Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 169: Qualitätsjournalismus in der Krise

Editorial

aus: Vorgänge Nr. 169 ( Heft 1/2005), S. 1

Die Hiobsbotschaften aus der Medienlandschaft wollten in den letzten Jahren kein Ende nehmen: Redakteure wurden entlassen, Qualitätszeitungen reduzierten ihre Umfänge und gaben ganze Zeitungsteile völlig auf. Die SPD wurde Eigentümerin der Frankfurter Rundschau, nachdem diese linke Tageszeitung zuvor eine Bürgschaft von der Regierung Roland Kochs annehmen musste, um zu überleben. Medienkonzerne wollen Kartellregelungen aushebeln und ringen um eine Ministererlaubnis für geplante Fusionen, die mit der Zeitungskrise begründet werden. Textlieferanten ersetzen Redaktionen, der Anzeigenmarkt bricht als Folge der ökonomischen Krise zusammen. Anspruchsvolle intellektuelle Nischenprodukte mit Tradition werden abgestoßen: der Rowohlt Verlag trennte sich vom Kursbuch, der DGB stellte die Gewerkschaftlichen Monatshefte ein. Die Lage der „Vierten Gewalt” scheint gefährdet wie kaum je zuvor.

Jedoch relativiert sich das Bild bei genauerem Hinsehen: Die Krise der Tageszeitungen folgte auf einen beispiellosen Boom Ende der 1990er Jahre; Qualitätsmedien wie die Zeit oder der Spiegel stehen zudem weiterhin ökonomisch gut da. Zwar beklagen kulturkritisch gefärbte Diagnosen – die übrigens die Medien seit jeher begleiten – einen Verfall der öffentlichen Kommunikation und verweisen dabei mit Recht auf die ebenso unbestreitbare und wie unaufhaltsame Trivialisierung der Medienwelt ä la Dschungelcamp oder Schönheits-OP-Shows im Fernsehen. Doch zugleich waren die Möglichkeiten, sich fundiert und tiefschürfend zu informieren, noch nie so gut wie heute; die Zugangsmöglichkeiten zu hochwertigem Wissen haben sich enorm demokratisiert. Solche scheinbar gegenläufigen Tendenzen sind zum einen Indizien für reale gesellschaftliche Spaltungsprozesse zwischen bildungsorientierten Medieneliten und zappenden Dauerkonsumenten. Zum anderen spiegeln sie das eherne Gesetz der Moderne: Zunehmende Individualisierung emanzipiert und ermöglicht die freie Wahl; dauerhafte Bindung über den Moment hinaus nimmt dadurch jedoch ab. Die Ressource Aufmerksamkeit wird nicht mehr kontinuierlich und längerfristig verteilt, intellektuelle Konzentration erfolgt situativ. Ist damit der „kritische Aufklärungsjournalismus überholt”, müssen Journalisten endlich „Abschied nehmen von ihrem alten Aufklärungsideal”, wie der Medienwissenschaftler Norbert Bolz jüngst forderte?

Die vorgänge verteidigen unverdrossen das alte kritische Aufklärungsideal: Die Philosophin Simone Dietz überprüft das Potential, das die Fernsehkritik in Günter Anders‘ Antiquiertheit des Menschen (1956) für eine Analyse der heutigen Medienlandschaft besitzt. Thomas Jäger und Henrike Viehrig interpretieren in ihrem empirisch fundierten Beitrag die Berichterstattung über die Flutkatastrophe Ende 2004, die eine veränderte Politik bewirkt habe. Dem komplexen Wechselverhältnis zwischen massen-medialem System und Journalismus geht Garsten Brosda nach; er betont die autonome Eigenlogik des Journalismus, die auch künftig Chancen für kommunikative Qualität böte. Aus journalistischer Sicht fasst Rüdiger Soldt die Wandlungsprozesse in der Realität überregionaler Tageszeitungen zusammen. Thomas Leif verweist auf die Gefahren für die Rolle der Medien als „Vierte Gewalt”: wachsender PR-Einfluss, Dauerinszenierungen und Verlust kritischer Recherchekompetenz. Schließlich wirft Gottfried Oy einen differenzierten Blick auf Alternativmedien, deren Krise schon Ende der 1970er Jahre einsetzte und die dennoch ihre Rolle als Produzenten eines kritischen Gegendiskurses erfüllten. Ein aktueller Literaturbericht steht wie immer am Ende des Thementeils.

Der Essay von Reinhard Rürup beschäftigt sich sechzig Jahre nach Kriegsende mit einem besonderen Erinnerungsort: der Topographie des Terrors in Berlin. Als langjähriger Direktor schildert er anhand eigener Erfahrungen ihren bis heute schwierigen Werdegang vor dem Hintergrund deutscher Gedenkkultur. In den Kommentaren und Kolumnen plädiert Robin Celikates für die gesellschaftskritische Funktion von Sozial-und Kulturwissenschaften; Ulrich Finckh fordert eine Vereidigung der Soldatinnen und Soldaten auf die Verfassung; Mischa Bechberger und Danyel Reiche erklären die Instrumente zur Förderung erneuerbarer Energien. Am Ende erinnert die Schriftstellerin Inge Deutschkron in einem großen Porträt an Gustav Heinemann. Rezensionen beschließen wie gewohnt das Heft.

Intellektuell anregende und aufklärende Lektüre wünscht

Alexander Lammann

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