdisziplinierung in der geforderten permanenten Rede über sich selbst dar. Inwieweit die Normierung massenmedialer Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten das in erster Linie alltagskulturelle Rezeptionsverhalten bestimmt, kann allerdings nicht allein über die Analyse der Medieninhalte, sondern nur über die Beschäftigung mit der kulturellen Hegemonie selbst geklärt werden.

Die Verbreitung zurückgehaltener Nachrichten: Rein quantitativ kann davon ausgegangen werden, dass mittels zunehmender Anzahl von Printmedien, Fernsehkanälen, Hörfunksendern und Onlineangeboten die Zahl der veröffentlichten und auch relativ breit zugänglichen Informationen zunimmt. Allerdings zeigt sich ebenso, dass auch die vermehrte Anzahl an Publikationsmöglichkeiten kein Verlassen des vorher festgesteckten hegemonialen Terrains ermöglicht. Insbesondere im globalen Kontext zeigt sich doch allzu oft eine erschreckende Fixierung auf eine bornierte nationale Perspektive. Zu beobachten ist zudem eine zunehmende Passivierung der Öffentlichkeit und eine Zusammenhangs- und Folgenlosigkeit kritischer Äußerungen.

Verwirklichung des Rückkanal-Theorems: Ging es bei Brecht noch darum, anhand der nicht genutzten technischen Möglichkeiten des Radios aufzuzeigen, inwiefern die Vermachtung eines neuen Massenmediums zur machtförmigen Verknappung der demokratisierenden Potenziale führt, so ist diese Argumentationsweise angesichts der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in gewisser Weise obsolet geworden. Zwar gibt es auch heute ebenso Vermachtungsprozesse neuer Medientechnologien, welche die Spielräume für emanzipative Möglichkeiten verkleinern – wie die Massenmedialisierung des Internets zeigt –, aber der „Rückkanal” als technische Möglichkeit ist längst eingeführt, eine tatsächliche Umwälzung der Verhältnisse in der Medienwelt lässt aber weiter auf sich warten.

Auch die Aspekte der angestrebten nichthierarchischen Arbeitsteilung und der damit zusammenhängenden ökonomischen und parteipolitischen Unabhängigkeit innerhalb der Projekte der alternativen Medien fungierten – neben ihrer utopischen Rolle, die sie sicherlich auch spielten – als Innovationspotenzial für die Umstrukturierung der Produktion – nicht nur im Bereich der Medien (vgl. Hirsch 2002; Negri/Hardt 2004). Selbstausbeutung und ein hoher ldentifikationsgrad mit Arbeit und Betrieb waren die betriebswirtschaftlichen Vorteile der Alternativen Medien. So konnten handwerkliche und materielle Schwächen durch große Innovativkraft ausgeglichen werden. Indem nun die Massenmedien diese ehemaligen alternativen Konzepte – und auch die dazugehörigen, entsprechend hoch motivierten Seiteneinsteiger – übernehmen, wird das gesamte Konzept überarbeitungsbedürftig.

Ist diese Auseinandersetzung mit Medientheorie und -praxis nun als ein Plädoyer für die Überflüssigkeit linker Gegenöffentlichkeit und Alternativer Medien zu verstehen? Mit Sicherheit nicht: Denn die Notwendigkeit der Auseinandersetzung um Realitätsdeutungen und deren informationelle Grundlagen – einer Arbeit am Diskurs – besteht in jeder gesellschaftlichen Situation, so auch heute. Es geht dabei um eine Rückbesinnung auf die Stärken der Alternativen Medien: Sie unterscheiden nicht zwischen den Aspekten der Information, Kontextualisierung und Vernetzung. Es gelingt ihnen somit, zumindest für einen begrenzten Zeitraum, Elemente eines kritischen Gegendiskurses zu etablieren. Das Modell Alternative Öffentlichkeit als gesellschaftskritisches Konzept kann seine Wirkung nur entfalten, indem es nicht als isolierte Medientheorie, sondern als umfassende Gesellschaftstheorie begriffen wird. Eine Theorie, die sich immer wieder praktisch umsetzen lässt, zeitlich und örtlich begrenzt, ohne Hoffnung auf großen politischen oder ökonomischen Mehrwert – aber dennoch Erfolg versprechend, so paradox das klingen mag.

Literatur

Agnoli, Johannes 1990: Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Gesammelte Schriften Bd. 1, Freiburg
Aguigah, Rene 2004: Gestalt im Experiment. Auf Schlingerkurs: Zur Lage der Kulturzeitschriften; in: Frankfurter Rundschau v. 28. August
autonome a.f.r.i.k.a. gruppe et al. 1997: Handbuch der Kommunikationsguerilla. Hamburg, Berlin Dorer, Johanna 1997: Das Inteniet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs. Ein me‑
dientheoretischer Ansatz nach Foucault; in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hg.): Kultur – Medien
– Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen, S. 247-258
Enzensberger, Hans Magnus 1970: Baukasten zu einer Theorie der Medien; in: Kursbuch , Jg. 6, H. 20, S. 159-186
Hanzzn, Marion/Z,czisez-, Michael 2000: com.une.farce und indymedia.uk – zwei Modi oppositioneller Netznutzung; in: Das Argument, Jg. 42, H. 238, S. 755-764
Hirsch, Joachim 2002: Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg
Holtz-Bacha, Christina 1999: Alternative Presse; in: Wilke, Jürgen (Hg.); Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, S. 330-349

Hüttnej; Bernd et al. (Hg.) 2005: Vorwärts und viel vergessen. Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen, Neu-Ulm (i.E.)
Lovink, Geert 1992: Hör zu – oder stirb! Fragmente einer Theorie der souveränen Medien, Berlin/Amsterdam
Meyn, Hermann 2004: Massenmedien in Deutschland (Neuauflage), Konstanz
N.N. 2004: Brauchen wir ein übergreifendes Zeitungsprojekt; in: www.debattez.de.vu
Negri, Antorzio/Hardt, Michael 2004: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/Main/New York
Negt, Oskar-/Kluge, Alexander 1972: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main
Oy, Gottfried 2001: Die Gemeinschaft der Lüge. Medien- und Öffentlichkeitskritik sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik, Münster
Ders. 2005: „Haut dem Springer auf die Finger” – Neue Soziale Bewegungen und ihre Medienpolitik; in: Hüttzaer, Bernd et al. (Hg.): Vorwärts und viel vergessen. Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen, Neu-Ulm (i.E.)
Schuster, Thomas 1995: Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit, Frankfurt/Main
SDS 1967: 22. ordentliche Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Resolutionen und Referate; in: neue kritik, Jg. 8, H. 44, S. 12-66
Stamm, Karl-Heinz 1988: Alternative Öffentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewegungen, Frankfurt/Main/New York

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